Vormittagssitzung.

[255] [Der Angeklagte Raeder im Zeugenstand.]


DR. SIEMERS: Herr Großadmiral, zu Ihrem gestrigen Verhör habe ich in Form des Rückverhörs noch einige Fragen.

Sir David sprach davon, daß Sie die Aufrüstung vor 1933 hinter dem Rücken der gesetzgebenden Körperschaften unternommen hätten. Ich glaube, diese Frage war an sich schon geklärt. Ergänzen Sie nur eine Frage: Von wem hing es ab, was im Reichstag vorgelegt wurde?


RAEDER: Von dem Reichswehrminister.


DR. SIEMERS: Der Reichswehrminister war seinerzeit?


RAEDER: War Mitglied der Regierung und mein direkter Vorgesetzter. Ich hatte ihm alles vorzulegen, was ich zu bekommen wünschte.


DR. SIEMERS: Und sein Name war Groener? Das ist richtig?

RAEDER: Groener.


DR. SIEMERS: Ich darf das Hohe Tribunal an den Auszug aus der Verfassung erinnern, den ich neulich als Raeder-Exhibit Nummer 3 überreichte, wonach Artikel 50 bestimmt, daß der Reichspräsident alle Anordnungen und Verfügungen, auch solche auf dem Gebiete der Wehrmacht, trifft. Die Verfügung bedürfe zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung übernommen. Der zuständige Reichsminister ist hier der Reichswehrminister. Was die Regierung dann gegenüber der gesetzgebenden Körperschaft tut, ist Sache der Regierung.

Sir David hat Ihnen das Dokument C-17 vorgelegt, das Inhaltsverzeichnis eines Buches von Oberst Scherff, mit dem Titel »Geschichte der Deutschen Marine 1919 bis 1939«. Ist dieses Buch überhaupt jemals geschrieben worden?


RAEDER: Meines Wissens ist nur das Inhaltsverzeichnis gemacht worden. Ich nehme an, daß, wenn etwas geschrieben worden wäre, es mir schon längst auch vorgelegt worden wäre. Aber ich habe niemals etwas davon gehört.


DR. SIEMERS: Ich darf das Tribunal daran erinnern, daß die Amerikanische Anklagedelegation seinerzeit bei Vorlage dieser Urkunde darauf hinwies, daß ihres Wissens das Buch nicht geschrieben worden ist.


[255] [Zum Zeugen gewandt:]


Ich glaube, es ist sehr schwer, Vorwürfe aus einem Inhaltsverzeichnis herzuleiten, möchte Sie aber bitten, mir zu sagen, wann haben Sie dieses Inhaltsverzeichnis kennengelernt?

RAEDER: Ich habe es hier bei meiner ersten Vernehmung durch einen amerikanischen Anklagevertreter kennengelernt.

DR. SIEMERS: Dann ist Ihnen die Urkunde D-854, gleich GB-460, gestern morgen vorgelegt worden. Ich darf auf eine Frage von Sir David zurückkommen. Sir David hat auf Seite 1 vorgetragen:

»Aber, wenngleich, wie dargestellt wurde, auf fast allen Gebieten der Rüstung bei der Marine lange Zeit vor dem 16. März 1935 der Versailler Vertrag dem Buchstaben und erst recht dem Geiste nach übertreten, mindestens eine Übertretung vorbereitet worden ist,...«

Sir David fragte Sie: Wollen Sie behaupten, daß das falsch ist? Sie haben geantwortet, sind aber mit der Antwort nicht ganz zu Ende gekommen, jedenfalls ist es weder im Deutschen noch im Englischen völlig klar geworden.

Ich bitte Sie zu sagen, warum Sie der Meinung sind, daß Aßmann mit diesem Satz nicht ganz recht hat?

RAEDER: Es ist eine völlige Übertreibung, denn erstens waren ja die Übertretungen, wie hier nachgewiesen worden ist, zum großen Teil ganz gering, und nur die Zahl der kleinen Abweichungen hat vielleicht den Eindruck erweckt, daß vielfach verstoßen worden ist.

