Vormittagssitzung.

[483] GERICHTSMARSCHALL: Der Gerichtshof wird ersucht, die Abwesenheit der Angeklagten Heß, Ribbentrop und Fritzsche zur Kenntnis zu nehmen.

DR. SAUTER: Meine Herren Richter! Ich habe mich gestern am Schluß meiner Ausführungen mit dem Vorwurf der Anklage befaßt, der Angeklagte von Schirach habe die Jugend des Dritten Reiches im kriegerischen Sinn militaristisch erzogen, er habe sie auf die Führung von Angriffskriegen vorbereitet und habe an einer Verschwörung gegen den Frieden sich beteiligt. Ich fahre nunmehr fort gemäß Seite 15 meines schriftlichen Exposés, in dem ich nicht einem weiteren Vorwurf zuwende, der von der Anklagebehörde gegen den Beschuldigten von Schirach erhoben wurde:

Da die Anklagevertretung dem Angeklagten von Schirach nicht nachweisen konnte, daß er jemals vor Beginn des Krieges sich für die Kriegspolitik Hitlers eingesetzt hat, so macht man ihm einen weiteren Vorwurf daraus, er habe verschiedene Beziehungen zur SS und SA gehabt, aus der Hitler-Jugend habe insbesondere sowohl die SS und SA und auch das Führerkorps der Partei seinen Nachwuchs erhalten. Das letztere ist durchaus richtig, beweist aber nichts für die Stellungnahme Schirachs zur Kriegspolitik Hitlers und ist auch für die Frage seiner Beteiligung an einer Kriegsverschwörung Hitlers belanglos. Denn wenn 90 oder 95 Prozent oder noch mehr der deutschen Jugend in der Hitler-Jugend geeinigt waren, dann war es eine Selbstverständlichkeit, daß sowohl die Partei wie auch deren verschiedene Formationen ihren Nachwuchs von Jahr zu Jahr mehr aus der Hitler-Jugend erhielten, eine andere Jugend war praktisch nicht mehr vorhanden. Wenn aber die Anklage auf das Abkommen zwischen der Reichsjugendführung und dem Reichsführer-SS über den Streifendienst der Hitler-Jugend vom Oktober 1938 hinweist, das Ihnen als Dokument 2396-PS vorgelegt wurde, so ergibt sich daraus überhaupt kein Schluß für die Anklage; denn der Streifendienst der Hitler-Jugend war nur eine Einrichtung, welche die Disziplin der HJ-Angehörigen beim Auftreten in der Öffentlichkeit kontrollieren und überwachen sollte; es war das also eine Art Vereinspolizei, welche die Hitler-Jugend gegen ihre eigenen Mitglieder und nur gegen diese übte. Um aber hierbei seitens der allgemeinen Polizei keine Schwierigkeiten zu bekommen, war eine Regelung durch Vereinbarung mit dem Reichsführer-SS Himmler [483] notwendig, weil dieser, Himmler, der Chef des gesamten Polizeiwesens in Deutschland war und weil er der Einrichtung des Streifendienstes der HJ hätte Schwierigkeiten machen können. Das allein war der Zweck des Abkommens vom Oktober 1938, das natürlich mit der Beschaffung eines Nachwuchses für die SS in Wirklichkeit ebensowenig etwas zu tun hatte wie mit Kriegführung und Kriegsvorbereitung. Wie sehr übrigens Schirach sich dagegen wehrte, daß irgendwelche Gliederungen der Partei auf die HJ Einfluß gewannen, das ergibt sich deutlich aus der Tatsache, daß er 1938 auf das schärfste dagegen protestierte, daß die Ausbildung der zwei letzten Jahrgänge der HJ, also von 16 bis 18 Jahren, durch die SA übernommen werden sollte; er hat diesen Plan scharf abgelehnt und hat durch persönliche Vorsprache bei Hitler erreicht, daß der betreffende Führerbefehl in der Praxis nicht durchgeführt wurde. Und was seine Stellung zur SS anlangt, so wissen wir aus der Aussage des Zeugen Gustav Höpken, der am 28. Mai 1946 hier vernommen wurde, wie aus dem Affidavit der Zeugin Maria Höpken, Dokumentenbuch Schirach Nummer 3, daß Schirach in Wien immer befürchtete, durch die SS überwacht und bespitzelt zu werden. So hatte er immer schon ein unbehagliches Gefühl, seit man für ihn zu Beginn seiner Wiener Tätigkeit für die Geschäfte des Reichsstatthalters und Reichsverteidi gungskommissars einen ständigen Vertreter in der Person ausgerechnet eines höheren SS-Führers, eines Dr. Dellbrügge, aufgestellt hatte, der, wie Schirach wußte, in unmittelbaren Beziehungen zum Reichsführer-SS stand, also zu demjenigen Mann, der, wie nachgewiesen ist, im Jahre 1943 Hitler den Vorschlag machte, Schirach wegen Defaitismus verhaften zu lassen und vor den Volksgerichtshof zu stellen, was praktisch bedeutet hätte, daß Schirach auf Betreiben Himmlers aufgehängt worden wäre. Schon diese Tatsachen beweisen, wie das Verhältnis des Angeklagten von Schirach zur SS in Wirklichkeit gewesen ist, und es ist dann verständlich, daß Schirach schließlich sogar auf den »Schutz«, den sogenannten Schutz durch die ihm beigegebene Polizeimannschaft verzichtete und es vorzog, seinen persönlichen Schutz einer Abteilung der Wehrmacht zu übertragen, die dem Befehl Himmlers nicht unterstand. Ich vergleiche hierzu das Affidavit Maria Höpken im Dokumentenbuch von Schirach Nummer 3.

Ein weiterer Vorwurf, der gegen Schirach erhoben wird, betrifft seine Einstellung zur Kirchenfrage. Dem durch die bisherigen Ausführungen gezeichneten Bild des Angeklagten von Schirach, wie es sich aus der Beweisaufnahme ergeben hat, entspricht auch seine Haltung zur Kirchenfrage. Dieser Punkt spielt zwar in der Anklage eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle, erscheint aber doch für die Beurteilung der menschlichen Persönlichkeit Schirachs von erheblicher Bedeutung.

[484] Schirach selbst und seine Frau waren stets in der Kirche verblieben. Dem ausländischen Beurteiler mag dieser Umstand vielleicht nur als nebensächliche Kleinigkeit erscheinen, aber wir Deutsche wissen, welcher Druck auf höhere Parteifunktionäre gerade auch in solchen Dingen ausgeübt wurde, und daß nur wenige in dieser Stellung einem solchen Druck sich zu widersetzen getrauten. Schirach war einer der wenigen.

Er war derjenige höhere Parteiführer, der stets und ausnahmslos mit aller Strenge einschritt, wenn kirchenfeindliche Übergriffe und Ausschreitungen seitens der Hitler-Jugend zu seiner Kenntnis kamen. Man hat ihm zwar einen Vorwurf daraus gemacht, daß in der Hitler-Jugend verschiedentlich Lieder gesungen wurden, die häßliche Bemerkungen gegen kirchliche Einrichtungen enthielten, aber Schirach konnte mit gutem Gewissen hier auf seinen Eid bestätigen, daß er zum Teil von diesen Liedern keine Kenntnis hatte, was bei einer Organisation von sieben oder acht Millionen Mitgliedern durchaus verständlich ist, ferner, daß einzelne jetzt beanstandete Lieder bereits aus dem Mittelalter stammen und schon im Liederbuch des sogenannten »Wandervogel« gestanden haben, also einer früheren Jugendorganisation, die sicher seitens der Anklagebehörde nicht beanstandet werden will. Vor allem aber hat Schirach darauf hingewiesen, daß in den Jahren 1933 bis 1936 mehrere Millionen von Jugendlichen aus einer ganz anderen Geisteswelt zur Hitler-Jugend kamen und daß in den ersten Revolutionsjahren, also in der Sturm- und Drangperiode der Bewegung, es ganz unmöglich war, alle Übergriffe dieser Art zu erfahren und zu verhindern. Wo Schirach von solchen Dingen verständigt wurde, hat er eingegriffen und derartige Mißstände abgestellt, die von vornherein sich nur als Ausschreitungen vereinzelter Elemente darstellten, jedoch nicht die Jugendorganisation als Ganzes kompromittieren konnten.

Die Beweisaufnahme hat nach der Überzeugung Schirachs keinen Zweifel darüber gelassen, daß er sich in der Kirchenfrage versöhnlich verhalten hat und daß er sich bemühte, zwischen den Kirchen auf der einen Seite, dem Dritten Reich und namentlich der Reichsjugendführung auf der anderen Seite ein korrektes Verhältnis der gegenseitigen Achtung herbeizuführen und die beiderseitigen Rechte und Zuständigkeiten zu respektieren. Auf sein eigenes Ersuchen wurde Schirach seinerzeit im Jahre 1934 durch den Reichsminister des Innern in die Führung der Konkordatsverhandlungen mit der katholischen Kirche eingeschaltet, weil er hoffte, durch persönliche Mitwirkung leichter ein Übereinkommen mit der katholischen Kirche zu erzielen; er hat sich ehrlich bemüht, für die Regelung der Jugendfrage eine Formulierung zu finden, auf der eine Einigung mit der katholischen Kirche möglich gewesen wäre; seine Mäßigung und sein guter Wille in diesem Punkt wurden damals auch seitens der Vertreter der katholischen Kirche offen anerkannt; aber alles scheiterte [485] zuletzt am Widerstand Hitlers und an der Komplikation, die gerade für diese Verhandlungen durch die Vorkommnisse des 30. Juni 1934 durch den sogenannten Röhm-Putsch geschaffen wurde.

Mit der protestantischen Kirche dagegen führte Schirach eine Einigung mit dem Reichsbischof Dr. Müller herbei, so daß die protestantischen Jugendverbände nicht im Zwangsweg, sondern im Weg beiderseitiger Vereinbarung in die Hitler-Jugend eingegliedert wurden, also nicht im Wege einer »Zerschlagung dieser Verbände« durch Staat oder Partei, wie die Anklage annimmt, sondern auf Veranlassung des protestantischen kirchlichen Oberhauptes und im vollen Einverständnis mit ihm.

Dabei muß darauf hingewiesen werden, daß es stets die Politik Schirachs gewesen ist, daß eine Beschränkung des Jugendgottesdienstes seitens der Jugendführung weder damals noch später erfolgte. Im Gegenteil, Schirach hat, wie er selbst angab und wie der Zeuge Lauterbacher bestätigt hat, im Jahre 1937 ausdrücklich erklärt, daß er es den Kirchen überlasse, die Jugend im Sinne ihrer Konfession zu erziehen, und er hat gleichzeitig angeordnet, daß grundsätzlich an Sonntagen während der Zeit des kirchlichen Gottesdienstes kein Dienst der Hitler-Jugend anzusetzen sei; er gab den Einheitsführern der HJ strenge Weisung, den Sonntagsgottesdienst in keiner Weise durch einen Formationsdienst zu stören. Wenn solche Störungen in einzelnen Fällen dann doch vorgekommen sind und wenn sich hierüber kirchliche Stellen beschwerten, wie aus dem Kreuzverhör sich ergibt, so geht das nicht zu Lasten des Angeklagten von Schirach und ändert auch nichts an der guten Absicht, die er gehabt hat.

