III

[360] Es ist nicht anzunehmen, daß die übrigen Generale von rein militärischem Standpunkte andrer Meinung als Roon sein konnten; unsre Stellung zwischen der uns an Zahl überlegenen eingeschlossenen Armee und den französischen Streitkräften in den Provinzen war strategisch eine bedrohte und ihr Festhalten nicht erfolg versprechend, wenn man sie nicht als Basis angriffsweisen Fortschreitens benutzte. Das Bedürfniß, ihr bald ein Ende zu machen, war in militärischen[360] Kreisen in Versailles ebenso lebhaft wie die Beunruhigung in der Heimath über die Stagnation. Man brauchte noch mit der Möglichkeit von Krankheiten und unvorhergesehenen Rückschlägen infolge von Unglück oder Ungeschick garnicht zu rechnen, um von selbst auf den Gedankengang zu gerathen, welcher mich beunruhigte, und sich zu fragen, ob das Ansehen und der politische Eindruck, welche das Ergebniß unsrer ersten raschen und großen Siege an den neutralen Höfen gewesen waren, nicht vor der scheinbaren Thatlosigkeit und Schwäche unsrer Haltung vor Paris verblassen würden und ob die Begeisterung anhalten würde, in deren Feuer sich eine haltbare Einheit schmieden ließ.

Die Kämpfe in den Provinzen bei Orleans und Dijon blieben Dank der heldenmüthigen Tapferkeit der Truppen, wie sie in dem Maße nicht immer als Unterlage strategischer Berechnung vorausgesetzt werden kann, für uns siegreich. In dem Gedanken, daß der geistige Schwung, mit welchem unsre Minderheiten dort trotz Frost, Schnee und Mangel an Lebensmitteln und Kriegsmaterial die numerisch stärkeren französischen Massen überwunden hatten, durch irgend welche Zufälligkeiten gelähmt werden könnte, mußte jeder Heerführer, der nicht ausschließlich mit optimistischen Conjecturen rechnete, zu der Ueberzeugung kommen, daß wir bestrebt sein müßten, durch Förderung unsres Angriffs auf Paris unsrer ungewissen Situation so bald als möglich ein Ende zu machen.

Es fehlte uns aber, um den Angriff zu activiren, an dem Befehl und an schwerem Belagerungsgeschütz, wie im Juli 1866 vor den Floridsdorfer Linien. Die Beförderung desselben hatte mit den Fortschritten unsres Heeres nicht Schritt gehalten; um dieselbe zu bewirken, versagten unsre Eisenbahnmittel an den Stellen, wo die Bahnen unterbrochen waren oder, wie bei Lagny, ganz aufhörten.

Die schleunige Anfuhr von schwerem Geschütz und von der Masse schwerer Munition, ohne welche die Beschießung nicht begonnen werden durfte, hätte durch den vorhandenen Eisenbahnpark jedenfalls schneller, als der Fall war, bewirkt werden können. Es waren aber, wie Beamte mir meldeten, circa 1500 Axen mit Lebensmitteln für die Pariser beladen, um ihnen schnell zu helfen, wenn sie sich ergeben würden, und diese 1500 Axen waren deshalb für Munitionstransport nicht verfügbar. Der auf ihnen lagernde Speck wurde später von den Parisern abgelehnt und nach meinem Abgange aus Frankreich infolge der durch General v. Stosch in Ferrières bei Sr. Majestät veranlaßten Aenderung unsres[361] Staatsvertrages über die Verpflegung deutscher Truppen diesen überwiesen und mit Widerstreben verbraucht wegen zu langer Lagerung.

Da die Beschießung nicht begonnen werden konnte, bevor das für wirksame Durchführung ohne Unterbrechung erforderliche Quantum Munition zur Hand war, so wurde in Ermangelung von Bahn-Material nun eine erhebliche Anspannung von Pferden und für dieselbe ein Aufwand von Millionen erforderlich. Mir sind die Zweifel nicht verständlich, welche darüber obwalten konnten, ob diese Millionen verfügbar waren, sobald das Bedürfniß für kriegerische Zwecke vorlag. Es erschien mir als ein erheblicher Fortschritt, als Roon, schon nervös aufgerieben und erschöpft, mir eines Tages mittheilte, daß man jetzt ihm persönlich die Verantwortlichkeit mit der Frage zugeschoben habe, ob er bereit sei, die Geschütze in absehbarer Zeit heranzuschaffen; er sei in Zweifel in Betreff der Möglichkeit. Ich bat ihn, die ihm gestellte Aufgabe sofort zu übernehmen, und erklärte mich bereit, jede dazu erforderliche Summe auf die Bundescasse anzuweisen, wenn er die vielleicht 4000 Pferde, welche er als ungefähren Bedarf angab, ankaufen und zur Beförderung der Geschütze verwenden wolle. Er gab die entsprechenden Aufträge, und die in unsrem Lager lange mit schmerzlicher Ungeduld erwartete und mit Jubel begrüßte Beschießung des Mont Avron war das Ergebniß dieser wesentlich dem Grafen Roon zu dankenden Wendung. Eine bereitwillige Unterstützung fand er für das Heranschaffen und die Verwendung der Geschütze bei dem Prinzen Krafft Hohenlohe.

