III

[412] Der Graf Friedrich Eulenburg erklärte sich körperlich bankrott, und in der That war seine Leistungsfähigkeit sehr verringert, nicht durch Uebermaß von Arbeit, sondern durch die Schonungslosigkeit, mit welcher er sich von Jugend auf jeder Art von Genuß hingegeben hatte. Er besaß Geist und Muth, aber nicht immer Lust zu ausdauernder Arbeit. Sein Nervensystem war geschädigt und schwankte schließlich zwischen weinerlicher Mattigkeit und künstlicher[412] Aufregung. Dabei hatte ihn in der Mitte der 70er Jahre, wie ich vermuthe, ein gewisses Popularitätsbedürfniß überfallen, welches ihm früher fremd geblieben war, so lange er gesund genug war, um sich zu amüsiren. Diese Anwandlung war nicht frei von einem Anflug von Eifersucht auf mich, wenn wir auch alte Freunde waren. Er suchte sie dadurch zu befriedigen, daß er sich der Verwaltungsreform annahm. Sie mußte gelingen, wenn sie ihm Ruhm erwerben sollte. Um den Erfolg zu sichern, machte er bei den parlamentarischen Verhandlungen darüber unpraktische Concessionen und bureaukratisirte den wesentlichen Träger unsrer ländlichen Zustände, den Landrathsposten, gleichzeitig mit der neuen Local-Verwaltung. Der Landrathsposten war in früheren Zeiten eine preußische Eigenthümlichkeit, der letzte Ausläufer der Verwaltungshierarchie, durch welchen dieselbe mit dem Volke unmittelbar in Berührung, der aber in dem socialen Ansehen höher als andre Beamte gleichen Ranges stand. Man wurde früher nicht Landrath mit der Absicht, dadurch Carrière zu machen, sondern mit der Aussicht, sein Leben als Landrath des Kreises zu beschließen. Die Autorität eines solchen wuchs mit den Jahren seiner Amtsdauer; er hatte keine andern Interessen als die des Kreises zu vertreten und für keine andern Wünsche als die seiner Eingesessenen zu streben. Es liegt auf der Hand, wie nützlich eine solche Institution nach oben und nach unten wirkte und mit wie geringen Mitteln an Menschen und Geld die Kreisgeschäfte betrieben werden konnten. Seitdem ist der Landrath ein reiner Regierungsbeamter geworden, seine Stellung ein Durchgangsposten für weitere Beförderung im Staatsdienste, eine Erleichterung der Wahl zum Abgeordneten; und in der Eigenschaft des letzteren wird er, wenn er strebsam ist, seine Beziehungen nach oben als Beamter wichtiger finden als die zu den Einsassen seines Kreises. Zugleich sind die neugeschaffenen örtlichen Amtsvorstände nicht Organe der Selbstverwaltung nach Analogie der städtischen Behörden, sondern eine unterste schreiberartig wirkende Klasse der Bureaukratie geworden, durch welche jede unpractische oder müßige Anregung der unzulänglich beschäftigten und den Realitäten des Lebens fremden Central-Bureaukratie über das platte Land verbreitet wird und [die] die unglücklichen »Selbst-Verwalter« nöthigt, Berichte und Listen zusammenzustellen, um die Wißbegierde von Beamten zu befriedigen, die mehr Zeit als Staatsgeschäfte haben. Es ist für Landwirthe oder Industrielle nicht möglich, solchen Anforderungen im »Nebenamte« zu genügen. An ihre Stelle treten nothwendig[413] mehr und mehr remunerirte Schreiber, deren Kosten [durch] die Eingesessenen aufzubringen sind und die von der höheren Bureaukratie abhängig sind ad nutum.