Es konnte ihm auch während des ganzen Prozesses nicht ein einziger Fall nachgewiesen werden, wo er gegen die Kirche gehetzt oder wo er religionsfeindliche Äußerungen gebraucht hätte. Er hat im Gegenteil in zahlreichen Kundgebungen, die im Dokumentenbuch von Schirach dem Gericht vorgelegt sind, nicht nur wiederholt den Vorwurf zurückgewiesen, die Hitler-Jugend sei kirchenfeindlich oder gottlos, sondern er hat auch positiv immer wieder den Führern und Mitgliedern der Hitler-Jugend eingeschärft, ihre Pflicht gegen Gott zu erfüllen; er dulde in der Jugend niemand, der nicht an Gott glaube; jeder wahrhafte Erzieher, so sagte er ihnen, müsse zugleich ein Erzieher zu religiösem Gefühl sein, das die Grundlage jeder erzieherischen Tätigkeit sei; HJ-Dienst und religiöse Überzeugung könnten sehr wohl miteinander verbunden werden und nebeneinander bestehen; der Hitler-Jugend-Führer dürfe in seine Gefolgschaft keinerlei Gewissenskonflikte hineintragen. Für religiöse Übungen, für Exerzitien und dergleichen sei den HJ-Angehörigen Urlaub vom Dienst zu gewähren. Dies der Standpunkt von Schirachs.

Wer solche Anweisungen an seine Unterführer gibt und immer wieder aufs neue wiederholt, der kann für sich in Anspruch nehmen, [486] daß er nicht als Feind der Kirche und als Feind religiösen Lebens beurteilt wird. In dieser Beziehung ist übrigens interessant, was ein so zuverlässiger Beurteiler wie Nevile Henderson in seinem oft zitierten Buch »Failure of a Mission« über eine Rede schrieb, die er auf dem Reichsparteitag 1937 aus dem Munde Schirachs gehört hat und die Ihnen auszugsweise im Dokumentenbuch von Schirach vorliegt. Henderson, der als Botschafter in Berlin die deutschen Verhältnisse genau kannte, hatte offenbar erwartet, daß Baldur von Schirach auf dem Reichsparteitag gegen die Kirche sprechen und die Jugend in kirchenfeindlichen Sinn beeinflussen würde, wie man es von anderen Führern der Partei oft zu hören bekam.

Henderson schreibt nun – ich zitiere diese zwei Sätze wörtlich:

»An diesem Tag war es jedoch Schirachs Rede, die... mich am meisten beeindruckte, obwohl sie ganz kurz war... Ein Teil dieser Rede überraschte mich, als er, die Jungen anredend, sagte:

›Ich weiß nicht, ob Ihr Protestanten oder Katholiken seid, aber daß Ihr an Gott glaubt, das weiß ich.‹«

Und Henderson fügt bei:

»Ich hatte den Eindruck gehabt, daß alle Beziehungen zur Religion innerhalb der Hitler-Jugend abgeschafft würden, und dies schien mir diese Annahme zu widerlegen.« (Beweisstück Schirach 83.)

Wie Schirach wirklich in religiöser Hinsicht dachte und in welchem Sinn er auf die Jugend einwirkte, das beweist nicht nur sein Ausspruch, den er gelegentlich einmal auf der Ordensburg Sonthofen in einer Rede an die Erzieher der Adolf-Hitler-Schulen tat, daß Christus die größte Führerpersönlichkeit der Weltgeschichte sei, sondern in gleicher Weise auch das Ihnen vorgelegte und als Beweisstück verwertete Büchlein mit dem Titel »Weihnachtsgabe des Kriegsbetreuungsdienstes«; dieses Buch, das in großer Auflage ins Feld geschickt wurde, widmete Schirach den aus der Hitler-Jugend hervorgegangenen Frontsoldaten im Jahre 1944, also zu einer Zeit, wo der Radikalismus in Deutschland auf sämtlichen Gebieten nicht mehr zu übertreiben war.

Schirach bildete auch hier eine Ausnahme: Kein Hakenkreuz, kein Hitler-Bild, kein SA-Lied finden Sie in dem Buch des Reichsleiters von Schirach, sondern unter anderem ein ausgesprochen christliches Gedicht aus der eigenen Feder Schirachs, dann das Bild einer Madonna, daneben eine Reproduktion von van Gogh, der bekanntlich im Dritten Reich schärfstens verpönt war, und statt Hetzworten finden wir in dem Büchlein eine Mahnung zu christlichem Denken, und den Abdruck des Wessobrunner Gebets, bekanntlich des ältesten christlichen Gebets in deutscher Sprache.

[487] Bormann tobte damals, als er das Büchlein sah, aber Schirach blieb fest und lehnte es ab, das Büchlein zurückzuziehen oder irgendwie abzuändern.

Man hat nun dem Angeklagten von Schirach vorgeworfen, daß er doch einmal eine kirchenfeindliche Handlung vorgenommen und sich dadurch an der Kirchenverfolgung beteiligt habe: Aus einem Brief des Ministers Lammers vom 14. März 1941, Dokument R-146, ergibt sich nämlich, daß Schirach den Vorschlag gemacht hatte, beschlagnahmtes Vermögen den Gauen zu erhalten und nicht dem Reich zuzuführen; allein dieser Fall rechtfertigt es in keiner Weise, den Angeklagten von Schirach mit Kirchenverfolgung irgendwie in Zusammenhang zu bringen. In dem von der Anklagebehörde angeführten Fall handelt es sich überhaupt nicht um irgendwelches Kirchenvermögen, sondern um beschlagnahmtes Vermögen eines Fürsten Schwarzenberg in seinem Wiener Palais; die Angelegenheit hatte also von vornherein mit der Kirche nichts zu tun; das wird auch eindeutig bestätigt durch das Schreiben des Ministers Lammers vorn 14. März 1941, R-146, das ich eben erwähnt habe, der nur eine... ich zitiere wörtlich den Satz, der nur eine »Einziehung von volks- und staatsfeindlichem Vermögen« erwähnt, während die weitergehende persönliche Absicht Bormanns erkennbar wird und dessen – Bormanns – kirchenfeindliche Tendenz verrät, wenn Bormann in seinem auf diesen Fall bezüglichen Begleitschreiben vom 20. März 1941 von »Kirchengütern, Klosterbesitz und dergl.« spricht.

Die Beschlagnahme des Vermögens des Fürsten Schwarzenberg war übrigens auch nicht etwa durch Schirach veranlaßt oder ausgesprochen oder durchgeführt worden. Sie ging an sich Schirach nichts an. Schirach hat sich aber im Einvernehmen mit den anderen Gauleitern der Ostmark und auf deren Ersuchen damals an Hitler persönlich gewandt und ihn gebeten, daß solche beschlagnahmte Vermögen nicht ins Reich verbracht und nicht zugunsten des Reiches verwertet werden sollten, sondern daß es in Wien zu verbleiben habe. Mit diesem Vorschlag hatte Schirach vollen Erfolg, Schirach hat seine... Hitler hatte seine Bitte genehmigt, und damit hat Schirach erreicht, daß bei späterer Wiederaufhebung der Beschlagnahme das Vermögen wieder seinem rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben werden konnte, während es sonst für ihn verloren gewesen wäre. Schirach hat sich damit zweifellos ein Verdienst um den Gau Wien und um jene Person erworben, welche das Eigentum an dem beschlagnahmten Vermögen besaß. Dieser Fall kann also den Angeklagten Schirach nicht belasten, er spricht im Gegenteil zu seinen Gunsten, genau so wie der andere Fall, wo er sich unter Umgehung Bormanns für österreichische Klosterfrauen einsetzte und erreichte, daß durch einen direkten Befehl Hitlers die ganze Aktion der Beschlagnahme von Kirchen- und Klostergütern an einem Tag im ganzen Reich zur Einstellung gebracht wurde.

[488] Wenn aber die Anklagebehörde dem Beschuldigten von Schirach daraus einen Vorwurf machen will, daß die ihm unterstellten Wiener Behörden im Jahre 1941 eine Adolf-Hitler-Schule nach Klosterneuburg verlegen wollten, so muß demgegenüber darauf hingewiesen werden, daß schon vor der Beschlagnahmeaktion gegen dieses Kloster, vollkommen unabhängig von Schirach, die Wiener Polizei und verschiedene Wiener Gerichte erhebliche kriminelle Verfehlungen in diesem Kloster festgestellt hatten, ferner, daß die teilweise Beschlagnahme des Klosters dem Angeklagten Schirach durchaus gerechtfertigt erschien, weil die sehr großen Räume des Stiftes für die klösterlichen Zwecke nicht benötigt wurden.

Endlich ist auch darauf hinzuweisen, daß das Kloster, wie sich aus den vorgelegten Akten ergibt, gegen den Beschlagnahmebeschluß keine Beschwerde bei dem Reichsminister des Innern einlegte, also die Beschlagnahme damit als rechtmäßig anerkannte, obwohl es im Beschlagnahmebeschluß über die Möglichkeit einer Beschwerde ausdrücklich belehrt worden war. Übrigens wurden dann die beschlagnahmten Räume in der Folgezeit nicht zur Einrichtung einer Adolf-Hitler-Schule verwendet, sondern für Zwecke des kunsthistorischen Museums von Wien (also keiner Parteieinrichtung) in Anspruch genommen, was auch wieder dafür spricht, daß der Beschlagnahmebeschluß in keiner Weise durch eine klosterfeindliche Tendenz Schirachs ausgelöst worden war. Denn wenn es Schirach darauf angekommen wäre, das Kloster zu treffen, weil es eine kirchliche Einrichtung war, dann hätte er die für religiöse Kulthandlungen dienenden Räume auch in die Beschlagnahme einbezogen. Er hat aber diese Räume ausdrücklich von ihr ausgenommen.

Es muß übrigens bei der Würdigung dieses Falles auch beachtet werden, daß die Begründung des Beschlagnahmebeschlusses vom 22. Februar 1941 eine bemerkenswerte Zurückhaltung übte: Der Beschluß beschränkt sich darauf, die Beschlagnahme damit zu begründen, daß einerseits die Stadt Wien dringend Räume benötige, und daß andererseits die beschlagnahmten Räume für die Zwecke des Klosters überflüssig seien; mit keinem Wort wird erwähnt oder auch nur angedeutet, daß in dem Kloster kriminelle Verfehlungen vorgekommen seien, wie sie in dem Polizeibericht vom 23. Januar 1941 gemeldet worden waren, der Ihnen, dem Gericht, vorliegt. Wäre die Beschlagnahme aus einer kirchenfeindlichen Einstellung Schirachs heraus erfolgt, so wäre wohl anzunehmen, daß in der Begründung der Beschlagnahme auch irgendwie auf diese kriminellen Verfehlungen Bezug genommen worden wäre. Auf Veranlassung Schirachs wurde übrigens den geistlichen Herren, die einige der beschlagnahmten Räume benutzt hatten, hierfür eine monatliche Rente bezahlt, wofür an sich keinerlei staatliche Verpflichtung bestand.