Wenn man sich fragt, was andre Generale bestimmt haben kann, die Ansicht Roons zu bekämpfen, so wird es schwer, sachliche Gründe für die Verzögerung der gegen die Jahreswende ergriffenen Maßregeln aufzufinden. Von dem militärischen wie von dem politischen Standpunkte erscheint das zögernde Vorgehn widersinnig und gefährlich, und daß die Gründe nicht in der Unentschlossenheit unsrer Heeresleitung zu suchen waren, darf man aus der raschen und entschlossenen Führung des Krieges bis vor Paris schließen. Die Vorstellung, daß Paris, obwohl es befestigt und das stärkste Bollwerk der Gegner war, nicht wie jede andre Festung angegriffen werden dürfe, war aus England auf dem Umwege über Berlin in unser Lager gekommen, mit der Redensart von dem »Mekka der Civilisation« und andern in dem cant der öffentlichen Meinung in England üblichen und wirksamen Wendungen der Humanitätsgefühle, deren Bethätigung England von allen andern Mächten[362] erwartet, aber seinen eignen Gegnern nicht immer zu Gute kommen läßt. Von London wurde bei unsern maßgebenden Kreisen der Gedanke vertreten, daß die Uebergabe von Paris nicht durch Geschütze, sondern nur durch Hunger herbeigeführt werden dürfe. Ob der letztere Weg der menschlichere war, darüber kann man streiten, auch darüber, ob die Greuel der Commune zum Ausbruch gekommen sein würden, wenn nicht die Hungerzeit das Freiwerden der anarchischen Wildheit vorbereitet hätte. Es mag dahingestellt bleiben, ob bei der englischen Einwirkung zu Gunsten der Humanität des Aushungerns nur Empfindsamkeit und nicht auch politische Berechnung im Spiele war. England hatte kein praktisches Bedürfniß, weder uns noch Frankreich vor Schädigung und Schwächung durch den Krieg zu behüten, weder wirthschaftlich noch politisch. Jedenfalls vermehrte die Verschleppung der Ueberwältigung von Paris und des Abschlusses der kriegerischen Vorgänge für uns die Gefahr, daß die Früchte unsrer Siege uns verkümmert werden könnten. Vertrauliche Nachrichten aus Berlin ließen erkennen, daß in den sachkundigen Kreisen der Stillstand unsrer Thätigkeit Besorgniß und Unzufriedenheit erregte und daß man der Königin Augusta einen brieflichen Einfluß auf ihren hohen Gemahl im Sinne der Humanität zuschrieb. Eine Andeutung, welche ich dem Könige über Nachrichten derart machte, hatte einen lebhaften Zornesausbruch zur Folge, nicht in dem Sinne, daß die Gerüchte unbegründet seien, sondern in einer scharfen Bedrohung jeder Aeußerung einer derartigen Verstimmung gegen die Königin.

Die Initiative zu irgend einer Wendung in der Kriegführung ging in der Regel nicht von dem Könige aus, sondern von dem Generalstabe der Armee oder des Höchstcommandirenden am Orte, des Kronprinzen. Daß diese Kreise englischen Auffassungen, wenn sie sich in befreundeter Form geltend machten, zugänglich waren, war menschlich natürlich: die Kronprinzessin, die verstorbene Frau des Grafen Moltke, die Frau des Generalstabschefs, späteren Feldmarschall Grafen Blumenthal, und die Frau des demnächst maßgebenden Generalstabsoffiziers von Gottberg waren sämtlich Engländerinnen.

Die Gründe der Verzögerung des Angriffs auf Paris, über welche die Wissenden Schweigen beobachtet hatten, sind durch die in der »Deutschen Revue« von 1891 erfolgten Veröffentlichungen aus den Papieren des Grafen Roon Gegenstand publicistischer Erörterung geworden. Alle gegen die Darstellung Roon's gerichteten Ausführungen[363] umgehen die Berliner Einflüsse und die englischen, auch die Thatsache, daß 800, nach Andern 1500 Axen mit Lebensmitteln für die Pariser wochenlang festlagen; und alle, mit Ausnahme eines anonymen Zeitungsartikels, umgehen ebenso die Frage, ob die Heeresleitung rechtzeitig für die Herbeischaffung von Belagerungsgeschütz Sorge getragen habe. Ich habe keinen Anlaß gefunden, an meinen vorstehenden, vor dem Erscheinen der betreffenden Nummern der »Deutschen Revue« gemachten Aufzeichnungen irgend etwas zu ändern.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 360-364.
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