Zweitens haben wir ja in den wesentlichen Teilen den Versailler Vertrag gar nicht erfüllt, sondern sind weit dahinter zurückgeblieben. Außerdem handelte es sich nur um Dinge der Verteidigung, und zwar einer ganz armseligen Verteidigung, so daß dies eine völlig übertriebene Darstellung ist.


DR. SIEMERS: Sie wollten also auf den Punkt hinaus, daß die Ausdrucksweise von Aßmann »auf fast allen Gebieten der Rüstung« daß dies falsch ist?


RAEDER: Jawohl, das wird er vielleicht aus dem Dokument C-32 geschlossen haben, weil dort so viele Punkte waren, die sich aber bei näherer Durchsicht als sehr gering erweisen.


DR. SIEMERS: Auf den wesentlichen Punkten der Rüstung, nämlich auf dem Bau der großen Schiffe, hat die Marine nicht verstoßen?


RAEDER: Nein, nein!

DR. SIEMERS: Sir David legte gesteigertes Gewicht durch dreimaliges Hervorheben darauf, daß Sie Aßmann besonderes [256] Vertrauen schenkten. Ich habe nichts dagegen zu sagen. Ich möchte nur darüber hinaus eine ergänzende Frage stellen: Ging Ihr Vertrauen soweit, daß Aßmann nach Ihrer Meinung ein richtiges juristisches Urteil abgab? War Aßmann Jurist?


RAEDER: Nein! Aßmann war ein Seeoffizier, der in der Front nicht mehr verwendet wurde, der aber eine sehr gewandte Feder hatte und der schon über den ersten Weltkrieg einige Bände revidiert hatte. Er schrieb sehr geschickt, aber auch diese Bände des ersten Seekrieges sind von den beteiligten Personen sehr stark durchkorrigiert worden. Aber es ist gegen ihn und seine Geschichtsschreibung an sich nichts zu sagen.


DR. SIEMERS: Herr Großadmiral, handelte es sich bei dieser Schrift von gestern, ich glaube Sie erinnern sich noch, überhaupt um eine endgültige Geschichtsschreibung, um ein endgültig redigiertes Werk?


RAEDER: Nein! Soweit war er meines Wissens nach nicht, sondern er machte Zusammenstellungen und Auszüge aus den Kriegstagebüchern und den Protokollen.


DR. SIEMERS: Im Aßmann steht:

»Wenn bei dieser Sachlage für 1935 die ›Inbaugabe zur Vorbereitung‹ von 12-275 t, 6-550 t und 4-900 t U-Boote vorgesehen wurde, so wird man dabei die zum damaligen Zeitpunkte geltenden strategischen Gesichtspunkte berücksichtigen müssen.«

Wenn ich zusammenrechne, dann sind demnach 22 und für ein Jahr später folgend 14 vorgesehen, nicht etwa schon gebaut. Stimmen diese Zahlenangaben nach Ihrer Meinung?

RAEDER: Nach meiner Meinung stimmen sie; ich weiß bloß nicht, die 900-Tonnen-Boote sind mir nicht recht erklärlich. Ich erinnere mich nicht, daß wir zu der Zeit 900-Tonnen-Boote gebaut haben; denn wir haben... die ersten Typen waren außer den 250 Tonnen, die 550 Tonnen – und dann erst kamen die 740-Tonnen-Boote. Vielleicht sind diese gemeint mit den 900-Tonnen-Booten. 900-Tonnen-Boote haben wir an sich nicht gebaut.

DR. SIEMERS: Sir David hat Ihnen von Seite 158 folgenden Satz vorgehalten, den ich wiederholen möchte, da er der Aufklärung bedarf:

»Deutschland hat sich wohl gerade auf dem Gebiet des U-Bootsbaues am wenigsten an die Grenzen des deutsch-englischen Vertrages gehalten. Unter Berücksichtigung der Größe der bereits in Auftrag gegebenen Boote hätten bis 1938 etwa 55 U-Boote vorgesehen werden können Tatsächlich wurden 118 fertiggestellt und in Bau gegeben.«

Ende des Zitates.