[489] Auch aus dem sonstigen Verhalten des Angeklagten von Schirach ergibt sich keinerlei kirchenfeindliche Haltung, namentlich wenn man bei der Würdigung dieses Verhaltens berücksichtigt, daß in jenen Jahren auch ein Reichsleiter unter starkem Druck seitens der Parteikanzlei und seitens Bormanns stand, und daß zu jener Zeit ein erhebliches Maß von Mut dazu gehörte, diesem Druck Widerstand zu leisten und eine Politik zu pflegen, die im Gegensatz zur offiziellen Berliner Politik stand.

Der Wiener Zeuge Wieshofer, welcher die Tätigkeit Schirachs zu beobachten Gelegenheit hatte, hat uns hier bestätigt, daß Schirach sich auch in Wien immer um die Herstellung eines korrekten Verhältnisses zur Kirche bemühte, für Beschwerden des Kardinals von Wien immer ein offenes Ohr hatte und gegen Ausschreitungen einzelner HJ-Angehöriger oder HJ-Führer scharf einschritt. Er verfolgte also in Wien eine ganz andere Kirchenpolitik als sein radikaler Vorgänger Bürckel sie beliebt hatte, und es kann nicht bezweifelt werden, daß die kirchlichen Kreise in Wien und die ganze Wiener Bevölkerung diese Haltung Schirachs gegenüber der katholischen Kirche dankbar anerkannte. Das wird auch bestätigt durch den hier vernommenen Zeugen Gustav Höpken, der mit einem Wiener Theologen, dem Dekan Professor Ens, im Auftrag Schirachs regelmäßige Besprechungen hatte, um kirchliche Wünsche und eingetretene Differenzen mit kirchlichen Stellen dem Angeklagten von Schirach zur Kenntnis bringen zu können. Mehr konnte Schirach unter den obwaltenden politischen Umständen, wie sie auch im Affidavit Maria Höpken, Dokumentenbuch Schirach Nummer 3, geschildert sind, nicht tun, wenn er sich nicht selbst in größte Gefahr bringen wollte.

Ich komme dann zu einem weiteren Punkt der Anklage, zur Frage der Konzentrationslager.

Die Anklage hat zwar nicht in der Anklageschrift, wohl aber in der Beweiserhebung den Angeklagten von Schirach auch mit Konzentrationslagern in Verbindung gebracht, und der hier vernommene Zeuge Alois Höllriegel wurde auf dem Zeugenstand darüber befragt, ob Schirach einmal im Konzentrationslager Mauthausen gewesen sei. Hierzu ist zu bemerken: Diesen seinen Besuch in Mauthausen hat der Angeklagte von Schirach schon in seiner eigenen Vernehmung durch die Amerikanische Anklagevertretung längst vor Beginn des Prozesses erwähnt gehabt; es wäre also gar nicht nötig gewesen, ihm diesen Besuch noch besonders durch den Zeugen Höllriegel zu beweisen. Sein Besuch im Konzentrationslager Mauthausen fand im Jahre 1942 statt, nicht 1944, wie der Zeuge Marsalek irrigerweise angab; das richtige Jahr 1942 wurde von dem Zeugen Höllriegel bestätigt und in gleicher Weise auch von den Zeugen Höpken und Wieshofer, von denen wir gehört haben, daß später als 1942 oder zu irgendeiner anderen Zeit Schirach kein Konzentrationslager [490] mehr besuchte. Der Besuch in Mauthausen von 1942 kann aber den Angeklagten Schirach nicht in dem Sinne belasten, als ob er damit alle Zustände und Greueltaten in KZ-Lagern gekannt, gebilligt oder gar unterstützt hätte. Er hat 1942 in Mauthausen nichts gesehen, was auf solche Verbrechen hingewiesen hätte, Gasöfen und dergleichen hat es 1942 noch nicht gegeben. Massenhinrichtungen fanden damals in Mauthausen noch nicht statt. Die Angaben des Angeklagten von Schirach über seine Eindrücke in diesem Lager erscheinen ohne weiteres glaubhaft, weil die Bekundungen zahlreicher Zeugen, die im Rahmen dieses Prozesses gehört wurden, immer wieder bestätigten, daß bei solchen offiziellen Besuchen, die vorher angekündigt waren, sorgfältig alles vorbereitet gewesen ist, um den Besuchern nur das zu zeigen, was das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen brauchte. Mißhandlungen und Folterungen wurden bei solchen offiziellen Besuchen selbstverständlich genau so verheimlicht wie willkürliche Hinrichtungen oder grausame Experimente. So war es 1942 in Mauthausen, und so war es erst recht 1935 in Dachau, wo Schirach und die anderen Besucher nur geordnete Zustände zu sehen bekamen, Zustände, die bei oberflächlicher Betrachtung fast besser zu sein schienen als in manchen gewöhnlichen Gefängnissen.

Gewußt hat infolgedessen Schirach nur, daß es in Deutschland seit 1933 einige Konzentrationslager gab, in denen nach seiner Meinung unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher und politische Häftlinge untergebracht wurden. Schirach kann aber auch heute nicht glauben, daß die bloße Kenntnis über die Existenz von KZ-Lagern für sich allein bereits ein strafbares Verbrechen sei, nachdem er niemals irgend etwas zur Förderung der KZ-Lager getan, sich niemals für eine Billigung dieser Einrichtung ausgesprochen, niemanden ins Konzentrationslager gebracht hat, aber auch keine Möglichkeit besessen hätte, an dieser Einrichtung etwas zu ändern oder den Bestand von Konzentrationslagern zu verhindern. Dazu war der Einfluß Schirachs stets zu gering. Als Reichsjugendführer hatte er natürlich mit den KZ-Lagern von vornherein nichts zu tun, und es war ein Glück für Schirach, daß sich in seinem ganzen Gaubezirk Wien kein einziges KZ-Lager befunden hat. Seine ganzen Beziehungen zu KZ-Lagern beschränkten sich infolgedessen darauf, immer wieder sich um die Freilassung von Leuten aus den KZ-Lagern zu bemühen, und es ist ja auch bezeichnend, daß er auch seine einmalige Anwesenheit im Konzentrationslager Mauthausen dazu benützte, sich für Wiener Bürger, die in Mauthausen eingesperrt waren, einzusetzen und ihre Freilassung zu erreichen.

Meine Herren Richter! Auf viele Details, die in der Beweisführung des Falles Schirach eine größere oder kleinere Rolle gespielt haben, will ich hier im einzelnen nicht mehr eingehen. Im Interesse [491] der Zeitersparnis werde ich mich daher nicht mehr näher beschäftigen mit seiner angeblichen Verbindung zu Rosenberg oder Streicher, auch nicht mehr mit seiner angeblichen Mitwirkung bei dem Sklavenarbeitsprogramm, für das dem Angeklagten Schirach nicht die geringste Mittätigkeit nachgewiesen werden konnte, ebensowenig mit einem Telephongespräch, das von der Anklagevertretung verwertet wurde und das irgendeiner der Wiener Beamten mit einem SS-Standartenführer über die Pflichtarbeit der Juden geführt haben soll und wovon Schirach überhaupt nichts wußte.

Ich will aber hier eine kurze Zwischenbemerkung machen zu einem Thema, das insbesondere im Zusammenhang mit dem Fall Rosenberg behandelt wurde, nämlich eine kurze Stellungnahme zu der sogenannten »Heu-Aktion«. Es ist das bekanntlich diejenige Aktion, durch die Tausende von Jugendlichen im östlichen Kampfgebiet gesammelt und teils nach Polen, teils nach Deutschland gebracht wurden. Diese Aktion verfolgte, soweit Schirach aus den hier vorgelegten Dokumenten entnehmen konnte, anscheinend das Hauptziel, die Jugendlichen, die im Operationsgebiet, also unmittelbar hinter der Front ohne Eltern umherirrten, zu sammeln und einer Beschäftigung und Berufsausbildung zuzuführen, damit sie vor körperlicher und sittlicher Verwahrlosung geschützt wurden. Der Angeklagte Schirach bezweifelt, ob das überhaupt unter dem Gesichtspunkt eines Verbrechens gegen die Humanität oder eines Kriegsverbrechens gewürdigt werden kann; aber feststeht, daß von dieser Angelegenheit der Angeklagte Schirach nichts wußte. Er war damals hierfür nicht zuständig, diese Angelegenheit wurde vielmehr von der Heeresgruppe Mitte zusammen mit dem Ostministerium behandelt, und es ist ja ohne weiteres glaubhaft, daß sowohl das Ostministerium wie auch die Heeresgruppe Mitte sich nicht an den Gauleiter von Wien gewandt haben, um sein Einverständnis mit dieser Aktion einzuholen oder auch nur um ihn zu verständigen. Das einzige, was längere Zeit später in dieser Richtung der Angeklagte Schirach erfahren hat und was vielleicht mit dieser »Heu-Aktion« zusammenhängt, ist eine gelegentliche Mitteilung des damaligen Reichsjugendführers Axmann, er habe soundso viele tausend Jugendliche in Dessau bei den Junkers-Werken als Lehrlinge untergebracht. Der Angeklagte Schirach hat auf die Klärung dieser Sachlage Wert gelegt, nachdem er früher Reichsjugendführer gewesen war und weil er dartun möchte, daß er auch nach dem Abgang aus diesem Amt selbstverständlich nichts gegen die Jugend gemacht hat.

Ich darf vielleicht noch eine weitere Zwischenbemerkung machen, nämlich über das Schreiben, das der Angeklagte Schirach seinerzeit von Wien aus nach der Ermordung Heydrichs an den Reichsleiter Bormann geschickt hat und worin er dem Reichsleiter Bormann eine Vergeltungsmaßnahme in [492] Form eines Terrorangriffes auf eine englische Kulturstätte vorgeschlagen hat. Dieses Schreiben hat der Angeklagte damals tatsächlich an Bormann geschickt, er tritt auch dafür ein, und ich muß von vornherein darauf hinweisen, daß glücklicherweise es bei der Anregung geblieben ist und daß seine Anregung nicht durchgeführt worden ist. Der Angeklagte hat uns aber erzählt, er habe damals unter dem Eindruck des Attentats auf Heydrich gestanden, es sei ihm klar gewesen, daß ein Aufstand der Bevölkerung in Böhmen zu einer Katastrophe für das deutsche Heer in Rußland hätte werden können, und er hat in seiner Eigenschaft als Gauleiter von Wien es für seine Pflicht gehalten, irgend etwas zu tun, um den Rücken der deutschen Armee, die in Rußland stand, zu decken. So erklärt sich dieses Fernschreiben an Bormann vom Jahre 1942, Dokument 3877-PS, das, wie ich bereits betont habe, glücklicherweise ohne Erfolg war.

