Zur Kritik der Quellen.

[127] Widukind sagt von der legio regia »princeps vallatus lectis ex omnibus militum milibus alacrique juventute«. Das ist natürlich nicht so aufzufassen, als ob aus all den feudalen kleinen Kontingenten Einzelne zu einem Korps unter dem persönlichen Befehl des Königs zusammengestellt worden wären, sondern bloß rhetorische Verherrlichung der im persönlichen Dienst des Königs stehenden Ritter. Gleich nachher heißt es von den Franken, die unter dem Befehl Konrads den Rückenangriff der Ungarn abschlagen: »cunctantibus veteranis militibus gloria victoriae assuetis cum novo milite et et fere bellandi ignaro triumphum peregit«. Auch das ist natürlich nichts als – verunglückte – Rhetorik. Die fränkischen Ritter werden nicht jünger und weniger kriegserfahren gewesen sein, als die Schwaben und Bayern.

Widukind berichtet am letzten Tage »ducitur exercitus per aspera et difticilia loca, ne daretur hostibus copia turbandi sagittis agmina, quibus utuntur acerrime, arbustis ea protegentibus«. Das ist die taktische Weisheit eines, wie wir hoffen wollen, mehr tapferen als einsichtigen Mitstreiters, von dem guten Mönch andächtig aufgenommen und nacherzählt. Die Schilderung des Geländes aber ist zutreffend.

Widukind erzählt, man habe beim Vormarsch am letzten Tage den Troß des gesamten Heeres unter der Bedeckung der Böhmen nachmarschieren lassen, weil man ihn dort gesichert glaubte. Aber es sei anders[127] gekommen; die Ungarn seien über den Lech gegangen, hätten das Heer umgangen, von hinten angegriffen und erst die Böhmen, dann auch die beiden Heerscharen der Schwaben geschlagen und das Gepäck genommen. Als der König bemerkte, daß er die Feinde sowohl vor wie hinter sich habe, habe er den Herzog Konrad mit den Franken abgesandt, der die Ungarn wieder verscheuchte und ihnen die ganze Beute wieder abnahm.

Diese Erzählung leidet an so schweren inneren Gebrechen, daß ich nicht wagen möchte, sie in eine historische Darstellung aufzunehmen. Da erst die Böhmen, »die achte Legion«, dann sie siebente und sechste geschlagen werden, so muß das Heer noch auf dem Marsche sein. Trotzdem schickt ihnen Otto nicht die nächste, die fünfte Schar, zu Hilfe, sondern die vierte, die also erst an der fünften hätte vorbereiten müssen, während doch jede Minute kostbar war. Auch ist es wenig wahrscheinlich, daß der ungarische Umgehungstrupp, der doch immer nur mäßig stark gewesen sein kann, volle 3/8 des Heeres hat in die Flucht schlagen können.

Vielleicht hängt die Sache so zusammen, daß das Heer bereits aufmarschiert war, die sieben »Legionen« nebeneinander, die Böhmen die Nachhut bildend und das Gepäck hütend, dahinter, als der Überfall erfolge. Dann war es natürlich, daß gerade die vierte »Legion«, die im Zentrum stand, umkehrte und die Böhmen degagierte. Daß auch die Schwaben bereits auf der Flucht waren, wäre dann bloße Konstruktion Widukinds, der sich die Scharen alle hintereinander vorstellte. Aber das ist natürlich nur Vermutung. Möglicherweise handelt es sich überhaupt nur um einen ganz unbedeutenden Zwischenfall, den Widukinds Gewährsmänner oder dieser selbst zur höheren Ehre des Schwiegersohns des Königs, der nachher in der Schlacht den Heldentod starb, sehr aufgebauscht haben.

Ob dieses Gefecht wirklich an demselben Tage wie die Schlacht, wie jetzt allgemein angenommen wird, oder am Tage vorher stattgefunden, möchte ich nicht so bestimmt sagen. Widukind selber mag sich darüber nicht so ganz klargewesen sein.

Seine Behauptung, daß der König persönlich mit seiner Schar die Schlacht eröffnet, ist natürlich auch nicht als historische Tatsache, sondern als Mittel der Glorifizierung aufzufassen.

Beiläufig noch als Beispiel, wie wenig man sich auf Bearbeitungen zweiter Hand verlassen kann, die Anmerkung, daß in der Übersetzung des Widukind in den »Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit« unter der Ägide von Pertz, Grimm, Lachmann, Ranke, Ritter, mit Vorrede von Wattenbach, ein ganzer Satz »similiter septimam ac sextam aggressi, plurimis ex eis fusis in fugam verterunt« – vollständig ausgefallen ist.