Als Nachfolger des Grafen Eulenburg hatte ich Rudolf von Bennigsen in's Auge gefaßt und habe im Laufe des Jahres 1877 in Varzin zweimal, im Juli und im December, Besprechungen mit ihm gehabt. Es fand sich dabei, daß er dem Boden unsrer Verhandlung eine weitere Ausdehnung zu geben suchte, als mit den Ansichten Sr. Majestät und mit meinen eignen Auffassungen vereinbar war. Ich wußte, daß es schon eine schwierige Aufgabe sein würde, ihn für seine Person dem Könige annehmbar zu machen; er aber faßte die Sache so auf, als ob es sich um einen durch die politische Situation gegebenen Systemwechsel handelte, um die Uebernahme der Leitung durch die nationalliberale Partei. Das Streben nach dem Mitbesitz des Regiments hatte sich schon er kennbar gemacht in dem Eifer, mit welchem die Partei das Stellvertretungsgesetz betrieben hatte in der Meinung, auf diesem Wege ein collegialisches Reichsministerium anzubahnen, in dem anstatt des allein verantwortlichen Reichskanzlers selbständige Ressorts mit collegialischer Abstimmung wie in Preußen die Entscheidung hätten. Durch diese selben Bestrebungen waren meine Collegen Camphausen und Friedenthal gleichzeitig mit Eulenburgs Rücktritt zu der Erklärung bestimmt worden, daß auch sie an ihren Abschied dächten, weil die Regierung sich nicht in hinreichend enger Fühlung mit der nationalliberalen Partei hielte. Bennigsen wollte daher nicht einfach Eulenburgs Nachfolger werden, sondern verlangte, daß mit ihm wenigstens Forckenbeck und Stauffenberg einträten. Der Erstere sei der geeignete Mann für das Innere und werde dort dieselbe Geschicklichkeit und Thatkraft wie in der Verwaltung der Stadt Berlin bewähren. Er selbst würde das Finanzministerium wählen; Stauffenberg müsse an die Spitze des Reichsschatzamts treten, um mit ihm zusammen zu wirken.

Ich sagte ihm, es sei nichts vacant als die Stelle Eulenburgs; ich sei bereit, ihn für dieselbe dem Könige vorzuschlagen, und würde mich freuen, wenn ich den Vorschlag durchsetzte. Wenn ich aber Sr. Majestät rathen wollte, noch zwei Ministerposten proprio motu frei zu machen, um dieselben mit Nationalliberalen zu besetzen, so werde der hohe Herr das Gefühl haben, daß es sich nicht um eine zweckmäßige Stellenbesetzung, sondern um einen Systemwechsel handle, und einen solchen werde er principiell ablehnen. Bennigsen dürfe überhaupt nicht darauf rechnen, daß es[414] dem Könige und unsrer ganzen politischen Lage gegenüber möglich sein werde, seine Fraktion gewissermaßen mit in das Ministerium zu nehmen und als Führer derselben den ihrer Bedeutung entsprechenden Einfluß im Schoße der Regierung auszuüben, gewissermaßen ein constitutionelles Majoritätsministerium zu schaffen. Bei uns sei der König thatsächlich und ohne Widerspruch mit dem Verfassungstexte Ministerpräsident, und Bennigsen würde, wenn er als Minister etwa die bezeichnete Richtung einhalten wollte, bald zwischen dem Könige und seiner Fraktion zu wählen haben. Er möge sich klar machen, daß, wenn es mir gelänge, seine Ernennung durchzusetzen, damit ihm und seiner Partei eine mächtige Handhabe zur Verstärkung und Erweiterung ihres Einflusses geboten sei; er möge sich das Beispiel Roons vergegenwärtigen, der als der einzige Conservative in das liberale Auerswaldsche Ministerium trat und der Krystallisationspunkt wurde, um den dasselbe sich in ein conservatives verwandelte. Er möge nichts Unmögliches von mir verlangen, ich kennte den König und die Grenzen meines Einflusses genau genug; mir wären die Parteien ziemlich gleichgültig, sogar ganz gleichgültig, wenn ich von den