Ich darf dann, meine Herren Richter, auf Seite 26 meines Exposés in der Mitte fortfahren. Ich will mich hier auch im einzelnen nicht beschäftigen mit den Adolf-Hitler-Schulen, die von Schirach gegründet wurden, auch nicht mit der Fünften Kolonne, die irgendwie, auch zu Unrecht, in Verbindung mit der Hitler-Jugend gebracht wird, ohne daß irgend etwas Bestimmtes dem Angeklagten nachgewiesen werden konnte. Ich werde auch nicht länger verweilen bei den wiederholten Friedensbemühungen des Angeklagten Schirach und seines Freundes Dr. Colin Ross, und ebensowenig bei den Verdiensten des Angeklagten um die sogenannte Kinderlandverschickung, die während des Krieges Millionen von Kindern aus bombengefährdeten Gegenden in ruhigere Gebiete brachte und ihnen dadurch Leben und Gesundheit rettete.

Über alle diese Angelegenheiten hat sich der Angeklagte von Schirach bereits persönlich eingehend ausgesprochen, ich möchte hierwegen auf seine eigenen Erklärungen verweisen und bitte, diese Ihrem Urteil zugrunde zu legen.

Ich will aber hier als Verteidiger des Angeklagten von Schirach noch auf ein einziges Problem ausführlicher eingehen, nämlich auf Schirachs Stellung und Haltung zur Judenfrage. Schirach hat hier auf dem Zeugenstand bekannt, daß er von frühester Jugend an überzeugter Nationalsozialist und damit auch Antisemit gewesen sei. Er hat uns auch klargelegt, was er in jenen jungen Jahren sich unter Antisemitismus vorgestellt habe: Er dachte an die Ausschließung der Juden aus dem Staatsdienst, an die Einschränkung des jüdischen Einflusses im Kulturleben und vielleicht auch bis zu einem gewissen Grad im Wirtschaftsleben. Das war aber auch alles, was nach seiner Meinung gegen die Juden unternommen werden sollte, und es deckte sich dies mit dem Vorschlag, den er schon als Führer des Studentenbundes, also in sehr früher Zeit, auf Einführung eines numerus [493] clausus in der Studentenschaft gemacht hat. Von Bedeutung für die Einstellung des Angeklagten ist auch zum Beispiel sein Erlaß über die Behandlung der jüdischen Jugend, den ich mit Dokumentenbuch Schirach Nummer 136 Ihnen vorgelegt habe, ein Erlaß, wo er ausdrücklich anordnete, daß die jüdischen Jugendverbände das Recht und die Möglichkeit haben sollten, sich in ihrem Rahmen frei zu betätigen; sie sollten in ihrem eigenen Leben, heißt es, nicht gestört werden.

»In der Jugend nimmt das Judentum schon heute jene abgeschlossene und in sich ungebundene Sonderstellung ein, die einmal das ganze Judentum im deutschen Staate und in der deutschen Wirtschaft erhalten wird.«

So wörtlich das Zitat aus dem angeführten Erlaß. Schirach dachte also offensichtlich überhaupt nicht an Pogrome, nicht an blutige Judenverfolgung und dergleichen; er glaubte vielmehr zunächst, daß durch die antijüdischen gesetzlichen Maßnahmen der Jahre 1933/1934 die antisemitische Bewegung bereits an ihrem Ziel angelangt sei, den jüdischen Einfluß, soweit er ihm ungesund erschien, glaubte er damit bereits beseitigt. Er war deshalb überrascht und schwer betroffen, als dann 1935 die Nürnberger Gesetze erlassen wurden, die eine vollständige Ächtung der jüdischen Bevölkerung aussprachen und mit barbarischer Härte zur Durchführung brachten. An der Planung dieser Gesetze hat Schirach in keiner Weise teilgenommen; er hat mit ihrem Inhalt und mit ihrer Formulierung nicht das geringste zu tun; das wurde hier bewiesen.

Seine Empörung, als er dann am 10. November 1938 von den Judenpogromen und rohen Exzessen hörte, die von Goebbels und seiner fanatischen Clique inszeniert wurden, ist in der ganzen Jugend bekanntgeworden. Auch das ist durch die Beweiserhebung dargebracht worden. Wir haben von dem Zeugen Lauterbacher vernommen, wie Schirach auf die Mitteilung von diesen Exzessen reagierte: Er hat sofort seine Mitarbeiter zusammengerufen und ihnen schärfste Weisung gegeben, daß die Hitler-Jugend aus solchen Aktionen unter allen Umständen herausgehalten werden müsse. In diesem Sinn ließ er auch die Führer der Hitler-Jugend in sämtlichen deutschen Städten telephonisch sofort verständigen, und er drohte jedem Unterführer an, daß er ihn persönlich zur Verantwortung ziehen werde, wenn bei der Hitler-Jugend irgendwelche Ausschreitungen vorkommen sollten.

Aber auch nach November 1938 hat Schirach nie mals an die Möglichkeit geglaubt, daß Hitler die Ausrottung der Juden plane. Er hörte vielmehr immer nur davon, daß die Juden aus Deutschland und in andere Staaten evakuiert, daß sie nach Polen abtransportiert, daß sie dort schlimmstenfalls in Ghettos, wahrscheinlich aber in einem geschlossenen Siedlungsgebiet angesiedelt werden [494] sollten. Als Schirach von Hitler im Jahre 1940 den Befehl erhielt, den Gau Wien zu übernehmen, hat auch Hitler selbst ihm gegenüber sich in dem nämlichen Sinn ausgesprochen, nämlich dahin, er, Hitler, werde die Juden von Wien ins Generalgouvernement bringen lassen, und Schirach hat auch heute noch keinen Zweifel, daß Hitler selbst damals, im Jahre 1940, noch nicht an die sogenannte »Endlösung« der Judenfrage, also an die Ausrottung der Juden dachte. Wir erkennen aus den Hoßbach-Notizen und anderen Beweismitteln dieses Prozesses, daß Hitler zwar bereits 1937 die Aussiedlung der Juden, und zwar anscheinend nach Polen plante, aber erst im Jahre 1941 oder 1942 die Ausrottung des jüdischen Volkes beschlossen hat.

Mit der Judenevakuierung aus Wien, mit der der Angeklagte von der Staatsanwaltschaft in Zusammenhang gebracht wurde, hatte Schirach überhaupt nichts zu tun. Die Durchführung dieser Maßnahme lag vielmehr ausschließlich in den Händen des Reichssicherheitshauptamtes und der Wiener Dienststelle dieses Amtes, und es ist bekannt, daß der Wiener SS-Sturmführer Brunner hiewegen in der Zwischenzeit auch bereits zum Tode verurteilt wurde. Der einzige Auftrag, den Schirach hinsichtlich der Wiener Juden erhielt und ausführte, ging lediglich dahin, an Hitler 1940 zu berichten, wie viele Juden noch in Wien seien, und diesen Bericht gab er in einem Schreiben vom Dezember 1940, worin er die Zahl der Wiener Juden für 1940 mit 60000 angab. Auf dieses Schreiben des Angeklagten Schirach hat bekanntlich der Minister Lammers mit einem Brief vom 3. Dezember 1940, 1950-PS, geantwortet, aus dem sich mit aller Deutlichkeit ergibt, daß nicht Schirach es war, der die Abschiebung der Wiener Juden ins Generalgouvernement anordnete, sondern Hitler persönlich, und daß Schirach auch nicht derjenige gewesen ist, der diese Maßnahmen durchgeführt hat, sondern der Reichsführer-SS Himmler, der damit seine Wiener Dienststelle betraute. Es muß also mit aller Entschiedenheit hier festgestellt werden, daß Schirach in keiner Weise für die Judenverschickung aus Wien irgendwie verantwortlich ist; er hat diese Aktion nicht betrieben und nicht eingeleitet; als er im Sommer 1940 als Gauleiter nach Wien kam, war der größere Teil der Wiener Juden bereits freiwillig aus Wien abgewandert oder zwangsweise aus Wien evakuiert, was übrigens auch von dem Angeklagten Seyß-Inquart bestätigt wurde. Der Rest von zirka 60000 Juden, der zu Beginn der Wiener Zeit Schirachs noch dort war, ist ohne seine Mitwirkung und ohne seine Verantwortung von dort durch die SS abtransportiert worden.

Trotzdem hat Schirach die bekannte Wiener Rede vom September 1942 gehalten, 3048-PS, in welcher er ausführte, jeder Jude, der in Europa wirke, sei eine Gefahr für die europäische Kultur, und worin er weiter sagte, wenn man ihm nun den Vorwurf machen[495] solle, daß er aus dieser Stadt – Wien –, die einst die Metropole des Judentums gewesen sei, Zehntausende und aber Zehntausende von Juden ins östliche Ghetto abgeschoben habe, dann müsse er antworten, er sehe darin einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur.

Soweit die in Betracht kommende Stelle. Schirach hat hier offen und mannhaft eingestanden, daß er sich damals in diesem Sinne tatsächlich geäußert hat, und er hat reumütig hier erklärt, ich zitiere wörtlich:

»Ich kann dieses böse Wort nicht ungeschehen machen, ich muß dafür einstehen, ich habe dieses Wort gesprochen, das ich aufrichtig bedauere.«

Wenn das Gericht in diesen Worten ein gesetzlich strafbares Verbrechen gegen die Humanität erblicken sollte, so muß Schirach für diese einzige antisemitische Äußerung, die ihm je nachgewiesen werden konnte, die Sühne auf sich nehmen, obwohl es seinerseits bei den bloßen Worten geblieben ist und obwohl diese Worte keinerlei schädliche Wirkung gehabt haben. Aber dieser Standpunkt Schirachs, den er hier einnimmt, befreit das Gericht nicht von der Verpflichtung, gewissenhaft nachzuprüfen, was Schirach tatsächlich getan hat, ferner wie er zu dieser vereinzelten Äußerung kam und endlich, ob Schirach auch sonst gehässige Ausdrücke gegen die Juden machte oder irgendwelche feindselige Handlungen gegen das Judentum tätigte.

Zunächst die Frage: Was hat Schirach wirklich getan? Die Antwort hierauf kann auf Grund der Ergebnisse dieses Prozesses nur lauten: Wenn man davon absieht, daß er diese vereinzelte judenfeindliche Bemerkung seiner Wiener Rede im September 1942 machte, hat er überhaupt nichts gegen die Juden verbrochen. Für die Judendeportationen aus Wien war er nicht zuständig, er hat sich in keiner Weise daran beteiligt, und er hätte sie mit seinen schwachen Kräften auch keinesfalls verhindern können. Es ist schon so, wie die Anklage gelegentlich sich geäußert hat. Er hat prahlerisch sich damals eine Tat zugeschrieben, die er in Wirklichkeit niemals begangen hat und die er nach seiner ganzen Einstellung auch niemals begehen konnte.

