Drittes Kapitel
Boetticher

[540] Der Kaiser Wilhelm II. hat nicht das Bedürfniß, Mitarbeiter mit eignen Ansichten zu haben, welche ihm in dem betreffenden Fache mit der Autorität der Sachkunde und Erfahrung entgegentreten könnten. Das Wort »Erfahrung« in meinem Munde verstimmte ihn und rief gelegentlich die Aeußerung hervor: »Erfahrung? Ja, die allerdings habe ich nicht.« Um seinen Ministern sachkundige Anregungen zu geben, zog er deren Untergebene an sich und ließ sich von diesen oder von Privatleuten die Informationen beschaffen, auf Grund deren eine kaiserliche Initiative den Ressortministern gegenüber genommen werden konnte. Außer Hinzpeter und Andern war mir gegenüber dazu in erster Linie Herr von Boetticher brauchbar.

Ich hatte seinen Vater gekannt, 1851 mit ihm in Frankfurt am Bunde functionirt, und fand Gefallen an der äußerlich angenehmen Erscheinung des Sohnes, der begabter als der Vater ist, diesem aber an Festigkeit und Ehrlichkeit nachsteht. Ich habe die Carriere des Sohnes durch meinen Einfluß bei dem Kaiser Wilhelm I. ziemlich schnell gefördert; er wurde auf meinen Antrag Oberpräsident in Schleswig, Staatssecretair, Staatsminister, lediglich durch mich, aber Minister immer nur in dem Sinne eines Amanuensis für mich, eines aide oder adjoint, wie man in Petersburg sagt, der nach dem Willen des Kaisers nur meine Politik im Staatsministerium und im Bundesrathe zu vertreten hatte, namentlich wenn ich durch Abwesenheit verhindert war. Er hatte kein anderes Ressort als die Aufgabe, mich zu unterstützen. Es war dies eine Stellung, die zuerst der Minister Delbrück auf meinen Antrag erhielt und die ausschließlich zu meiner Vertretung und Erleichterung von Sr. M. geschaffen wurde. Delbrück war Präsident des Bundes-, späteren Reichs-Kanzleramts, also staatsrechtlich der höchste vortragende Ministerialbeamte des Reichskanzlers gewesen und dann zum Minister ernannt worden, um im Staatsministerium den Reichskanzler zu unterstützen und bei dessen Abwesenheit zu vertreten. Delbrück hatte in pflichttreuer Weise, auch wenn seine Ansicht in bestimmten Fragen von der meinigen abwich, doch die meinige vertreten und zog sich zurück, als diese Vertretung mit seiner Ueberzeugung in einen so scharfen Widerspruch trat, daß er nicht glaubte über denselben hinwegsehn zu dürfen. Auf seine eigne[541] Empfehlung folgte ihm der frühere hessische Minister von Hofmann, welcher für fügsam galt und keine politische Vergangenheit zu schonen hatte. Derselbe übernahm daneben die Leitung des in dem Umfange seiner Aufgaben erheblich eingeschränkten, unter dem Namen »Handelsministerium« abgezweigten Ressorts. Er nahm an, daß er außer der Pflege des deutschen Handels noch besondre Pflichten und Rechte für den preußischen Handel auf dem Gebiete der Gesetzgebung habe, und mißbrauchte die Unabhängigkeit, welche ihm diese von ihm selbst gewünschte Stellung gewährte, um ohne mein Wissen Gesetzentwürfe für Reichsangelegenheiten vorzubereiten, welche meine Zustimmung nicht fanden, namentlich solche, die meiner Ansicht nach die Grenze des Arbeiterschutzes überschritten und das Gebiet des Arbeiterzwanges in Gestalt der Beschränkung der persönlichen Unabhängigkeit und der Autorität des Arbeiters und des Familienvaters betrafen und von denen ich auf die Dauer keine günstige Wirkung erwarte. Da mehrfache Erinnerungen gegen diese mir Opposition machenden Vorlagen, die Arbeiten betriebsamer, dem Minister auf diesem Gebiete überlegner Räthe des Handelsministeriums, erfolglos blieben, so bewog ich den Feldmarschall von Manteuffel, Herrn von Hofmann als Minister in dem Reichslande zu übernehmen.