[257] Ich erinnere Sie daran, daß hier die Anmerkung 6 im Original steht, ein Schreiben des Chefs der Marinehaushaltsabteilung...

RAEDER: Jawohl!

DR. SIEMERS:... aus dem Jahre 1942, wo vermutlich der Marinehaushalt referierte, wie im Verlauf der Jahre die U-Bootwaffe ausgebaut ist. Ich glaube, die Zahlen müssen klargestellt werden.

Nach meinen Unterlagen entsprechen diese 55 U-Boote der Abmachung des Londoner Abkommens, nämlich entsprechend den 45 Prozent, die seinerzeit 1935 vereinbart waren.

Ist das ungefähr – Sie werden nicht die genaue Zahl im Kopf haben können – ist das ungefähr richtig?


RAEDER: Jawohl, das kann richtig sein.


DR. SIEMERS: Die Zahl 118 ist nach meinen Unterlagen auch gut begründet. Sie ist die Zahl, die dem hundertprozentigen Gleichkommen in der Tonnage der U-Boote entspricht. Hatten wir 118 U-Boote, dann war unsere U-Bootwaffe genau so groß, wie die Englands zu der damaligen Zeit. Ist das richtig?


RAEDER: Jawohl, das ist richtig. Und es ist auch richtig, daß wir diese weiteren Boote in den Etat eingestellt und in Bau gegeben haben, nachdem wir am 30. Dezember mit dem Admiral Cunningham und seinen Begleitern in Berlin eine freundschaftliche Einigung herbeigeführt hatten, entsprechend dem Vertrag, daß wir 100 Prozent bauen könnten. Und die Bemerkung, die im Anfang vorgelesen wurde, daß wir auf diesem Gebiete am meisten verstoßen haben, ist eine völlige Unwahrheit. Wir haben bis zum Kriege nur die U-Boote gebaut, die wir bauen konnten, nämlich erst 45 Prozent und dann 100 Prozent.

Es war natürlich ein großer Fehler, daß wir das getan haben.


DR. SIEMERS: Herr Großadmiral, Sie haben eben gesagt »völlige Unwahrheit«. Ich glaube, man sollte, wenn auch Sir David dieses Wort Ihnen gegenüber gebraucht hat, nicht so scharf urteilen bei Aßmann. Glauben Sie nicht, Herr Großadmiral, daß es eher ein juristischer Irrtum von Aßmann ist?...,


RAEDER: Ja, das mag sein.


DR. SIEMERS:... der bei der Niederschrift nicht daran dachte, daß das geschehen war, was Sie eben erzählten, daß nämlich 1938 die Vereinbarung zwischen England und Deutschland getroffen wurde, daß Deutschland nunmehr 100 Prozent bauen dürfte.


RAEDER: Jawohl, das mag sein; ich wollte sagen: eine »völlige Unrichtigkeit«.


DR. SIEMERS: Ich darf das Hohe Tribunal daran erinnern, daß im Flottenabkommen von 1935 von vornherein 100 Prozent [258] vorgesehen sein sollten, und Deutschland verzichtete freiwillig, erhielt aber das Recht, jederzeit auf 100 Prozent zu gehen mit der Verpflichtung, England zu benachrichtigen.


[Zum Zeugen gewandt:]


Diese Benachrichtigung ist das, was Sie eben schilderten, die Verhandlung mit Admiral Cunningham. Verstehe ich Sie richtig?

RAEDER: Jawohl, das war am 30. Dezember 1938, am 30. oder 31. Dezember.

VORSITZENDER: Behauptet der Angeklagte, daß man das Admiral Cunningham am 30. Dezember 1938 mitgeteilt hat? Haben Sie gesagt, daß eine Benachrichtigung des Admirals Cunningham am 30. Dezember erfolgte?