DIETR. SCHÄFER über die »Ungarnschlacht von 955« in den Sitz.-Ber. d. Berl. Akad., 1905. XXVII, hat auf die Stelle in den Annal. Zwifaltenses (SS. X, 53) aufmerksam gemacht (Ungari juxta Augustam apud Kolital ab Ottone rega bello vincuntur 4. idus augusti,[128] ubi ex nostris Cownradus eux et Diepolt frater santi Oudalrici occubuerunt). Schäfer identifiziert dieses »Kolital« mit Kühlental, das etwa 25 km nordwestlich von Augsburg auf dem linken Lechufer am Ostrande des Hügellandes über dem Schmutterbache liegt. Sprachlich ist das möglich, aber, abgesehen von der Himmelsrichtung, ist die Entfernung, 25 km von Augsburg, auch offenbar schon zu groß, um hier die Schlacht anzusetzen.

Schäfer stellt übrigens noch überzeugend fest, daß mit der »silva nigra«, bis zu der in diesem Feldzug die Ungarn alles verwüstet haben sollen (nach Gerhard), nicht der Schwarzwald, sondern das Gelände an den Alpen gemeint ist.

Als ich in der ersten Auflage dieses Werkes die Schlacht rekonstruierte, kam ich zwar schon zu demselben Ergebnis wie jetzt, aber nur auf Umwegen und mit geringer Sicherheit, weil eine unbedingt glaubwürdige, gleichzeitige Bezeichnung der Aktion als »Schlacht auf dem Lechfelde« zu fehlen schien. Es ist das Verdienst HARRY BRESSLAUS, daß sie, noch während der Band in Druck war, gefunden wurde. Breßlau wies nach, Histor. Zeitschr. Bd. 93 S. 137, daß eine Vision, von der in dem Werke Gerhards über das Leben des Bischofs Udalrich berichtet, sich auf diese Schlacht bezieht, was die Forschung bis dahin angezweifelt hatte.

ALFRED SCHRÖDER, »Die Ungarnschlacht von 955« im Archiv f. d. Geschichte des Hochstifts Augsburg, Bd. I, 1919, ist wieder dafür eingetreten, daß die Schlacht links des Lech anzusetzen sei. Die Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben, sind jedoch nicht gelöst, sondern nur umgangen oder verschleiert.

HEFNER-ALTENECK in seinem Prachtwerk »Waffen, Ein Beitrag zur Historischen Waffenkunde« bildet auf Tafel IV ein in seinem Besitz befindliches Schwert ab, das aus dem zehnten Jahrhundert stammt und auf dem Lechfelde gefunden sein soll, also aus der Ungarnschlacht stammen könnte. Es ist breit und lang, die Spitze abgerundet, so daß es nur zum Hauen, nicht zum Stechen sich eignete. Die Parierstange ist größer als in der älteren Zeit, aber immer noch von mäßigem Umfang.

Als dieses Kapitel bereits in der Druckerei war, ging mir die Abhandlung »Der Gunzenlee und die Lechfeldschlacht« vom Lehrer EDUARD WALLNER in Augsburg (Zeitschr. d. histor. Vereins f. Schwaben und Neuburg Bd. 44) zu, die Herr Wallner die Freundlichkeit hatte, noch durch briefliche Mitteilungen und Auskünfte zu ergänzen. Die Untersuchung ist von hohem Wert für die Topographie des Lechfeldes, und ich habe daraufhin in der Korrektur des Vorstehenden noch mehrfache Verbesserungen vorgenommen. Insbesondere ist der heute verschwundene »Gunzenlee« fünf Kilometer näher an Augsburg herangerückt, als er früher angenommen wurde. Ferner habe ich den etymologischen Zusammenhang zwischen »Kolital« und »Gollenhof«, der sprachlich möglich wäre, fallenlassen müssen, da Herr Wallner nachgewiesen hat, daß[129] »Gollenhofen« in einer Urkunde von 1231 »Goldenhoven« genannt wird. Immerhin bleibt ein sprachlicher Zusammenhang, da das »G« im Anlaut sich im Munde eines Bayern in K verwandeln konnte und das doppelte L der Orthographie des Schreibers der Zwifalter Annalen zum Opfer gefallen sein mag. Das »Tal« paßt sehr gut in die hügelige, von Wasserläufen durchsetzte Gegend.

Ich fasse die Gründe, die uns nötigen, die Schlacht in zwei getrennte Akte zu zerlegen und den ersten in der Nähe von Gollenhofen, einen halben Tagemarsch nordöstlich von Augsburg auf dem rechten Lechufer, den zweiten und entscheidenden auf dem Lechfeld, unmittelbar am Fluß, in der Nähe des Gunzenlee anzunehmen, noch einmal zusammen.

Widukind sagt ausdrücklich, die Schlacht habe in Bayern stattgefunden, und das wird sachlich dadurch bestätigt, daß die Bauern auf dem Marsch die Spitze hatten.