Wie kam nun aber trotzdem Schirach zu dieser Äußerung in seiner Wiener Rede? Wie kam er dazu, eine Tat für sich in Anspruch zu nehmen und sich selbst einer Handlung zu beschuldigen, die er offenbar gar nicht verübt hatte? Auch hier ergibt sich die Antwort aus den Ergebnissen der Beweisaufnahme unseres Prozesses. Durch sie wissen wir, daß Schirach in Wien einen außerordentlich schweren Standpunkt hatte. Hitler hatte ihn als Reichsjugendführer ohne Angabe eines Grundes abgesetzt, anscheinend weil er ihm nicht mehr traute, er fürchtete von Jahr zu Jahr mehr, [496] daß hinter Schirach die Jugend stehen werde, die ihm, Hitler, in eben dem Maße fremder wurde, je mehr die schwarze Mauer seiner SS ihn vom Volk trennte. Vielleicht sah Hitler in seinem Jugendführer die kommende Generation verkörpert, die weltweit dachte, human empfand und sich zunehmend an jene Moralbegriffe gebunden fühlte, die Hitler für sich und seine Staatsführung längst über Bord geworfen hatte, weil sie für ihn schon lange nicht mehr Begriffe wahrer Moral waren, sondern nur Schlagworte einer hohlen Propaganda. Dieses Gefühl Hitlers war vielleicht der tiefere Grund, warum er im Sommer 1940 Schirach plötzlich, ohne jedes Wort der Aufklärung, als Jugendführer absetzte und auf den besonders schwierigen Posten eines Gauleiters nach Wien sandte, in diejenige Stadt, die Hitlers Herz haßte, während sein Mund von der »österreichischen Heimat« sprach. In Wien war Schirachs Stellung unendlich schwierig. Man überwachte und bespitzelte ihn auf Schritt und Tritt; man übte immer wieder schärfste Kritik an seiner dortigen Verwaltungstätigkeit, man machte ihm Vorwürfe, daß er sich um die Partei in Wien so gut wie überhaupt nicht kümmere, daß man ihn dort fast nie in Parteiversammlungen sehe und keine politische Rede von ihm höre. Ich verweise hier auf das Affidavit Maria Höpken im Dokumentenbuch Schirach Nummer 3; gerne griff man jede Beschwerde auf, die von den Wiener Parteigenossen immer wieder über ihren neuen Gauleiter an die Parteikanzlei nach Berlin gelangte, und nur so kam es, nur so ist es erklärlich, daß Schirach die unglückliche Rede vom September 1942 hielt, die im diametralen Gegensatz zu der Haltung stand, die Schirach zeit seines Lebens auch in der Judenfrage einnahm. Über diese Art der Entstehung der Wiener Rede kann nach der Vernehmung des Zeugen Gustav Höpken hier im Sitzungssaal kein Zweifel mehr bestehen; denn aus ihr ergibt sich, daß Schirach damals seinen Pressereferenten Günther Kaufmann eigens beauftragt hat bei dem Bericht über die Wiener Rede, diesen Punkt besonders an das Deutsche Nachrichtenbüro nach Berlin durchzutelephonieren, weil er, Schirach –, ich zitiere wörtlich – »eine Konzession an Bormann in diesem Punkt machen müsse«, also ein Gedanke, den auch schon Schirach selbst bei seiner eigenen Vernehmung mit den Worten andeutete, er habe aus falscher Loyalität sich mit dieser Aktion Hitlers und Himmlers moralisch identifiziert.

Diese böse Rede Schirachs vom September 1942 ist aber immerhin in einer anderen Richtung doch auch wieder wertvoll zugunsten Schirachs; in ihr spricht nämlich Schirach von einer »Verschickung der Juden in Ghettos des Ostens«. Hätte Schirach damals gewußt, daß die Juden aus Wien abtransportiert werden, um in einem Vernichtungslager ermordet zu werden, so hätte er gerade angesichts dieses Zweckes, den er mit dieser Rede verfolgte, zweifellos nicht von einem östlichen Ghetto gesprochen, in das die Juden gebracht [497] worden seien, sondern er hätte über eine Ausrottung der Wiener Juden berichtet. Aber auch damals, also noch im Herbst 1942, kam ihm nicht der Schatten eines Gedankens, daß Hitler die Juden ermorden wolle. Das hätte er niemals gebilligt und niemals anerkannt; soweit ist sein Antisemitismus nie, in keiner Zeit, gegangen.

Schirach hat hier ganz offen ausgesprochen, daß er damals den Plan Hitlers, die Juden in Polen anzusiedeln, für richtig hielt, nicht etwa aus Antisemitismus, nicht aus Judenhaß, sondern aus der verstandesmäßigen Erwägung heraus, daß es unter den damaligen Verhältnissen wohl vielleicht im eigenen Interesse der Juden lag, aus Wien wegzukommen, um nach Polen gebracht zu werden. Denn auf die Dauer hätten die Juden, solange das Hitler-Regime bestand, sich ja doch nicht mehr in Wien halten können, sondern wären dort nur immer noch schärferen Verfolgungen ausgesetzt gewesen. Wie Schirach hier am 24. Mai 1946 darlegte, erschien es ihm – ich zitiere wörtlich – »bei dem Temperament von Goebbels« möglich, daß immer wieder derartige Aktionen, wie im November 1938, über Nacht hervorgerufen werden könnten, und in diesem Zustand der Rechtsunsicherheit konnte er sich ein Weiterleben der jüdischen Bevölkerung in Deutschland nicht vorstellen. Er dachte, daß das Judentum in einem geschlossenen Siedlungsgebiet des Generalgouvernements besser aufgehoben sei als in Deutschland und Österreich, wo es den Launen des Propagandaministers ausgesetzt war, der ja der Hauptträger des radikalen Antisemitismus in Deutschland gewesen ist. Darüber war sich Schirach vollkommen klar. Er konnte sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß offensichtlich im Dritten Reich der Kurs gegen die Juden von Tag zu Tag noch radikaler, noch fanatischer und immer noch gewaltsamer würde.

Diese Auffassung der Wiener Rede vom September 1942 und ihrer wahren Entstehungsursache deckt sich mit den Ausführungen, die der Angeklagte Schirach in der Sitzung der Ratsherren der Stadt Wien vom 6. Juni 1942 machte, Nummer 3886-PS, nämlich dahin, daß noch im Spätsommer oder Herbst des Jahres 1942 alle Juden aus der Stadt entfernt sein würden, und sie deckt sich ebenso mit dem Aktenvermerk des Reichsleiters Bormann vom 2. Oktober 1940 – Dokument USSR-172 –, wonach Schirach bei einer Unterhaltung in der Wohnung Hitlers bemerkte, er habe in Wien noch über 50000 Juden, die der Generalgouverneur von Polen ihm abnehmen müsse. Diese Bemerkung erklärt sich aus der damaligen Zwangslage, in der sich Schirach befand. Auf der einen Seite drängte Hitler mehr und mehr auf die Abschiebung der Juden aus Wien, auf der anderen Seite sträubte sich der Generalgouverneur Frank dagegen, die Wiener Juden auch noch im Generalgouvernement aufzunehmen. Dieser Zwiespalt war offenbar der Grund, warum bei der erwähnten Zusammenkunft vom 2. Oktober 1940[498] Schirach diesen Punkt zur Sprache brachte, um nicht immer wieder Vorwürfen seitens Hitlers ausgesetzt zu sein. Er selbst hatte am Abtransport der Wiener Juden keinerlei Interesse, wie auch das vom Zeugen Gustav Höpken hier bekundete Gespräch zwischen Schirach und Himmler vom November 1943 beweist.

Ich darf hier einschalten zu diesem Gespräch: In diesem Gespräch mit Himmler hat damals Schirach den Standpunkt vertreten, man solle die Juden ruhig in Wien belassen, zumal sie ja den Davidstern trugen. Das ist als Gesprächsinhalt, als Äußerung Schirachs von dem Zeugen Höpken hier bestätigt worden.

Ich darf dann weiterfahren: Hitler verlangte aber die Judenverschickung aus Wien, und Himmler bestand auf der Durchführung.

Die Anklagebehörde hat nun geglaubt, dem Angeklagten Schirach noch eine zweite judenfeindliche Äußerung vorwerfen zu können, nämlich eine Rede, die er Ende 1938, aber vor dem Frühjahr 1939 auf einer Studentenversammlung in Heidelberg gehalten haben soll. Er habe damals über den Neckarfluß auf die alte Universitätsstadt Heidelberg gezeigt, wo verschiedene ausgebrannte Synagogen die stummen Zeugen der judenfeindlichen Tätigkeit der Heidelberger Studenten gewesen seien, und – ich zitiere hier wörtlich aus dem Affidavit Ziemers – »der kleine dickliche Reichsstudentenführer«, so heißt es wörtlich, soll damit die Judenpogrome vom 9. November 1938 als Heldentat gebilligt und gepriesen haben. Dieser Vorwurf stützt sich, wie bereits erwähnt, auf die eidesstattliche Versicherung eines gewissen Gregor Ziemer, die Ihnen vorgelegt worden ist (2441-PS). Es kann jedoch keinem Zweifel unterliegen, daß diese Behauptung Ziemers falsch ist. Ziemer hat niemals der deutschen Studentenbewegung oder der Hitler-Jugend angehört und war offensichtlich in der fraglichen Studentenversammlung nicht anwesend. Aus welcher Quelle er sein Wissen haben will, ist in seinem Affidavit nicht angegeben; daß aber seine Behauptung falsch ist, beweist schon seine körperliche Schilderung, wenn er von einem »kleinen dicklichen Studentenführer« spricht, denn sie paßt ganz und gar nicht auf Schirach; vielleicht würde sie einigermaßen auf seinen Nachfolger zutreffen, der Ende 1938 Reichsstudentenführer war, aber Schirach war das bestimmt nicht. Er hatte das Amt des Reichsstudentenführers bekanntlich schon 1934 in die Hände des Stellvertreters des Führers zurückgelegt gehabt, nachdem er inzwischen zum Reichsjugendführer bestellt worden war. Schirach hat weder Ende 1938 noch sonst jemals eine Rede vor Heidelberger Studenten gehalten, und durch das Affidavit der Zeugin Höpken ist einwandfrei erwiesen, daß Schirach in der angegebenen Zeit überhaupt nicht in Heidelberg war. Das hat auch Schirach selbst beschworen, und seine eigene Angabe kann deshalb [499] Glaubwürdigkeit für sich in Anspruch nehmen, weil er bei seiner ganzen Vernehmung nichts beschönigt, nichts zu Unrecht abgeleugnet hat, sondern mannhaft und mit Wahrheitsliebe für alle seine Handlungen eingetreten ist.