RAEDER: Admiral Cunningham kam nach Berlin zu dieser freundschaftlichen Verhandlung, die im Vertrag vorgesehen war, und wir haben an diesem 30. Dezember mit ihm vereinbart, daß von jetzt ab statt 45 Prozent 100 Prozent gebaut werden dürften.


VORSITZENDER: War das eine mündliche oder eine schriftliche Vereinbarung?


RAEDER: Es war eine Besprechung zwischen dem Chef des Stabes der Seekriegsleitung und Admiral Cunningham und einzelnen Personen; ich kann das heute nicht sagen. Ich nehme an, bestimmt, daß ein Protokoll darüber aufgenommen worden ist.


VORSITZENDER: Setzen Sie fort!


DR. SIEMERS: Ich habe leider, Herr Präsident, eine schriftliche Unterlage bisher nicht finden können. Ich weiß nur aus dem Raeder-Exhibit Nummer 11, das ist das Abkommen von 1935, daß Deutschland seine Tonnage erhöhen durfte, und aus dem Abkommen von 1937, daß Deutschland verpflichtet war, zu benachrichtigen.

Im allgemeinen wird wohl in solchem diplomatischen Verkehr der schriftliche Weg gewählt, obwohl er meines Erachtens nicht vorgeschrieben war. Verhandelt wurde darüber, wie der Zeuge eben bestätigte.


RAEDER: Ich darf da hinzufügen, daß außer dieser U-Bootsfrage auch noch die Frage von zwei schweren Kreuzern geregelt wurde, auf die wir auch vorläufig verzichtet hatten. Wir wollten nur drei bauen vorläufig und wir baten hier um die Zustimmung, daß wir die zwei uns zustehenden auch bauen könnten. Das wurde auch vereinbart, entsprechend der Vertrage.


DR. SIEMERS: Gestern wurde Ihnen die Urkunde C-140 vorgelegt, gleich US-51, im Dokumentenbuch der Britischen Delegation 10a, Seite 104. Ich möchte Ihnen hieraus einen Satz vorhalten, der weder im November noch gestern von der Anklage zitiert wurde, und zwar unter Ziffer 2c.


[259] VORSITZENDER: In welchem Dokumentenbuch?


DR. SIEMERS: Dokumentenbuch 10a, Seite 104.

Dort steht unter Ziffer 2c folgendes – ich darf einschalten, es handelt sich um den Fall der Sanktionsmaßnahmen und die etwaige Vorbereitung auf die Abwehr von Sanktionen im Jahre 1935 –, ich zitiere unter 2c: »Ich verbiete zunächst alle praktischen Vorarbeiten.« Ich frage Sie, Herr Zeuge...


VORSITZENDER: Ich finde es nicht in 10a, auf Seite 104.


DR. SIEMERS: Mr. Elwyn Jones war so freundlich, mir eben die englische Übersetzung zu zeigen.

Daraus ergibt sich, daß es demnach – ich habe auch die englische Übersetzung hier – zwei Dokumente C-140 gibt. Das eine ist eine Seite, das andere zwei Seiten lang. Das eine hat keine Überschrift und ist von Berlin, den 25. Oktober 1933. Und es ist nach meiner Meinung die Urkunde...


VORSITZENDER: Das ist auf Seite 104...?


DR. SIEMERS: Nein, auf Seite 104 befindet sich, wie ich eben von Mr. Elwyn Jones höre, die andere Urkunde C-140, die die Überschrift hat »Weisung für die Wehrmacht im Falle von Sanktionen...«


VORSITZENDER: Ja, und datiert vom 25. Januar 1933?


DR. SIEMERS: 25. Oktober 1935 steht da. Das ist ein Schreibfehler, es heißt: 1933.