eingestandenen und nicht eingestandenen Republikanern absähe, die nach rechts mit der Fortschrittspartei abschlössen. Mein Ziel sei die Befestigung unsrer nationalen Sicherheit; zu ihrer innern Ausgestaltung werde die Nation Zeit haben, wenn erst ihre Einheit und damit ihre Sicherheit nach Außen consolidirt sein werde. Für die Erreichung des letzteren Zweckes sei gegenwärtig auf dem parlamentarischen Gebiete die nationalliberale Partei das stärkste Element. Die conservative Partei, der ich im Parlament angehört, habe die geographische Ausdehnung, deren sie in der heutigen Bevölkerung fähig sei, erreicht und trage nicht das Wachsthum in sich, um zu einer nationalen Majorität zu werden; ihr naturgeschichtliches Vorkommen, ihr Standort sei beschränkt in unsern neuen Provinzen; im Westen und Süden von Deutschland habe sie nicht dieselben Unterlagen wie in Alt-Preußen; in Bennigsens Heimath, Hannover, namentlich habe man nur zwischen Welfen und Nationalliberalen zu wählen, und die letzteren böten einstweilen die beste Unterlage von allen Denen, auf welchen das Reich Wurzel schlagen könne. Diese politische Erwägung veranlasse mich, ihnen, als der gegenwärtig stärksten Partei, entgegen zu kommen, indem ich ihren Führer zum Collegen zu werben suchte, ob für die Finanzen oder das Innere, sei mir gleich gültig. Ich sähe die Sache von dem rein politischen Standpunkte an, bedingt durch[415] die Auffassung, daß es für jetzt und bis nach den nächsten großen Kriegen nur darauf ankomme, Deutschland fest zusammenwachsen zu lassen, es durch seine Wehrhaftigkeit gegen äußere Gefahren und durch seine Verfassung gegen innere dynastische Brüche sicher zu stellen. Ob wir uns nachher im Innern etwas conservativer oder etwas liberaler einrichteten, das werde eine Zweckmäßigkeitsfrage sein, die man erst ruhig erwägen könne, wenn das Haus wetterfest sei. Ich hätte den aufrichtigen Wunsch, ihn zu überreden, daß er wie ich mich ausdrückte, zu mir in das Schiff springe und mir bei dem Steuern helfe; ich läge am Landungsplatze und wartete auf sein Einsteigen.

Bennigsen blieb aber dabei, nicht ohne Forckenbeck und Stauffenberg eintreten zu wollen, und ließ mich unter dem Eindrucke, daß mein Versuch mißlungen sei, einem Eindrucke, der schnell verstärkt wurde durch das Einlaufen eines ungewöhnlich ungnädigen Schreibens des Kaisers, aus dem ich ersah, daß Graf Eulenburg zu ihm mit der Frage in das Zimmer getreten sei: »Haben Euer Majestät schon von dem neuen Ministerium gehört? Bennigsen.« Dieser Mittheilung folgte der lebhafte schriftliche Ausbruch kaiserlicher Entrüstung über meine Eigenmächtigkeit und über die Zumuthung, daß Er aufhören sollte, »conservativ« zu regieren. Ich war unwohl und abgespannt, und der Text des kaiserlichen Schreibens und der Eulenburgsche Angriff fielen mir dermaßen auf die Nerven, daß ich von Neuem ziemlich schwer erkrankte, nachdem ich dem Kaiser durch Roon geantwortet hatte, ich könne ihm einen Nachfolger Eulenburgs doch nicht vorschlagen, ohne mich vorher vergewissert zu haben, daß der Betreffende die Ernennung annehmen werde; ich hätte Bennigsen für geeignet gehalten und seine Stimmungen sondirt, bei ihm aber nicht die Auffassung gefunden, welche ich erwartet hätte, und die Ueberzeugung gewonnen, daß ich ihn nicht zum Minister vorschlagen könne; die ungnädige Verurtheilung, die ich durch das Schreiben erfahren hätte, nöthige mich, mein Abschiedsgesuch vom Frühjahr zu erneuern. Diese Correspondenz fand in den letzten Tagen des Jahres 1877 statt, und meine neue Erkrankung fiel gerade in die Neujahrsnacht.