Ausschlaggebend für die Feststellung, daß die Behauptung des Affidavits Ziemer unwahr ist, jedenfalls hinsichtlich dar Person Schirachs, ist aber noch eine andere Tatsache. Zufällig wurde nämlich in der Beweiserhebung festgestellt, wie Schirach auf die November-Pogrome des Jahres 1938 reagiert hat. Der Zeuge Lauterbacher hat uns hier, wie bereits an anderer Stelle erwähnt wurde, berichtet, daß Schirach am 10. November 1938 vor seinen Mitarbeitern die Vorkommnisse des 9. November 1938 auf das schärfste verurteilt und sich dahin geäußert hat, er schäme sich deswegen für die anderen und für die ganze Partei. Der 9. November 1938, so sagt Schirach, würde in die deutsche Geschichte eingehen als eine einzige deutsche Kulturschande; diese könnten wir überhaupt nicht mehr abwaschen. So etwas hätte sich bei einem unzivilisierten Volk ereignen können, aber niemals bei uns Deutschen ereignen dürfen, die wir uns einbilden, ein hochstehendes Volk zu sein. Die Jugendführer, fuhr Schirach damals fort, müßten solche Ausschreitungen unter alten Umständen verhindern; von seiner Organisation möchte er so etwas weder jetzt noch in Zukunft hören. Die Hitler-Jugend müsse unter allen Umständen aus solchen Dingen herausgehalten werden. Soweit die beschworenen Angaben der Zeugin Höpken. Im gleichen Sinne hat dann nachher Schirach von Berlin aus sämtliche Dienststellen der Hitler-Jugend telephonisch anweisen lassen. Wenn nun im November 1938 Schirach die Ereignisse des 9. November 1938 so überaus scharf verurteilte und ablehnte, dann ist es ausgeschlossen, daß er etwa zur gleichen Zeit die vorgekommenen Bluttaten vor den Heidelberger Studenten gefeiert und damit die Heidelberger Studenten aufgehetzt hätte. Und so drängt sich die Frage auf, warum man keinen einzigen Teilnehmer jener Heidelberger Studentenversammlung hierher als Zeugen gebracht hat, sondern sich statt dessen mit einem Zeugen begnügte, der nur vom Hörensagen etwas behaupten kann. Im übrigen ist die Anklagevertretung im Kreuzverhör auf die Angelegenheit dieser angeblichen Heidelberger Rede nicht mehr zurückgekommen und hat die eigene Sachdarstellung Schirachs damit wohl als richtig anerkannt.

Es ist übrigens auch eine sehr bedeutsame Tatsache, daß die Hitler-Jugend selbst weder an den Ausschreitungen des 9. November 1938 beteiligt war, noch vorher oder später andere Exzesse dieser Art verübt hat. Die Hitler-Jugend war damals die stärkste Organisation der Partei, sie umfaßte etwa sieben bis acht Millionen Mitglieder, und trotzdem ist nicht ein einziger Fall nachgewiesen, [500] wo die Hitler-Jugend an solchen Verbrechen gegen die Humanität teilgenommen hätte, obwohl ihre Mitglieder vorwiegend in einem Alter standen, das erfahrungsgemäß nur zu leicht in Versuchung kommt, bei Ausschreitungen und Roheitsakten mitzumachen. Die einzige Ausnahme, die bisher behauptet wurde, bezieht sich auf die Aussage der Französin Ida Vasseau, die als Leiterin eines Altersheimes in Lemberg tätig sein soll und die ausweislich des Kommissionsberichtes USSR-6 behauptet haben soll: die Hitler-Jugend habe Kinder aus dem Ghetto in Lemberg geschenkt erhalten und als lebende Zielscheiben für ihre Übungen benutzt. Allein dieser einzige Ausnahmefall, der bisher behauptet, jedoch nicht bewiesen wurde, dieser einzige Ausnahmefall konnte in keiner Weise geklärt werden, insbesondere auch nicht nach der Richtung, ob es sich dabei wirklich um Jungens der Hitler-Jugend gehandelt hat. Selbst wenn aber unter den acht Millionen Mitgliedern in zehn oder fünfzehn langen Jahren ein einziger derartiger Fall vorgekommen wäre, so könnte das nicht das geringste beweisen für einen hetzerischen Einfluß, den Baldur von Schirach geübt hätte, der, wie ich hier beifügen darf, zu jener Zeit überhaupt nicht mehr Reichsjugendführer war.

VORSITZENDER: Wir werden jetzt eine Pause einschalten.


[Pause von 10 Minuten.]


DR. SAUTER: Meine Herren Richter! Ich gestatte mir, dann auf Seite 36 meines Exposes fortzusetzen:

Man prüfe doch endlich alle die Reden und Aufsätze, die Schirach als Reichsjugendführer geschrieben hat und die im Dokumentenbuch Schirach dem Gericht vorliegen. Sie erstrecken sich auf eine lange Reihe von Jahren, aber an keiner Stelle enthalten sie ein Wort, das zum Rassenhaß aufreizen, das den Judenhaß predigen, das die Jugend zu Gewaltakten ermuntern oder das solche Taten entschuldigen würde. Wenn es gelungen ist, die in die Millionen zählenden Mitglieder der Hitler-Jugend stets von allen solchen Exzessen herauszuhalten, so spricht auch diese Tatsache dafür, daß die Führung sich bemühte, der Jugend den Geist der Toleranz, der Nächstenliebe, die Achtung vor der Menschenwürde einzuflößen. Wie Schirach über die Behandlung der Judenfrage dachte, das zeigt auch deutlich die Szene, die sich im Frühjahr 1943 auf dem Obersalzberg abspielte und die auch im Affidavit der Zeugin Maria Höpken, Dokumentenbuch von Schirach Nummer 3, geschildert ist. Ich meine jene Szene, wo Schirach auf dem Obersalzberg Hitler in dessen Wohnung berichten ließ, wie man mit eigenen Augen vom Hotelfenster in Amsterdam aus nachts mit angesehen habe, wie die Gestapo Hunderte von holländischen Jüdinnen abtransportiert habe. Schirach selbst durfte damals nicht wagen, derartige Dinge Hitler vorzutragen; ein Erlaß Bormanns hatte das [501] den Gauleitern ausdrücklich verboten. Deshalb versuchte Schirach durch Vermittlung einer dritten Person, die selbst Augenzeuge war, eine Milderung in der Behandlung der Judenfrage bei Hitler zu erreichen. Es gelang dies nicht, Hitler wies das alles schroff ab mit dem Wort, das seien Sentimentalitäten. Durch dieses Eintreten für die holländischen Juden war aber damals die Situation für den Angeklagten von Schirach so kritisch geworden, daß er es vorzog, am frühen Morgen des nächsten Tages sofort vom Obersalzberg abzureisen, und seitdem war Hitler für Schirach grundsätzlich überhaupt nicht mehr zu sprechen.

Dieses Eintreten Schirachs für mildere Beurteilung der Judenfrage hat vielleicht auch dazu beigetragen, daß Hitler einige Monate später, nämlich im Sommer 1943, allen Ernstes daran dachte, Schirach verhaften zu lassen und vor den Volksgerichtshof zu stellen, bloß deshalb, weil Schirach es gewagt hatte, in einem Brief an Reichsleiter Bormann den Krieg als ein nationales Unglück für Deutschland zu bezeichnen.

Jedenfalls zeigt das alles, daß Schirach nach Kräften für eine Mäßigung in der Judenfrage eintrat, und zwar in einer Weise, daß er dadurch seine eigene Stellung und auch Existenz gefährdete. Er war zwar Antisemit, aber gerade deshalb verdient es Beachtung, daß er allem Druck von Berlin aus widerstand und es ablehnte, eine antisemitische Sondernummer in der offiziellen Zeitschrift der Hitler-Jugend erscheinen zu lassen, während er eigene Sondernummern für die Verständigung auch mit England, mit Frankreich und für eine humanere Behandlung der Ostvölker gebracht hatte. Es ist nicht minder beachtlich, daß Schirach mit seinem Freund Dr. Colin Ross sich bemühte, die Auswanderung der Juden in das neutrale Ausland anzustreben, um ihnen die Verbringung in ein polnisches Ghetto zu ersparen.

Die Anklagebehörde hat sich nun bemüht, eine gewisse Mitverantwortung des Angeklagten von Schirach für die in Polen und Rußland vorgekommenen Judenpogrome dadurch zu begründen, daß sie gegen ihn die sogenannten »Erfahrungs- und Lageberichte« zu verwerten suchte, die von der SS regelmäßig an den Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis XVII gingen (Dokument 3876-PS). In der Tat muß man sagen: Wenn – ich betone – wenn Schirach von diesen regelmäßigen »Erfahrungs- und Lageberichten der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD im Osten« damals Kenntnis bekommen hätte, so würde das gegen ihn auf alle Fälle eine schwere moralische und politische Belastung darstellen; man könnte ihm dann den Vorwurf nicht ersparen, er habe aus den Berichten ersehen müssen, daß neben militärischen Operationen im Osten auch überaus grausame Massenermordungen von Kommunisten und Juden stattgefunden hatten. Das Charakterbild, das wir [502] bisher von Schirach bekommen haben, der auch von der Staatsanwaltschaft gelegentlich als »Mann von Kultur« bezeichnet wurde, müßte eine sehr bedenkliche Trübung erfahren, wenn Schirach tatsächlich diese Berichte gesehen und gelesen hätte. Denn dann hätte er gewußt, daß in Lettland und Litauen, in Weißruthenien und in Kiew Massenermordungen stattgefunden haben, und zwar offensichtlich ohne jedes gerichtliche Verfahren und ohne Urteil.

Was ist aber in Wirklichkeit durch die Beweiserhebung erwiesen worden?

Die erwähnten Berichte sind, wie an Dutzende anderer Dienststellen, so auch an das Amt des »Reichsverteidigungskommissars im Wehrkreis XVII« gegangen, und zwar mit dem ausdrücklichen Vermerk »zu Händen des Regierungsrates Dr. Hoffmann« oder mit dem Vermerk »zu Händen des Regierungsrates Dr. Fischer«. Aus dieser Art der Adressierung der Berichte und aus der Art, wie dann das »Amt des Reichsverteidigungskommissars« die Berichte abgezeichnet hat, ergibt sich einwandfrei, daß Schirach diese Berichte nicht zu Gesicht bekam und daß er auch sonst von ihnen keine Kenntnis erhielt.

Schirach hatte bekanntlich in Wien drei umfangreiche Ämter; als Reichsstatthalter und Reichsverteidigungskommissar war er Chef der gesamten staatlichen Verwaltung, als Oberbürgermeister war er das Oberhaupt der gemeindlichen Verwaltung und als Gauleiter von Wien war er die Spitze des dortigen Parteiapparates. Es liegt nun auf der Hand, daß Schirach diese drei Aufgaben nicht alle selbst erledigen konnte, zumal er 1940 aus einem ganz anderen Aufgabenbereich gekommen war und sich in die staatliche wie in die gemeindliche Verwaltung erst einzuarbeiten hatte. Er hatte deshalb für jede seiner drei Aufgaben einen ständigen Vertreter, und das war für die hier interessierenden Geschäfte der staatlichen Verwaltung der Regierungspräsident von Wien. Dieser Regierungspräsident namens Dellbrügge hatte die laufenden Geschäfte der staatlichen Verwaltung vollkommen selbständig zu erledigen; Schirach beschäftigte sich mit Angelegenheiten der Staatsverwaltung nur hinsichtlich solcher Dinge, die ihm von seinem ständigen Vertreter, nämlich dem Regierungspräsidenten, urkundlich zugeleitet wurden oder über die ihm mündlich vom Regierungspräsidenten Bericht erstattet wurde.