MAJOR F. ELWYN JONES, HILFSANKLÄGER FÜR DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH: Es scheint ein zweites Dokument zu bestehen, Herr Vorsitzender, das nicht in dem Buch enthalten ist.


VORSITZENDER: Nicht in dem Buch.


MAJOR ELWYN JONES: Nicht in dem Buch.


VORSITZENDER: Ich verstehe.


DR. SIEMERS: Ich darf aber daran erinnern, Herr Präsident, daß das von der Anklage vorgelegte Dokument C-140, US-51, die von mir vorgetragene Fassung sein muß, denn sie stimmt mit dem Protokoll überein. Also in dem Sitzungsprotokoll vom 27. November wird sich die Urkunde finden, auf die ich hier Bezug nehme.


VORSITZENDER: Ist das Dokument C-140 oder C-141?


DR. SIEMERS: Nein, C-140, dieselbe Nummer, gleich US-51.

Herr Präsident, ich kann vielleicht, um es einfacher zu machen, nachträglich nach der Sitzung, oder morgen, die Urkunde C-140 in dem hier vorliegenden englischen und deutschen Text einreichen.


VORSITZENDER: Lesen Sie das Dokument jetzt vor, und Sie können sich dann mit Herrn Elwyn Jones über die richtige [260] Bezeichnung einigen, ob das Dokument C-140 sein soll, oder wie immer die Beweisstücknummer heißen soll!


DR. SIEMERS: Jawohl!

In dem Text, den die Anklage vorgelesen hatte, wird von Vorbereitungen zur Abwehr von Sanktionen gesprochen. Und ich hielt Ihnen jetzt eben den weiteren Satz vor. Ich zitiere: »Ich verbiete zunächst alle praktischen Vorarbeiten.« Ist demnach 1933 überhaupt irgend etwas von Ihnen in der Marine vorbereitet worden?


RAEDER: Nein, außer dem gewöhnlichen Bereitschaftszustand durfte ja nichts gemacht werden nach diesem Befehl. Es war nur die Vorsicht des Führers für den Fall, daß von der Gegnerseite irgend etwas unternommen werden sollte, um Maßnahmen zu treffen.


DR. SIEMERS: Sie sehen, ich frage dies deshalb, weil Ihnen gestern im Kreuzverhör Ihre Vorbereitungen im Zusammenhang damit vorgehalten wurden.

Ich komme dann auf die Urkunde C-189, gleich US-44. Ich bitte zu entschuldigen, daß ich dem Hohen Gericht die Mühe mache, wenn möglich, die Urkunde noch einmal zur Hand zu nehmen. Sie befindet sich im Dokumentenbuch Raeder Nummer 10a, Seite 14. Sie ist im übrigen gestern von Sir David noch einmal überreicht.

Sir David legte gesteigertes Gewicht auf die beiden Worte »gegen England«. Es heißt dabei unter Ziffer 2:

»Ob.d.M. spricht Ansicht aus, daß die Flotte später doch gegen England entwickelt werden müsse, daß daher von 1936 an die großen Schiffe mit 35-cm-Geschützen armiert werden müßten (wie King-George-Klasse).«

Soll dies bedeuten, daß Sie bei diesem Hinweis die Schiffsbaupläne der Engländer hinsichtlich der King-George-Klasse benutzten?

VORSITZENDER: Dr. Siemers, es tut mir leid, aber der Hinweis, den ich bekam, war unrichtig. Ich hörte: 10, Seite 14, aber es ist nicht 10, Seite 14.

DR. SIEMERS: Ich höre eben Seite 66. Ich bitte um Entschuldigung. Ist die Angabe jetzt richtig? In meinem englischen Dokumentenbuch war es Seite 14, aber...

VORSITZENDER: Es ist 66 oder 68 in meinem Buch...


DR. SIEMERS: Ich habe dort eben die Ziffer 2 vorgelesen.


VORSITZENDER: Ja!


DR. SIEMERS: Sie machten diesen Hinweis also ausschließlich mit Rücksicht auf die bei der King-George-Klasse von der britischen Admiralität verwandten 35-cm-Geschütze?


