III

[322] Im Hinblick auf die Nothwendigkeit, im Kampfe gegen eine Uebermacht des Auslandes im äußersten Nothfall auch zu revolutionären Mitteln greifen zu können, hatte ich auch kein Bedenken getragen, die damals stärkste der freiheitlichen Künste, das allgemeine Wahlrecht, schon durch die Circulardepesche vom 10. Juni 1866 mit in die Pfanne zu werfen, um das monarchische Ausland abzuschrecken von Versuchen, die Finger in unsre nationale omelette zu stecken. Ich habe nie gezweifelt, daß das deutsche Volk, sobald es einsieht, daß das bestehende Wahlrecht eine schädliche Institution sei, stark und klug genug sein werde, sich davon frei zu machen. Kann es das nicht, so ist meine Redensart, daß es reiten könne, wenn es erst im Sattel säße, ein Irrthum gewesen. Die Annahme des allgemeinen Wahlrechts war eine Waffe im Kampfe gegen Oesterreich und weiteres Ausland, im Kampfe für die deutsche Einheit, zugleich eine Drohung mit letzten Mitteln im Kampf gegen Coalitionen. In einem Kampfe derart, wenn er auf Leben und Tod geht, sieht man die Waffen, zu denen man greift, und die Werthe, die man durch ihre Benutzung zerstört, nicht an; der einzige Rathgeber ist zunächst der Erfolg des Kampfes, die Rettung der Unabhängigkeit nach Außen; die Liquidation und Aufbesserung der dadurch angerichteten Schäden hat nach dem Frieden stattzufinden. Außerdem halte ich noch heute das allgemeine Wahlrecht nicht blos theoretisch, sondern auch praktisch für ein berechtigtes Princip, sobald nur die Heimlichkeit beseitigt wird, die außerdem einen Charakter hat, der mit den besten Eigenschaften des germanischen Bluts in Widerspruch steht. Die Einflüsse und Abhängigkeiten, welche das praktische Leben der Menschen mit sich bringt, sind gottgegebene Realitäten, die man nicht ignorieren[322] kann und soll; und wenn man es ablehnt, sie auf das politische Leben zu übertragen, und im letzteren den Glauben an die geheime Einsicht Aller zum Grunde zu legen [legt], so geräth man auf dem Wege in einen Widerspruch des Staatsrechts mit den Realitäten des menschlichen Lebens, der praktisch zu stehenden Frictionen und schließlich Explosionen führt und theoretisch nur auf dem Wege socialdemokratischer Verrücktheiten lösbar ist, deren Anklang auf der Thatsache beruht, daß die Einsicht großer Massen hinreichend stumpf und unentwickelt ist, um sich von der Rhetorik geschickter und ehrgeiziger Führer unter Beihülfe eigner Begehrlichkeit stets einfangen zu lassen.