Wenn nun das hinsichtlich der erwähnten »Lage-und Erfahrungsberichte« der Fall gewesen wäre, so wäre das auf den betreffenden Urkunden irgendwie vermerkt worden. Auf den vorgelegten »Erfahrungs-und Lageberichten der SS« findet sich aber nicht ein einziger Vermerk, der ersehen ließe, daß diese Berichte dem Angeklagten von Schirach vorgelegt wurden oder daß ihm darüber Vortrag gehalten worden wäre. Das ist auch ohne [503] weiteres verständlich, denn für die Wiener Verwaltung waren ja die Erfahrungen, welche die Polizei und der SD bei den Partisanenkämpfen in Polen und Rußland gesammelt hatten, vollständig belanglos; es bestand daher nicht die geringste Veranlassung, dem ohnehin sehr mit Verwaltungsgeschäften aller Art überlasteten Angeklagten Baldur von Schirach diese Berichte irgendwie zur Kenntnis zu bringen.

Dieses Ergebnis, meine Herren, stützt sich vor allem auf die eidlichen Bekundungen nicht bloß des Angeklagten hier im Sitzungssaal, sondern auch auf die der beiden Zeugen Höpken und Wieshofer, die, als Chef des »Zentralbüros« der eine, beziehungsweise als Adjutant des Angeklagten der andere, über die Wiener Verhältnisse genauestens Auskunft geben konnten. Es steht fest, daß diese »Erfahrungs- und Lageberichte« niemals in den Einlauf des »Zentralbüros« in Wien kamen, sondern lediglich in den Einlauf des Regierungspräsidenten und daß sowohl Höpken als Chef des »Zentralbüros« wie auch Wieshofer als Adjutant des Angeklagten von diesen »Erfahrungs-und Lageberichten« früher, das heißt vor dem Prozeß, ebenfalls keine Kenntnis hatten, sondern sie erstmals hier im Sitzungssaal bei ihrer Vernehmung zu sehen bekamen. Wie ja auch, was ich hier einfügen möchte, diese beiden Referenten des Angeklagten von Schirach, die beiden namentlich genannten Beamten, Dr. Fischer und den anderen, überhaupt nicht gekannt haben. Ich fahre dann weiter:

Auf alle Fälle ist das Ergebnis, daß ausweislich der Aktenvermerke, die auf den Urkunden stehen, Schirach von diesen Berichten keinerlei Kenntnis gehabt hat, er ist für die darin geschilderten Greueltaten nicht mitverantwortlich und kann deshalb durch diese Tätigkeitsberichte strafrechtlich nicht belangt werden.

Für die Beurteilung der Persönlichkeit Schirachs, meine Herren Richter, ist auch nicht ohne Bedeutung sein Verhalten während der letzten Wochen in Wien. Für Schirach war es eine Selbstverständlichkeit, die verschiedenen Wahnsinnsbefehle nicht durchzuführen, die damals aus Berlin kamen. Er hat die von Bormann angeordnete Lynchjustiz gegenüber feindlichen Fliegern weit von sich gewiesen, genau so wie den Befehl, Defaitisten schonungslos aufzuhängen, mochte es Mann oder Frau sein. Sein Standgericht, das des Angeklagten von Schirach, ist überhaupt niemals zusammengetreten, sein Standgericht hat nicht ein einziges Todesurteil gefällt, an seinen Händen klebt kein Blut. Er hat im Gegenteil alles getan, um zum Beispiel notgelandete Feindflieger vor der erregten Menge zu schützen, und er hat, wie wir zum Beispiel von dem Zeugen Wieshofer hörten, er hat sofort seinen eigenen Kraftwagen entsandt, um abgesprungene amerikanische Flieger in Sicherheit zu bringen. Er setzte sich damit wiederum in bewußten Gegensatz zu einem Befehl [504] Bormanns, daß solche Flieger nicht vor Lynchakten seitens der Bevölkerung geschützt werden dürften. Er hat sich auch nicht um die Anordnung gekümmert, daß Wien bis zum letzten Mann zu halten sei oder daß in Wien Brücken und Kirchen und Wohnviertel zerstört werden müßten, und er hat schroff den Befehl abgelehnt, Partisanenverbände in Zivil aufzustellen oder mit Hilfe des »Werwolf« den aussichtslosen Kampf in verbrecherischer Weise fortzusetzen; er lehnte derartige Zumutungen aus Pflichtbewußtsein ab, zumal er damit gegen das Völkerrecht verstoßen hätte.

Das Charakterbild des Angeklagten von Schirach bliebe unvollständig, wenn wir uns in diesem Augenblick nicht noch erinnern würden an die Erklärung, die er hier am Vormittag des 24. Mai 1946 abgegeben hat. Ich meine jene Erklärung, in der er Hitler als millionenfachen Mörder hier vor dem ganzen deutschen Volk und vor der gesamten Weltöffentlichkeit bezeichnet hat.

Schirach hat schon voriges Jahr Erklärungen abgegeben, die sein Verantwortungsgefühl beweisen und seine Bereitschaft, für seine Handlungen und die seiner Untergebenen in vollem Umfang einzutreten. Das war zum Beispiel am 5. Juni 1945 der Fall, als er sich in Tirol verborgen hielt und am Rundfunk hörte, daß alle Parteiführer vor ein alliiertes Gericht zu stellen seien. Schirach hat sich darauf unverzüglich gemeldet und in seinem Schreiben an den amerikanischen Ortskommandanten zum Ausdruck gebracht, er tue dies, um zu verhindern, daß für seine Handlungen andere zur Rechenschaft gezogen würden, die nur seine Befehle ausgeführt hätten. Er meldete sich freiwillig, obwohl der englische Rundfunk bereits die Nachricht von seinem Tod gebracht hatte und obwohl Schirach hätte hoffen können, in seinem Versteck nicht entdeckt zu werden. Diese Handlungsweise verdient Berücksichtigung bei der Beurteilung der Persönlichkeit eines Angeklagten.

Die gleiche Verantwortungsfreudigkeit zeigte dann Schirach im Herbst 1945, als er von der Anklagebehörde vernommen wurde; er glaubte damals, sein Nachfolger Axmann sei gefallen, er war ja totgesagt worden. Trotzdem machte Schirach nicht den Versuch, seine Schuld auf seinen Nachfolger abzuwälzen. Er erklärte vielmehr ausdrücklich, er übernehme auch für die Zeit seines Nachfolgers die volle Verantwortung, auch für alles, was unter seinem Nachfolger bei der Reichsjugendführung vorgegangen war. Den Schlußstein in dieser Linie bildete nun die Erklärung, die Schirach hier am 24. Mai 1946 abgegeben hat und die aus diesem Saal in die ganze Welt hinausgegangen ist, in alle deutschen Gaue bis in den letzten Bauernhof, bis zur letzten Arbeiterhütte.

Meine Herren Richter! Jeder Mensch kann irren, ja er kann sogar Fehler machen, die er vielleicht hinterher selbst nicht mehr begreifen kann. Auch Schirach hat geirrt. Er hat die Jugend für [505] einen Mann erzogen, den er lange Jahre für unantastbar hielt und den er heute als diabolischen Verbrecher bezeichnen muß. Er hat in seinem Idealismus und aus Loyalität die Treue und den geleisteten Eid einem Manne gehalten, der ihn und die deutsche Jugend getäuscht und betrogen hat und der, wie wir von Speer hier erfahren haben, bis zum letzten Atemzug sein eigenes Interesse höher stellte als die Existenz und das Glück von 80 Millionen Menschen.

Schirach ist vielleicht derjenige Angeklagte, der die von ihm begangenen Fehler, man mag sie heute beurteilen wie man will, nicht nur klar eingesehen, sondern auch am ehrlichsten bekannt und der durch seine offenen Worte einer Legendenbildung um Hitler für alle Zukunft vorgebeugt hat. Einem solchen Angeklagten wird man es als ein Verdienst zuguterechnen müssen, wenn er sich bemüht, den Schaden, den er in gutem Glauben verursacht hat, wieder gut zu machen, soweit ihm das möglich ist.

Schirach hat das versucht. Er hat sich bemüht, unserem Volk die Augen zu öffnen über den »Führer«, in welchem er mit Millionen von Deutschen Jahre hindurch den Retter des Vaterlandes und den Garanten ihrer Zukunft gesehen hat. Er hat hier in aller Öffentlichkeit für seine Person die Rechenschaft abgelegt, auf die das deutsche Volk nach Hitlers Selbstmord einen Anspruch gegen jeden Unterführer des Dritten Reiches hat; schon damit das Ausland daraus ersehen kann, wie es zu den Zuständen der letzten sechs Jahre in Deutschland kommen konnte und wer dafür verantwortlich ist. Vor allem aber lag dem früheren Reichsjugendführer bei Abgabe seiner Erklärung vom 24. Mai 1946 daran, der deutschen Jugend offen zu sagen, daß er bisher unwissend und in guter Absicht sie einen falschen Weg geführt habe und daß sie nunmehr einen anderen Weg einschlagen müßte, wenn das deutsche Volk und die deutsche Kultur nicht untergehen sollen. Schirach dachte dabei nicht an sich, nicht an sein zerschlagenes Lebenswerk, er dachte an die Jugend von heute, die nicht nur vor den Ruinen unserer Städte und Wohnungen steht, sondern auch zwischen den Trümmern ihrer bisherigen Ideale umherirrt; er dachte an die deutsche Jugend, die eine neue Orientierung braucht und die ihr künftiges Leben auf eine andere Basis stellen muß. Schirach hofft, daß die ganze deutsche Jugend seine Worte gehört hat. Was an seinem Bekenntnis vom 24. Mai 1946 besonders wertvoll war, das war seine Versicherung, daß einzig und allein er die Schuld für die Jugend trage wie er früher den Befehl für sie getragen hat. Wird dieser Standpunkt als richtig anerkannt und werden die notwendigen Folgerungen daraus gezogen, so wäre das für unsere deutsche Jugend ein wertvolles Ergebnis dieses Prozesses.

Meine Herren Richter! Damit komme ich zum Ende meiner Betrachtung des Falles von Schirach. Auch bei der Behandlung dieses [506] Falles habe ich es unterlassen, allgemeine Ausführungen, insbesondere solche politischer Art zu machen. Ich habe mich vielmehr beschränkt auf eine Würdigung der Persönlichkeit des Angeklagten, seine Handlungen und seine Motive, und ich darf dazu ergänzend beifügen:

Diese Betrachtung und Würdigung durch die Verteidigung hat ergeben, daß der Angeklagte von Schirach nicht schuldig im Sinne der Anklage ist und nicht verurteilt werden kann, weil er irgendein strafrechtliches Verschulden nicht begangen hat, Sie aber als Richter nicht über politische Schuld zu urteilen haben, sondern lediglich über kriminelle Schuld im Sinne des Strafrechts. Ich fahre dann weiter. Am Schluß meiner Betrachtungen des Falles von Schirach bitte ich Sie, an dieser Stelle noch in einigen Sätzen ein paar kurze allgemeine Gedanken ausführen zu dürfen, die über die Person des Angeklagten von Schirach hinausgehen, die sich aber dem deutschen Verteidiger am Ende dieses Prozesses aufdrängen.