Der König antwortete mir auf das Schreiben Roons, er sei über das Sachverhältniß getäuscht worden und wünsche, daß ich seinen vorhergehenden Brief als nicht geschrieben betrachte. Jede weitere Verhandlung mit Bennigsen verbot sich durch diesen Vorgang von selbst, ich hielt es aber in unsrem politischen Interesse nicht für zweckmäßig, Letzteren von der Beurtheilung in Kenntniß zu[416] setzen, welche seine Person und Candidatur bei dem Kaiser gefunden hatte. Ich ließ die für mich definitiv abgeschlossene Unterhandlung äußerlich in suspenso; als ich dann wieder in Berlin war, ergriff Bennigsen die Initiative, um die seiner Meinung nach noch schwebende Angelegenheit in freundschaftlicher Form zum negativen Abschluß zu bringen. Er fragte mich im Reichstagsgebäude, ob es wahr sei, daß ich das Tabakmonopol einzuführen strebe, und erklärte auf meine bejahende Antwort, daß er dann die Mitwirkung als Minister ablehnen müsse. Ich verschwieg ihm auch dann noch, daß mir jede Möglichkeit, mit ihm zu verhandeln, durch den Kaiser schon seit Neujahr abgeschnitten war. Vielleicht hatte er sich auf andrem Wege überzeugt, daß sein Plan einer grundsätzlichen Modification der Regierungspolitik im Sinne der nationalliberalen Anschauungen bei dem Kaiser auf unüberwindliche Hindernisse stoßen würde, namentlich seit einer von Stauffenberg gehaltenen Rede über die Nothwendigkeit der Abschaffung des Art. 109 der preußischen Verfassung (Forterhebung der Steuern).

Wenn die nationalliberalen Führer ihre Politik geschickt betrieben hätten, so hätten sie längst wissen müssen, daß bei dem Könige, dessen Unterschrift sie zu ihrer Ernennung bedurften und begehrten, es keinen empfindlicheren politischen Punkt gab als diesen Artikel und daß sie sich den hohen Herrn nicht sicherer entfremden konnten als durch den Versuch, ihm dieses Palladium zu entreißen. Als ich Sr. Majestät vertraulich den Verlauf meiner Verhandlungen mit Bennigsen erzählte und dessen Wunsch in Betreff Stauffenbergs erwähnte, war der König noch unter dem Eindrucke der Rede des Letzteren und sagte, indem er mit dem Finger auf seine Schulter deutete, wo auf der Uniform die Regimentsnummer sitzt: »Nro. 109 Regiment Stauffenberg«. Wenn der König damals den von mir zur Herstellung der Uebereinstimmung mit der Reichstagsmajorität gewünschten Eintritt Bennigsens genehmigt und selbst wenn der Letztere bald die Unmöglichkeit eingesehen hätte, das Cabinet und den König in seine Fraktionsrichtung zu bringen, so würden sich doch, wie ich heut überzeugt bin, die einigermaßen doctrinäre Schärfe des Fraktionsprogramms und die Empfindlichkeit der monarchischen Auffassung des Königs nicht lange mit einander vertragen haben. Damals war ich dessen nicht so sicher gewesen, um nicht den Versuch zu machen, ob ich Se. Majestät bewegen könnte, sich der nationalliberalen Auffassung zu nähern. Die Schärfe des Widerstandes, die allerdings durch Eulenburgs feindliche Einwirkung gesteigert worden war, übertraf meine Erwartung,[417] obschon mir bekannt war, daß der König gegen Bennigsen und seine frühere Thätigkeit in Hannover eine instinctive monarchische Abneigung hegte. Obwohl die nationalliberale Partei in Hannover und die Wirksamkeit ihres Führers vor und nach 1866 die »Verstaatlichung« Hannovers wesentlich erleichtert hatte und der König ebenso wie sein Vater 1805 eine Neigung hatte, diesen Erwerb rückgängig zu machen, so war der fürstliche Instinct in ihm doch herrschend genug, um solches Verhalten eines hannöver'schen Unterthanen gegen die welfische Dynastie mit innerlichem Unbehagen zu beurtheilen.