Ich bat alsdann den Kaiser, Herrn von Boetticher zum Nachfolger Hofmann's zu ernennen, und durfte mir von diesem im Verkehr mit den Parlamenten geschickten Beamten die Unterstützung versprechen, zu deren Leistung dieser Ministerposten ohne Ressort in der Form eines adlatus des Kanzlers und Ministerpräsidenten ausschließlich geschaffen war. Herr von Boetticher war im Reichsdienste mein Untergebner als Staatssecretair des Innern, im preußischen Dienste mein amtlicher Beistand, berufen, mich bei Vertretung meiner Ansichten zu unterstützen, nicht aber eigne unabhängig geltend zu machen. Er hat diese Aufgabe Jahre lang bereitwillig und mit Geschick erfüllt, eigne Ansichten mir gegenüber nur mit großer Zurückhaltung und, wie ich vermuthe, nur auf parlamentarische und anderweitige Instigation vertreten. Eine definitive Aussprache meiner Ansicht genügte stets zur schließlichen Erlangung seiner Zustimmung und Mitwirkung. Er besitzt hohe Begabung für einen Unterstaatssecretair, ist ein vorzüglicher parlamentarischer debater, geschickter Unterhändler und hat die Fähigkeit, geistige Werthe von höherem Betrage in Kleingeld unter die Leute zu bringen und durch die ihm geläufige Form gutmüthiger Biederkeit Einfluß dafür zu üben. Daß er niemals fest[542] genug in seinen Ansichten war, um sie dem Reichstage, geschweige denn dem Kaiser gegenüber mit Beharrlichkeit zu vertreten, war für den ihm angewiesenen Wirkungskreis nicht gerade ein wesentlicher Mangel; und wenn er für Rang- und Ordensfragen eine krankhafte Empfindlichkeit hatte, die bei getäuschter Erwartung in Thränen ausbrach, so war ich mit Erfolg bemüht, dieselbe zu schonen und zu befriedigen. Mein Vertrauen zu ihm war so groß, daß ich ihn nach dem Abgange des Herrn von Puttkamer zu dessen Nachfolger als Vicepräsidenten des Staatsministeriums empfahl. Auch in dieser Stellung blieb er mein, des Präsidenten, Vertreter. Ein Dualismus findet in dem Ministerpräsidium nicht Statt. Ich hatte mich gewöhnt, ihn als einen persönlichen Freund zu betrachten, der seinerseits durch unsere Beziehungen vollständig befriedigt wäre. Auf eine Enttäuschung war ich um so weniger gefaßt, als im Stande gewesen war, ihm in seinen durch die Schulden und die Vergehn seines Schwiegervaters, eines Bankdirectors in Stralsund, bedenklich gefährdeten Familieninteressen wesentliche Dienste zu leisten.