Das Gegengewicht dagegen liegt in dem Einflusse der Gebildeten, der sich stärker geltend machen würde, wenn die Wahl öffentlich wäre, wie für den preußischen Landtag. Die größere Besonnenheit der intelligenteren Classen mag immerhin den materiellen Untergrund der Erhaltung des Besitzes haben; der andre des Strebens nach Erwerb ist nicht weniger berechtigt; und für die Sicherheit und Fortbildung des Staates ist das Uebergewicht derer, die den Besitz vertreten, das nützlichere. Ein Staatswesen, dessen Regiment in den Händen der begehrlichen, der novarum rerum cupidi, und der Redner liegt, welche die Fähigkeit, urtheilslose Massen zu belügen, in höherem Maße wie Andre besitzen, wird stets zu einer Unruhe der Entwicklung verurtheilt sein, der so gewichtige Massen, wie staatliche Gemeinwesen sind, nicht folgen können, ohne in ihrem Organismus geschädigt zu werden. Schwere Massen, zu denen große Nationen in ihrem Leben und ihrer Entwicklung gehören, können sich nur mit Vorsicht bewegen, da die Bahnen, in denen sie einer unbekannten Zukunft entgegenlaufen, nicht geglättete Eisenbahnschienen haben. Jedes große staatliche Gemeinwesen, in welchem der vorsichtige und hemmende Einfluß der Besitzenden, materiellen oder intelligenten Ursprungs, verloren geht, wird immer in eine der Entwicklung der ersten französischen Revolution ähnliche, den Staatswagen zerbrechende Geschwindigkeit gerathen. Das begehrliche Element hat das auf die Dauer durchschlagende Uebergewicht der größeren Masse. Es ist im Interesse dieser Masse selbst zu wünschen, daß dieser Durchschlag ohne gefährliche Beschleunigung und ohne Zertrümmerung des Staatswagens erfolge. Geschieht die letztere dennoch, so wird der geschichtliche Kreislauf immer in verhältnismäßig kurzer Zeit zur Dictatur, zur Gewaltherrschaft, zum Absolutismus zurückführen, weil auch die Massen schließlich dem Ordnungsbedürfniß unterliegen,[323] und wenn sie es a priori nicht erkennen, so sehen sie es infolge mannigfaltiger Argumente ad hominem schließlich immer wieder ein und erkaufen die Ordnung von Dictatur und Cäsarismus durch bereitwilliges Aufopfern auch des berechtigten und festzuhaltenden Maßes von Freiheit, welches europäische staatliche Gesellschaften vertragen, ohne zu erkranken.

Ich würde es für ein erhebliches Unglück und für eine wesentliche Verminderung der Sicherheit der Zukunft ansehen, wenn wir auch in Deutschland in den Wirbel dieses französischen Kreislaufes geriethen. Der Absolutismus wäre die ideale Verfassung für europäische Staatsgebilde, wenn der König und seine Beamten nicht Menschen blieben wie jeder Andre, denen es nicht gegeben ist, mit übermenschlicher Sachkunde, Einsicht und Gerechtigkeit zu regieren. Die einsichtigsten und wohlwollendsten absoluten Regenten unterliegen den menschlichen Schwächen und Unvollkommenheiten, wie der Ueberschätzung der eignen Einsicht, dem Einfluß und der Beredtsamkeit von Günstlingen, ohne von weiblichen, legitimen und illegitimen, zu reden. Die Monarchie und der idealste Monarch, wenn er nicht in seinem Idealismus gemeinschädlich werden soll, bedarf der Kritik, an deren Stacheln er sich zurechtfindet, wenn er den Weg zu verlieren Gefahr läuft. Joseph II. ist ein warnendes Beispiel.

Die Kritik kann nur geübt werden durch eine freie Presse und durch Parlamente im modernen Sinne. Beide Corrective können ihre Wirkung durch Mißbrauch abstumpfen und schließlich verlieren. Dies zu verhüten, ist eine der Aufgaben erhaltender Politik, die sich ohne Bekämpfung von Parlament und Presse nicht lösen läßt. Das Abmessen der Schranken, welche in diesem Kampfe innegehalten werden müssen, um die dem Lande unentbehrliche Controlle der Regierung weder zu hindern noch zur Herrschaft werden zu lassen, ist eine Sache des politischen Taktes und Augenmaßes.

Wenn ein Monarch dafür das hinreichende Augenmaß besitzt, so ist das ein Glück für sein Land, freilich ein vergängliches wie alles menschliche Glück. Die Möglichkeit, Minister an's Ruder zu bringen, welche die entsprechenden Eigenschaften besitzen, muß in dem Verfassungsleben gegeben werden, aber auch die Möglichkeit, Minister, die diesem Bedürfniß genügen, sowohl gegen gelegentliche Majoritäts-Abstimmungen wie gegen Hof- und Camarilla-Einflüsse zu halten. Dieses Ziel war bis zu dem nach menschlicher Unvollkommenheit überhaupt erreichbaren Grade annähernd erreicht unter der Regierung Wilhelms I.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 322-324.
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