Es ist eine der vielen unwahren Legenden, daß ich die Nationalliberalen hätte »an die Wand drücken« wollen. Im Gegentheil, die Herren versuchten es so mit mir zu machen. Durch den Bruch mit den Conservativen infolge der ganzen Verleumdungsära durch die »Reichsglocke« und die »Kreuzzeitung« und der Kriegserklärung, die unter Führung meines mißvergnügten früheren Freundes Kleist-Retzow erfolgte, durch das neidische Uebelwollen meiner Standesgenossen, der Landjunker, durch alle diese Verluste von Anlehnungen, durch die Feindschaft am Hofe, die katholischen und weiblichen Einflüsse daselbst waren meine Stützpunkte außerhalb der nationalliberalen Fraktion schwächer geworden und bestanden allein in dem persönlichen Verhältniß des Kaisers zu mir. Die Nationalliberalen nahmen davon nicht etwa einen Anlaß, unsre gegenseitigen Beziehungen dadurch zu stärken, daß sie mich unterstützten, sondern machten im Gegentheil den Versuch, mich gegen meinen Willen in das Schlepptau zu nehmen. Zu diesem Zwecke wurden Beziehungen zu mehreren meiner Collegen angeknüpft; durch die Minister Friedenthal und Botho Eulenburg, welcher Letztere das Ohr meines Vertreters im Präsidium, des Grafen Stolberg, hatte, wurden ohne mein Wissen amtliche Verständigungen mit den Präsidien beider Parlamente bezüglich nicht nur der Sitzungs- und Vertagungsfragen, sondern auch in Betreff materieller Vorlagen gegen meinen, den Collegen bekannten Willen eingeleitet. Der Gesammtandrang auf meine Stellung, das Streben nach Mitregentschaft oder Alleinherrschaft an meiner Stelle, das sich in dem Plane selbstständiger Reichsminister, in den combinirten Rücktrittserklärungen von Eulenburg, Camphausen, Friedenthal und in den erwähnten Heimlichkeiten verrathen hatte, trat handgreiflich zu Tage in der Conseilsitzung, welche der Kronprinz als Vertreter seines verwundeten Vaters am 5. Juni 1878 abhielt, um über die Auflösung des Reichstags nach dem Nobiling'schen[418] Attentate zu beschließen. Die Hälfte meiner Collegen oder mehr, jedenfalls die Majorität des Ministeriums und des Conseils, stimmte abweichend von meinem Votum gegen die Auflösung und machte dafür geltend, daß der vorhandene Reichstag, nachdem das Nobiling'sche Attentat auf das Hödel'sche gefolgt sei, bereit sein werde, seine jüngste Abstimmung zu ändern und der Regierung entgegen zu kommen. Die Zuversicht, welche meine Collegen bei dieser Gelegenheit kundgaben, beruhte offenbar auf vertraulicher Verständigung zwischen ihnen und einflußreichen Parlamentariern, während mir gegenüber kein Einziger von den letzteren auch nur eine Aussprache versucht hatte. Es schien, daß man sich über die Theilung meiner Erbschaft bereits verständigt hatte.