Den Zeitpunkt, zu welchem er den Versuchungen des Kaisers, mit diesem ohne mein Wissen nähere Fühlung als mit mir zu nehmen, zuerst erlegen ist, kann ich nicht genau bestimmen. Die Möglichkeit, daß er mir gegenüber unaufrichtig verfahren könne, lag meinen Gedanken so fern, daß ich sie erst geprüft habe, als er im Jahre 1890 im Kronrathe, im Ministerium und im Dienste mir offen opponirte, Partei nehmend für kaiserliche Anregungen, über welche ihm meine principiell entgegengesetzte Ansicht bekannt war. Mittheilungen, die mir später zugegangen sind, und der Rückblick auf Vorgänge, denen ich gleichzeitig wenig Beachtung geschenkt hatte, haben mich nachträglich überzeugt, daß Herr von Boetticher schon seit längerer Zeit den persönlichen Verkehr mit dem Kaiser, in welchen ihn meine Vertretung brachte, sowie seine Beziehungen zu dem badischen Gesandten Herrn von Marschall und durch dessen Schwiegervater Gemmingen zu dem Großherzoge von Baden dazu benutzt hatte, um sich auf meine Kosten nähere Beziehungen zu Sr. M. zu schaffen und sich in diejenigen Lücken einzunisten, welche zwischen den Auffassungen des jugendlichen Kaisers und der greisenhaften Vorsicht seines Kanzlers bestanden. Die Versuchung, in welcher sich Herr von Boetticher befand, den Reiz der Neuheit, welchen die monarchischen Aufgaben für den Kaiser hatten, und meine vertrauensvolle Müdigkeit in Geschäften zum Nachtheile meiner Stellung auszubeuten, wurde, wie ich[543] höre, durch weibliches Rangstreben und in Baden durch gelangweiltes Einflußbedürfniß gesteigert. Offiziöse Artikel, welche ich den wohlunterrichteten Federn meiner früheren Mitarbeiter zuschreibe, hoben als einen Anspruch Boetticher's auf meine Dankbarkeit hervor, daß derselbe im Januar und Februar 1890 bemüht gewesen sei, zwischen dem Kaiser und mir zu vermitteln und mich für die kaiserlichen Ansichten zu gewinnen. In dieser, wie ich glaube, inspirirten Darstellung liegt das volle Eingeständnis der Fälschung der Situation. Die Amtspflicht des Herrn von Boetticher war nicht, an der Unterwerfung eines erfahrenen Kanzlers unter den Willen eines jugendlichen Kaisers zu arbeiten, sondern den Kanzler in seiner verantwortlichen Aufgabe bei dem Kaiser zu unterstützen. Hätte er sich an diese seine amtliche Aufgabe gehalten, so würde er auch innerhalb der Grenzen seiner natürlichen Befähigung geblieben sein, auf Grund deren er in seine Stellung berufen war. Seine Beziehungen zum Kaiser waren in meiner Abwesenheit intimer geworden als die meinigen, so daß er sich stark genug fühlte, meine, seines Vorgesetzten, amtliche und schriftliche Weisungen im Bewußtsein seines höheren Rückhalts unausgeführt zu lassen.

Daß er es nicht bloß auf die Gunst des Kaisers, sondern auch auf meine Beseitigung und seine Nachfolge in dem Ministerpräsidium abgesehen hatte, schließe ich aus einer Reihe von Umständen, deren einige erst später zu meiner Kenntniß gekommen sind. Im Januar 1890 hat er dem Kaiser, und im Hause des Freiherrn von Bodenhausen gesagt, ich sei so wie so fest entschlossen abzugehen, und um dieselbe Zeit sagte er mir, der Kaiser unterhandle schon mit meinem Nachfolger.

In den ersten Tagen des genannten Monats hatte er mich zum letzten Mal behufs Besprechung geschäftlicher Fragen in Friedrichsruh besucht. Wie ich später erfahren, hat er schon vorher dem Kaiser die Insinuation gemacht, ich sei durch übermäßigen Morphiumgebrauch geschäftsunfähig geworden. Ob diese Andeutung dem Kaiser direct durch Boetticher oder durch Vermittlung des Großherzogs von Baden gemacht worden ist, habe ich nicht feststellen können; jedenfalls hat S.M. meinen Sohn Herbert über diese Thatsache befragt und ist von diesem an den Professor Schweninger verwiesen worden, von welchem der Kaiser erfuhr, daß die Andeutung aus der Luft gegriffen sei. Leider hat die Lebhaftigkeit des Professors verhindert, die Unterhaltung bis zur vollständigen Aufklärung des Ursprungs der Verleumdung durchzuführen. Den Anlaß[544] zu dieser kaiserlichen Ermittlung kann nur Herr von Boetticher aus Friedrichsruh gebracht haben, da andre persönliche Verbindungen zu jener Zeit nicht stattgefunden haben.