Hätte sich das deutsche Heer in Schwaben, westlich von Augsburg gesammelt, so ist schwer zu verstehen, weshalb die Lothringer fehlten, die Rheinfranken als die letzten erschienen, und daß der König nicht die ortskundigen Schwaben an die Spitze des Heereszuges stellte.

Die sicherste Nachricht, die wir über die Schlacht haben, ist, daß der Zusammenstoß so fern von Augsburg stattfand, daß er von der Stadtmauer nicht gesehen werden konnte, daß man aber die Rückkehr der Ungarn sah und zweifelte, ob ein Treffen stattgefunden, da die Ungarn keine merkbaren Verluste gehabt zu haben schienen. Hätten sich Vorgänge dieser Art westlich von Augsburg abgespielt, so hätte überhaupt keine große Schlacht stattgefunden; die Ungarn wären über den Lech zurückgegangen, was ihnen keine Schwierigkeit bereiten konnte, und der Befehl Ottos, ihnen die Übergänge über Isar und Inn zu verlegen, wäre einem immer noch sehr starken Heer gegenüber sinnlos gewesen. Dieser Befehl bezeugt einen völlig geschlagenen Feind, zersprengte Scharen.

Da die Ungarn Augsburg berannten, das im Osten, Westen und Norden durch den Lech und die Wertach gedeckt war, so muß ihr Lager südlich der Stadt gewesen sein, also auf dem linken Lechufer. Sie gingen zur Schlacht dem Feinde entgegen über den Fluß, also auf das rechte Ufer. Wenn sie der Schlacht nicht von vornherein ausweichen wollten, konnten sie nichts anderes tun. Hätten sie in ihrem Lager, ziemlich nahe der Stadt, den Feind abgewartet, so wären sie in ihren Bewegungen, auf die für sie als berittene Bogenschützen so viel ankam, aufs äußerste behindert gewesen.

Noch weniger als westlich kann der erste Zusammenstoß sich südlich der Stadt abgespielt haben, selbst dann nicht, wenn angenommen werden könnte, daß das ungarische Lager östlich der Stadt war, daß die Deutschen von Ulm kamen und die Ungarn ihnen in dieser Richtung entgegen[130] gingen. Denn dann wäre nicht zu verstehen, daß man von der Stadtmauer wohl den Rückzug, aber nicht die Schlacht sehen konnte.

Der Graf Dietbald, ein Bruder des Bischofs, verließ in der Nacht vor der Schlacht die Stadt, um sich mit dem Heer des Königs zu vereinigen (selbstverständlich so viel Mannschaft zurücklassend, wie zur Bewachung der Mauern erforderlich war). Das spricht gegen den Anmarsch des Königs direkt von Norden, denn dann wäre er so nah an die Stadt herangekommen oder hätte sie sogar passiert, so daß Dietbald den Nachtmarsch nicht nötig hatte. Es bleibt nur die Richtung Nordwest oder Nordost. Weshalb Nordwest quellenmäßig und sachlich ausgeschlossen ist, haben wir gesehen.

Die von Gerhard berichtete Bision des Bischofs Udalrich setzt die Schlacht, wie Wallner nachweist, unzweifelhaft in Beziehung zu dem Gunzenlee, gegen sechs Kilometer aufwärts von Augsburg am Lech, der ja von zwei späteren Chroniken auch ausdrücklich genannt wird. Dieser Kampf am Gunzenlee kann nicht den ersten Akt der Schlacht gebildet haben, da die Ungarn aus ihm an der Augsburger Stadtmauer vorbei flohen. Es ist also ein besonderer Schlacht-Akt, und es muß ein sehr bedeutender Akt gewesen sein. Der ergibt sich nicht, wenn die Deutschen vom Westen kommen und das erste Zusammentreffen auf dem linken Lechufer stattfand. Er ergibt sich aber zwanglos, wenn die Deutschen von Nordosten kamen, die Ungarn aus dem ersten Zusammentreffen in ihr Lager zurückgekehrt waren und die Deutschen ihnen nun am Gunzenlee zum zweiten Male entgegengetreten und ihnen den Rückzug verlegten. Das wird wieder bestätigt durch Widukinds Nachricht, da die Ungarn den Lech überschritten hätten, dem König entgegenzugehen und daß die Schlacht (nämlich der erste Zusammenstoß) in Bayern stattgefunden habe.

Die spezielle, quellenmäßige und sachkritische Widerlegung der mancherlei sonst über die Schlacht aufgestellten Hypothesen findet man erschöpfend in der Delbrück-Festschrift von 1908 aus der Feder von KARL HADANK (Verlag Georg Stilke). Hier ist auch der vielverbreitete Irrtum richtiggestellt, daß Herzog Honrad von einem ungarischen Pfeil im Hals getroffen worden sei, als er wegen der Hitze die Bänder seines Helms gelöst hatte. Es war vielmehr die Halsberge, das Panzerhemd, das er gelüftet hatte.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1923, Teil 3, S. 127-131.
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