II

[484] Für die Thronfolge war unter Friedrich Wilhelm III. nur der Kronprinz mit Bewußtsein vorgebildet worden, der zweite Sohn dagegen ausschließlich militärisch. Es war natürlich, daß durch sein ganzes Leben militärische Einflüsse an und für sich stärker auf ihn wirkten als civilistische, und ich selbst habe in dem äußern Eindruck der Militäruniform, die ich trug, um ein mehrmaliges Umkleiden[484] am Tage zu vermeiden, ein Moment der Verstärkung meines Einflusses zu finden geglaubt. Unter den Personen, die, so lange er noch Prinz Wilhelm war, Einfluß auf seine Entwicklung haben konnten, standen in erster Linie Militärs ohne politischen Beruf, nachdem der General von Gerlach, der Jahre hindurch sein Adjutant gewesen war, dem politischen Leben vorübergehend fremd geworden war. Er war der begabteste unter den Adjutanten, die der Prinz gehabt hatte, und nicht theoretischer Fanatiker in Politik und Religion wie sein Bruder, der Präsident, aber doch genug doctrinär, um bei dem praktischen Verstande des Prinzen nicht den Anklang zu finden, wie bei dem geistreichen Könige Friedrich Wilhelm. Pietismus war ein Wort und ein Begriff, welche mit dem Namen Gerlach leicht in Verbindung traten wegen der Rolle, welche die beiden Brüder des Generals, der Präsident und der Prediger, Verfasser eines ausgedehnten Bibelwerks, in der politischen Welt hatten.

Ein Gespräch, welches ich 1853 in Ostende, wo ich dem Prinzen näher getreten war, mit ihm hatte und das sich an den Namen Gerlach knüpfte, ist mir in Erinnerung geblieben, weil es mich betroffen machte über des Prinzen Unbekanntschaft mit unsren staatlichen Einrichtungen und der politischen Situation.

Eines Tages sprach er mit einer gewissen Animosität über den General von Gerlach, der aus Mangel an Uebereinstimmung und, wie es schien, verstimmt aus der Adjutanten-Stellung geschieden war. Der Prinz bezeichnete ihn als einen Pietisten.

Ich: »Was denken Ew. K.H. Sich unter einem Pietisten?«

Er: »Einen Menschen, der in der Religion heuchelt, um Carrière zu machen.«

Ich: »Das liegt Gerlach fern, was kann der werden? Im heutigen Sprachgebrauch versteht man unter einem Pietisten etwas andres, nämlich einen Menschen, der orthodox an die christliche Offenbarung glaubt und aus seinem Glauben kein Geheimniß macht; und deren giebt es viele, die mit dem Staate gar nichts zu thun haben und an Carrière nicht denken.«

Er: »Was verstehen Sie unter orthodox?«

Ich: »Beispielsweise Jemanden, der ernstlich daran glaubt, daß Jesus Gottes Sohn und für uns gestorben ist als ein Opfer, zur Vergebung unsrer Sünden. Ich kann es im Augenblick nicht präciser fassen, aber es ist das Wesentliche der Glaubensverschiedenheit.«

Er, hoch erröthend: »Wer ist denn so von Gott verlassen, daß er das nicht glaubte!«

[485] Ich: »Wenn diese Aeußerung öffentlich bekannt würde, so würden Ew. K.H. selbst zu den Pietisten gezählt werden.«

Im weiteren Verlauf der Unterhaltung kamen wir auf die damals schwebende Frage der Kreis- und Gemeinde-Ordnung. Bei der Gelegenheit sagte der Prinz ungefähr:

Er sei kein Feind des Adels, könne aber nicht zugeben, daß »der Bauer von dem Edelmann mißhandelt werde.«

Ich erwiderte: »Wie sollte der Edelmann das anfangen? Wenn ich die Schönhauser Bauern mißhandeln wollte, so fehlte mir jedes Mittel dazu, und der Versuch würde mit meiner Mißhandlung entweder durch die Bauern oder durch das Gesetz endigen.«

Darauf Er: »Das mag bei Ihnen in Schönhausen so sein; aber das ist eine Ausnahme, und ich kann nicht zugeben, daß der kleine Mann auf dem Lande geschunden wird.«

Ich bat um die Erlaubniß, ihm eine kurze Darstellung der Genesis unsrer ländlichen Zustände, des Verhältnisses zwischen Gutsherrn und Bauern vorzulegen. Er nahm das Erbieten freudig dankend an; und ich habe nachher in Norderney meine freien Stunden dazu verwendet, dem damals 56 Jahre alten Thronerben an der Hand von Gesetzesstellen die rechtliche Situation auseinander zu setzen, in welcher sich Rittergüter und Bauern 1853 befanden. Ich schickte ihm die Arbeit nicht ohne die Befürchtung, der Prinz würde kurz und ironisch antworten, er habe durch mich nichts erfahren, was er nicht schon seit 30 Jahren wisse. Umgekehrt aber dankte er mir lebhaft für die interessante Zusammenstellung der ihm neuen Daten.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 484-486.
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