Meine Herren Richter! Sie sind der höchste Gerichtshof unserer Zeit; die Macht der ganzen Welt steht hinter Ihnen; die vier stärksten Völker der Erde sind durch Sie vertreten; Hunderte Millionen von Menschen nicht nur in den besiegten Ländern, sondern auch in den Siegerstaaten hören auf Ihre Meinung und erwarten mit Spannung Ihr Urteil, bereit, sich von Ihnen belehren zu lassen und Ihrem Rate zu folgen. Diese Ihre hohe Autorität gibt Ihnen, meine Herren Richter, die Möglichkeit, durch Ihr Urteil und vor allem durch seine Begründung, auch viel Gutes zu schaffen, damit aus der heutigen Katastrophe ein Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird, zum Nutzen Ihrer eigenen Völker und zum Segen des deutschen Volkes.

Heute, meine Herren Richter, liegt Deutschland am Boden, ein armes Volk, das ärmste von allen. Die deutschen Städte sind zerstört; die deutsche Industrie ist zerschlagen; auf den deutschen Schultern lastet eine Staatsschuld, die ein Vielfaches des ganzen Volksvermögens darstellt und die für ganze Generationen des deutschen Volkes Not und Armut, Hunger und Sklaverei bedeutet, wenn Ihre Völker uns nicht helfen.

Für die Hilfe aus dieser verzweifelten Lage wird die Begründung Ihres Urteils, meine Herren Richter, in vieler Hinsicht richtunggebend sein. Freilich, diesen Gedanken zu berücksichtigen und ihm gefühlsmäßig Rechnung zu tragen, mag Ihnen schwer fallen, wenn Sie an das Unglück denken, das die letzten sechs Jahre auch über Ihre eigenen Länder gebracht haben; doppelt schwer, nachdem in monatelangen Verhandlungen hier immer nur Verbrechen enthüllt wurden, Verbrechen, die lange Jahre hindurch ein Tyrann deutscher Zunge begangen hat, unter Mißbrauch deutscher Menschen, im Namen des nämlichen deutschen Volkes, an dessen Zukunft Sie als Richter jetzt mit Wohlwollen denken, dem Sie jetzt helfen sollen.

[507] Meine Herren Richter! Hitler ist tot und mit ihm jene Werkzeuge, die in diesen Jahren millionenfache Verbrechen ohne Zahl begangen und Deutschland und fast ganz Europa tyrannisiert und den deutschen Namen vielleicht auf Generationen hinaus geschändet haben. Das deutsche Volk dagegen lebt und muß leben können, wenn nicht eine halbe Welt darüber in Trümmer gehen soll.

In diesem Prozeß und in diesen Zeiten macht das deutsche Volk eine schwere Operation durch; sie darf nicht den Tod, sie soll die Heilung bringen. Dazu kann und dazu muß auch Ihr Urteil beitragen, damit die Welt nicht in Zukunft in jedem Deutschen einen Verbrecher sieht, sondern zu der Auffassung des Professors Arnold Nash von der Universität Chicago zurückfindet, der vor einigen Tagen, nach dem Sinn seiner derzeitigen Deutschlandreise befragt, die Antwort gab: »Jeder Gelehrte hat zwei Vaterländer, sein eigenes und Deutschland.« Und dieses Wort sollte auch eine Mahnung sein für alle jene verantwortungslosen Kritiker, die auch heute noch ihre Aufgabe darin sehen, mit allen möglichen Propagandamitteln gegen alles, was deutsch ist, zu hetzen und der Welt immer wieder einzureden, daß mindestens jeder zweite Mensch in Deutschland ein Verbrecher sei. Sie aber, als objektive Richter, wollen eines nicht vergessen:

Es gab immer und es gibt heute auch ein anderes Deutschland, ein Deutschland des Fleißes und der Sparsamkeit, ein Deutschland Goethes und Beethovens, ein Deutschland der Treue und der Ehrlichkeit und mancher Tugenden, die in früheren Jahrhunderten sprichwörtlich waren für deutsches Wesen. Glauben Sie uns, meine Herren Richter, in dieser Zeit, wo Deutschland wie aus schwerer Krankheit erwacht ist, und wo Deutschland daran geht, aus den Trümmern einer bösen Vergangenheit sich eine bessere Zukunft wieder aufzubauen, eine Zukunft für seine Jugend, die keinen Teil hat an all den begangenen Verbrechen, in dieser Zeit sehen 70 oder 80 Millionen deutscher Menschen auf Sie und erhoffen von Ihnen, meine Herren Richter, ein Urteil, das uns den Weg frei macht für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft, der deutschen Herzen und einer wahren Freiheit.

Sie, meine Herren, sind wahrhaft souveräne Richter, an kein geschriebenes Gesetz, an keinen Paragraphen gebunden, nur Ihrem Gewissen verpflichtet, und vom Schicksal dazu berufen, der Welt gleichzeitig eine neue Rechtsordnung zu geben, eine Rechtsordnung, die den kommenden Generationen jenen Frieden erhalten soll, den die Vergangenheit ihr nicht bewahren konnte. Zu dieser Ihrer großen und schweren Aufgabe hat ein bekannter Demokrat des alten Deutschland, der frühere Minister Dr. Kültz, in einem Artikel über den Nürnberger Prozeß neulich geschrieben: In einem monarchistischen Staat würde Recht gesprochen im Namen des Königs, in Republiken würden die Gerichte urteilen im Namen des Volkes,[508] Sie aber, der Nürnberger Gerichtshof, Sie sollten Ihr Urteil erlassen im Namen der Humanität.

In der Tat, ein herrlicher Gedanke für das Gericht, ein ideales Ziel, wenn das Gericht glauben könnte, daß sein Urteil tatsächlich die Gebote der Humanität verwirklichen und für alle Zeiten Verbrechen gegen die Humanität verhindern könnte. Aber in mancher Beziehung wäre das doch ein etwas schwankendes Fundament für ein Urteil in der Bedeutung Ihres Richterspruches; denn die Vorstellungen darüber, was die Humanität im einzelnen fordert oder verbietet, können zu verschieden sein, je nach der Zeit, je nach dem Volk, je nach der Parteistellung, von der aus man urteilt. Ich glaube: Ein zuverlässiges Fundament für Ihr Urteil finden Sie, wenn Sie zu dem Satz zurück kehren, der die Jahrtausende überstanden hat und der sicher auch in Zukunft Gültigkeit haben wird:

Justitia est fundamentum regnorum.

Die Gerechtigkeit ist die Grundlage jeden Staatswesens.

So erwartet das deutsche Volk und mit ihm die ganze Welt von Ihnen, meine Herren Richter, ein Urteil, das nicht bloß heute von den Siegerstaaten begrüßt wird als ein letzter Sieg über Deutschland, sondern das auch einst von der Geschichte als richtig anerkannt werden kann, ein Urteil im Namen der Gerechtigkeit.


VORSITZENDER: Dr. Servatius, bitte, für den Angeklagten Sauckel.


DR. SERVATIUS: Herr Präsident! Meine Herren Richter!

Die Verteidigung des Angeklagten Sauckel muß sich in erster Linie mit dem Vorwurf der »Sklavenarbeit« befassen.

Was ist Sklavenarbeit?

Man kann dies nicht als feststehenden Begriff hinnehmen und darunter alle Vorgänge verstehen, die dem Angeklagten Sauckel in verwirrender Fülle als Sklavenarbeit vorgehalten worden sind.

Gerade diese Handlungen müssen erst rechtlich geprüft werden. Die rechtliche Grundlage für diese Prüfung ist das Statut.

Dieses Statut sagt aber nicht, was unter »Sklavenarbeit« und was unter »Deportation« zu verstehen ist. Die Begriffe müssen darum durch Auslegung geklärt werden.

In Artikel 6 des Statuts ist an zwei Stellen unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten von »Deportation« und von »Sklavenarbeit« die Rede.

Die Deportation ist sowohl als Kriegsverbrechen wie auch als Humanitätsverbrechen bezeichnet und die erzwungene Arbeit erscheint ebenfalls sowohl unter Kriegsverbrechen als »Sklavenarbeit« als auch unter Humanitätsverbrechen als »Versklavung«.

Worunter der Arbeitseinsatz des Angeklagten Sauckel fällt, ist von ausschlaggebender Bedeutung; handelt es sich um ein [509] Kriegsverbrechen, so ist dieses allein nach Kriegsrecht zu beurteilen. Liegt ein Humanitätsverbrechen vor, so setzt dieses die Begehung eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen den Frieden erst voraus.

Daraus ergibt sich, daß die Deportationen des Artikels 6 b nicht das gleiche sein können, wie eine Deportation nach Artikel 6 c, und ebensowenig kann die erzwungene Arbeit des Artikels 6 b mit der erzwungenen Arbeit des Artikels 6 c identisch sein.

Der Unterschied zwischen beiden Arten muß darin gefunden werden...

VORSITZENDER: In dem Absatz Ihrer Rede, der im englischen Text auf Seite 2, zweiter Abschnitt steht, heißt es: »Daraus ergibt sich, daß die Deportation des Artikels 6 b nicht das gleiche sein kann wie eine Deportation nach Artikel 6 c.«

Es ist dies dem Gerichtshof nicht ganz klar. Könnten Sie das klarstellen?


DR. SERVATIUS: In Artikel 6 c ist die Rede von Humanitätsverbrechen, während im Artikel 6 b von Kriegsverbrechen die Rede ist. In beiden kehren die Ausdrücke Deportation und Zwangsarbeit wieder; sie müssen sich unterscheiden voneinander, und meine Untersuchung geht dahin, diese Unterscheidung näher festzulegen. Ich glaube, Herr Präsident, die weiteren Ausführungen werden es klarer machen, als es bis hierhin ist.

Ich komme gleich auf die Terminologie, die das Statut anwendet. Ich sprach von dem Unterschied der beiden Arten von Sklavenarbeit und Deportationen. Der Unterschied zwischen beiden Arten muß darin gefunden werden, daß zu den Kriegsverbrechen noch etwas hinzukommen muß, was humanitätswidrig ist.

Die Richtigkeit dieser Auffassung ist auch aus der Terminologie des Statuts zu erkennen, wenn diese auch schwankend ist. So wählt der russische Text für die Deportation als Kriegsverbrechen das Wort »uwod«, welches lediglich Abtransport bedeutet, da gegen benutzt er für das Humanitätsverbrechen gleicher Art den technischen Begriff »sylka«, unter dem die Strafverschickung während der Zarenzeit bekannt ist, als sinngleich mit Deportation als Strafverschickung.


VORSITZENDER: Die französische Übersetzung kommt nicht durch. Warten Sie bitte einen Augenblick, Dr. Servatius, es sind da einige Schwierigkeiten in der französischen Übersetzung.

Der Gerichtshof muß die Verhandlungspause jetzt einschalten.


GERICHTSMARSCHALL: Der Gerichtshof wird bis 13.45 Uhr eine Pause einschalten.


[Das Gericht vertagt sich bis 13.45 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 18, S. 483-511.
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