Schon bei jenem Besuche im Januar hatte er bei mir die Concessionen befürwortet, welche nachher das Thema zu den Variationen in den Kaiserlichen Erlassen vom 4. Februar bildeten. Ich hatte denselben widersprochen, einmal weil ich nicht für nützlich hielt, daß dem Arbeiter gesetzlich verboten werde, zu bestimmten Zeiten und Gelegenheiten über seine und seiner Familienglieder Arbeitskräfte zu verfügen, dann aber auch, weil ich neue, die Zukunft der Arbeiter und der Arbeitgeber treffende Belastungen der Industrie scheute, solange ihre praktischen Consequenzen nicht mehr als bisher klargestellt wären. Außerdem schien mir nach den Vorgängen der Bergwerkstreiks von 1889, daß zunächst nicht der Weg der Concessionen, sondern der der Vertheidigung gegen social-demokratische Ueberwuchungen zu betreten sei. Ich hatte vor und nach Weihnachten die Absicht, mich an den Verhandlungen über das Socialistengesetz zu betheiligen und den Satz zu vertreten, daß die Socialdemokratie in höherem Grade wie gegenwärtig das Ausland eine Kriegsgefahr für Monarchie und Staat involvire und als innere Kriegs- und Macht-, nicht als Rechtsfrage von staatlicher Seite angesehn werden müsse. Diese meine Auffassung war Herrn von Boetticher bekannt und durch ihn ohne Zweifel auch dem Kaiser, und ich suche in dieser Kenntniß der Situation den Grund, aus welchem S.M. meine Anwesenheit in Berlin nicht wünschte und mir den Ausdruck dieses Wunsches direct und indirect wiederholt zugehen ließ in Fassungen, die für mich den Charakter einer Allerhöchsten Weisung hatten. Eine schärfere Position, von mir als Kanzler öffentlich genommen, hätte dem Kaiser die entgegenkommende Haltung den Socialdemokraten gegenüber erschwert, für die er damals schon durch den Großherzog von Baden, Boetticher, Hinzpeter, Berlepsch, Heyden, Douglas gewonnen war und die in dem Kronrath vom 24. Januar ihren durch Herrn von Boetticher verlesenen, mich und andere Minister überraschenden Ausdruck fand. Wenn sich der Plan verwirklicht hätte, für den der Kaiser im Februar gestimmt war, den S.M. aber, wie ich glaube unter badischem Einfluß, nach einigen Tagen wieder aufgab, der Plan, daß ich unter Rücktritt aus allen preußischen Aemtern Reichskanzler bliebe, so konnte Herr von Boetticher sich Hoffnung machen, preußischer Ministerpräsident zu werden, da er die Geschäfte als Vicepräsident in der Hand hatte. Damit wären er und seine Gemahlin[545] in die erste Rangstufe, die sogenannte Feldmarschallsklasse aufgerückt. Ich würde ihn freilich nicht zu dieser Stellung empfohlen haben. Ich fürchtete, daß aus den Vorgängen von 1889 und der ermuthigenden Stimmung des Kaisers Unruhen folgen würden, und mit Rücksicht auf die liberalen Sympathien der Minister des Innern und des Krieges (Polizei und Militär) und die Apathie des Justizministers (Staatsanwälte) empfahl ich das Präsidium wenigstens in militärische Hände zu legen.

Die Thatsache, daß Boetticher bei meinem Wiedereintritt in die ministeriellen Discussionen in allen Fragen, in welchen ihm die Abweichung meiner Ansichten von den ihm früher als mir mitgetheilten kaiserlichen bekannt war, als Advokat des kaiserlichen Willens mich in Gegenwart Sr. M. und in dem Staatsministerium bekämpfte, war für meine politische, ich möchte sagen geschichtliche Auffassung ein erfreuliches Symptom der Stärke, zu welcher die königliche Macht seit 1862 wieder gediehen war. Der Minister, welcher auf meine Bitte mir zum Beistande ernannt war, übernahm die Führung der Opposition im Ministerium gegen mich, sobald er glauben konnte, sich in der kaiserlichen Gunst dadurch zu befestigen, und führte meinen sachlichen Bedenken gegenüber ausschließlich die Replik ins Feld, wir hätten die kaiserlichen Wünsche zu erfüllen, wir müßten etwas zu Stande bringen, um S.M. zu befriedigen.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 540-546.
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