Ich war sicher, daß der Kronprinz, auch wenn alle meine Collegen andrer Ansicht gewesen wären, die meinige annehmen werde, abgesehen von der Zustimmung, die ich unter den 20 oder mehr zugezogenen Generalen und Beamten, wenigstens bei den ersteren fand. Wenn ich überhaupt Minister bleiben wollte, was ja eine Opportunitätsfrage geschäftlicher sowohl wie persönlicher Natur war, die ich bei eigner Prüfung mir bejahte, so befand ich mich im Stande der Nothwehr und mußte suchen, eine Aenderung der Situation im Parlament und in dem Personalbestande meiner Collegen herbeizuführen. Minister bleiben wollte ich, weil ich, wenn der schwer verwundete Kaiser am Leben bliebe, was bei dem starken Blutverlust in seinem hohen Alter noch unsicher, fest entschlossen war, ihn nicht gegen seinen Willen zu verlassen, und es als Gewissenspflicht ansah, wenn er stürbe, seinem Nachfolger die Dienste, welche ich ihm vermöge des Vertrauens und der Erfahrung, die ich mir erworben hatte, leisten konnte, nicht gegen seinen Willen zu versagen. Nicht ich habe Händel mit den Nationalliberalen gesucht, sondern sie haben im Complot mit meinen Collegen mich an die Wand zu drängen versucht. Die geschmacklose und widerliche Redensart von dem an die Wand drücken, bis sie quietschten, hat niemals in meinem Denken, geschweige denn auf meiner Lippe Platz gefunden – eine der lügenhaften Erfindungen, mit denen man politischen Gegnern Schaden zu thun sucht. Obenein war diese Redensart nicht einmal eignes Product derer, welche sie verbreiteten, sondern ein ungeschicktes Plagiat: Der Graf Beust erzählt in seinen Memoiren (»Aus drei Viertel-Jahrhunderten« Thl. I S. 5):

»Die Slaven in Oesterreich haben mir das beiläufig nie von mir gesprochene Wort aufgebracht, ›man müsse sie an die Wand[419] drücken‹. Der Ursprung dieses Wortes war folgender: Der frühere Minister, spätere Statthalter von Galizien, Graf Goluchowski, pflegte sich mit mir in französischer Sprache zu unterhalten. Seinen Bemühungen war es vorzugsweise zu danken, daß nach meiner Uebernahme des Ministerpräsidiums 1867 der galizische Landtag vorbehaltlos für den Reichsrath wählte. Damals hatte ich zu Graf Goluchowski gesagt: ›Si cela se fait, les Slaves sont au pied du mur‹ – eine von der obigen sehr verschiedene Aeußerung.«

Ich habe unter meinen Argumenten für Auflösung besonders geltend gemacht, daß dem Reichstage ohne Verletzung seines Ansehens die Zurücknahme seines Beschlusses nur durch vorgängige Auflösung möglich gemacht werden könne. Ob hervorragende Nationalliberale damals die Absicht hatten, nur meine Collegen oder meine Nachfolger zu werden, kann unentschieden bleiben, da ersteres immer den Uebergang zu der andern Alternative bilden konnte; den zweifelsfreien Eindruck aber hatte ich, daß zwischen einigen meiner Collegen, einigen Nationalliberalen und einigen Leuten von Einfluß am Hofe und im Centrum über die Theilung meiner politischen Erbschaft die Verhandlungen bis zur Verständigung oder nahezu gediehen waren. Diese Verständigung bedingte ein ähnliches Aggregat wie in dem Ministerium Gladstone zwischen Liberalismus und Katholicismus. Der Letztere reichte durch die nächsten Umgebungen der Kaiserin Augusta, einschließlich des Einflusses der »Reichsglocke«, des Hausministers von Schleinitz bis in das Palais des alten Kaisers; und bei ihm fand der Gesammtangriff gegen mich einen Bundesgenossen in dem General von Stosch. Derselbe hatte auch am kronprinzlichen Hofe eine gute Stellung, theils direct durch eignes Talent, theils mit Hülfe des Herrn von Normann und seiner Frau, mit denen er schon von Magdeburg her vertraut war und deren Uebersiedlung nach Berlin er vermittelt hatte.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 412-420.
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