Der Frühjahrs-Feldzug i. J. 15.

[98] Im Frühjahr des folgenden Jahres (15 n.Chr.) machte Germanicus einen Einfall in das Land der Chatten und kam bis über die Eder. Von Mainz, dem Standlager des oberrheinischen Heeres, von wo dieser Zug ausgegangen sein muß, bis an die mittlere Eder sind 150 Kilometer = 20 Meilen Luftlinie. Viel mehr als eine Meile Luftlinie täglich im Durchschnitt kann eine Armee, die durch germanische Wälder mit den größten Vorsichtsmaßregeln und daneben Vernichtungen ausführend marschiert, nicht wohl machen. Die Expedition muß also fünf bis sechs Wochen Zeit in Anspruch genommen haben. Das Heer war 4 Legionen und 10000 Mann Hülfstruppen, also, wenn wir die Legionen als nicht ganz vollzählig[98] ansehen, etwa 30000 Kombattanten stark, oder im ganzen, mit dem Troß, gegen 50000 Köpfe. Für 50000 Menschen die Lebensmittel auf fünf bis sechs Wochen mitzuschleppen, ist so gut wie unmöglich; allein das Korn würde etwa 3000 vierspännige Wagen erfordern, die eine Marschtiefe von 6 Meilen einnehmen.42 Wir haben aber ein Merkmal, daß Germanicus auch für diesen Feldzug den Wasserweg nutzbar zu machen wußte. Tacitus berichtet, daß er bei Beginn der Expedition ein schon von seinem Vater errichtetes und mittlerweile zerstörtes Kastell auf dem Taunus wiederherstellte. Man pflegt anzunehmen, daß dieses Kastell die Saalburg gewesen sei, und ganz unmöglich ist das nicht.

Über den Taunus-Paß, den diese Burg deckte, wird die damalige Straße aus dem Main-Niddatal ins Lahntal gegangen sein. Germanicus mag nur mit einem Teil seines Heeres direkt von Mainz vorgegangen sein, während der andere von Koblenz aus die Lahn hinauf den Verpflegungstransport geleitete. Durch die Annäherung des römischen Gros über den Taunus war dieses Detachement mittelbar gegen den Anmarsch von gar zu großen Germanenscharen gedeckt, und schon bei Weilburg mögen sich die römischen Heeresabteilungen vereinigt haben. Bis nach Marburg konnten nun die Römer ihre Vorräte auf der Lahn, die dafür sehr brauchbar ist, transportieren, und von dem Lahnhaken, nördlich von Marburg, bis an die Eder ist nur noch 20 Kilometer Luftlinie. Die Saalburg auf dem Taunus, 70 Kilometer Luftlinie von Mainz, wäre also bestimmt gewesen, dem römischen Heere auf dem Rückzug den Paß offen zu halten, einige Vorräte aufzunehmen und für die Zukunft den Verkehr zwischen den Germanen nördlich und südlich des Gebirges möglichst zu erschweren.

Ist ein solcher Zusammenhang vielleicht nicht ganz unmöglich, so ist er doch nicht gerade wahrscheinlich. Es gibt einen anderen Platz, wo sich die Anlage eines Kastells »in monte Tauno« mit einem Feldzug von Mainz an die Eder viel besser vereinigt. Das ist die Stadt Friedberg, die auf einer Anhöhe liegt, die man noch zum Taunus rechnen kann und an der später die große römische Hauptstraße von Mainz durch die Wetterau in der Richtung auf[99] die Eder hinaufführte. Friedberg liegt an einem Bache, der Uhse, die ein mäßiges Gefäll hat und im Frühjahr kleine Schiffsgefäße tragen kann. Die Anhöhe hat nach Norden einen steilen Abfall und trug im Mittelalter eine Burg. Dieses Kastell wäre also das Gegenstück zu Aliso gewesen: der vorgeschobene, noch auf dem Wasserweg erreichbare Magazinplatz. Von hier aus bis an die Eder sind nur etwa 12 Meilen: eine, wie es scheint, kleine Entfernung, aber für ein großes Heer unter den germanischen Verhältnissen eine Expedition, die nur mit außerordentlichen Aufwendungen und Anstrengungen zu leisten war.

Während Germanicus von Süd-Westen her die Chatten überzog, marschierte Caecina gleichzeitig mit den niederrheinischen Legionen von Vetera aus die Lippe hinauf und hielt die Cherusker ab, den Chatten zu Hilfe zu kommen; diese wagten sich nicht an ihn heran. Den schon im vorigen Jahre heimgesuchten Marsern lieferte Caecina ein Gefecht.

Zurückgekehrt von dieser Expedition, empfing Germanicus Abgeordnete des Segest, die ihm meldeten, daß ihr Fürst sich wieder mit Arminius veruneinigt habe, von ihm belagert werde und um die Hilfe der Römer bitte. Der römische Feldherr machte sich sofort auf, zog die Lippestraße wieder hinauf, verjagte die Bedränger des Segest und brachte ihn mit seinem Gefolge an den Rhein. Da Tacitus von einem eigentlichen Gefecht mit den Cheruskern nichts meldet, so muß die Burg, in der Segest belagert wurde, ganz an der Grenze des Cheruskerlandes gelegen haben; wäre Germanicus tiefer in die cheruskischen Waldgebirge eingedrungen, so hätte Arminius ihn doch wohl schwerlich unangefochten sich wieder zurückziehen lassen. Auch hätte ein solches Unternehmen sehr große Vorbereitungen und Zurüstungen erfordert. Da wir im nächsten Jahre hören, daß die Germanen Aliso belagern, so müssen wir annehmen, daß diese Feste im Laufe des Jahres 15 von den Römern, vermutlich während Caecina hier stand und den Bau deckte, wiederhergestellt und als Magazinplatz eingerichtet worden ist. Ohne die Ausnutzung eines wohlgefüllten Magazins an der oberen Lippe hätte sich eine solche Expedition überhaupt nicht improvisieren lassen. Die Burg des Segestes wird keine andere als Teutoburg (Grotenburg) gewesen sein, nicht mehr als[100] drei Meilen von Aliso. Es war also kein großes Unternehmen, immerhin genügte die Besatzung von Aliso nicht, sondern es mußte ein wirkliches Heer abgeschickt werden, um die Cherusker, die ihr Hauptgebiet jenseits der Weser bis in den Harz (Hildesheim, Braunschweig) hatten, zu verscheuchen.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 98-101.
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