[261] RAEDER: Jawohl, es war in der damaligen Zeit das Bestreben jeder Marine, möglichst frühzeitig zu wissen, welches größte Geschütz-Kaliber die anderen Marinen gebrauchten, und ich sagte gestern schon, wir hatten zunächst uns den französischen Dunkerque-Typ als Vorbild genommen, erfuhren dann aber sehr bald, daß England auf 35,6 cm ging, und man muß seine Schiffe ja so gebrauchen, wenn ein Krieg ausbricht, wie sie sind, man kann sie nicht mehr abändern in den Geschützkalibern. Deshalb griff man immer möglichst hoch.


DR. SIEMERS: Gehe ich richtig, wenn ich demnach behaupte – ich bitte mir dies zu verzeihen, daß der Ausdruck »gegen England« in diesem Zusammenhang grammatikalisch nach dem deutschen Sprachgebrauch falsch ist; hätte es nicht heißen müssen: »in Bezug auf England«?


RAEDER: Jawohl, »entwickelnd auf England« sollte es heißen. Ich habe gestern auch gesagt, es wäre ganz widersinnig, wenn ich, bevor der englische Flottenvertrag abgeschlossen war, schon gegen England etwas machte.


VORSITZENDER: Dr. Siemers! Das wurde im Kreuzverhör ausführlich behandelt, und der Angeklagte hat uns seine Erklärung der Bedeutung dieser Worte gegeben.


DR. SIEMERS: Sir David hat Ihnen aus C-190, das ist die Unterhaltung am 2. November 1934 auf der »Emden« zwischen Ihnen und Hitler, vorgehalten, daß Hitler in einem Gespräch mit Ihnen und Göring entwickelte, daß er den Ausbau der Marine in der geplanten Weise für lebensnotwendig halte, da Krieg überhaupt nicht geführt werden könnte, wenn nicht die Marine die Erzausfuhr aus Skandinavien sicherstelle. Es wurde davon gesprochen, daß dies dahin verstanden werden müsse, daß also die Flotte für einen Kriegsfall gedacht, und für die Sicherung der Erzeinfuhr gedacht sei, und daß dies in der Richtung einer Angriffsabsicht ginge.

Sind Sie der Meinung, daß die britische Marine nicht für die Sicherung der Einfuhr nach England und nicht für einen Kriegsfall ausgerüstet war?


RAEDER: Nein, daran ist gar nicht zu zweifeln.


DR. SIEMERS: Es ist in dieser Urkunde von sechs U-Booten die Rede. Im Hinblick auf diese Zahl darf ich Sie bitten, welche Zahl etwa müßte Deutschland an U-Booten gehabt haben, um wirklich einen Angriffskrieg zu führen?


RAEDER: Jedenfalls vielmehr, als wir im Oktober 1939 besaßen, ein mehrfaches, ein vielfaches davon.


DR. SIEMERS: Aus der Urkunde, die gestern überreicht wurde, Herr Präsident, D-806, darf ich nur zur Klarstellung außer dem zweiten Absatz, der vorgehalten wurde, auch den ersten Absatz [262] dem Zeugen vorhalten. Es ist D-806, GB-462, gestern mittag überreicht. Dort heißt es:

»Betrifft: U-Bootsbauprogramm.

Am 27. Oktober 1936 habe ich Entscheidung getroffen, über die Ausnutzung der uns nach dem Londoner Flottenvertrag 1935 vorläufig noch zur Verfügung stehenden U-Bootstonnage und über die sofortige Inbaugabe der U-Bootsneubauten U-41 bis U-51.«

Sind diese vorgesehenen U-Boote der Rest desjenigen, was uns nach dem Flottenvertrag von 1935 mit der Begrenzung auf 45 Prozent zustand?

RAEDER: Jawohl, nach der Zahl zu urteilen, stimmt das.

DR. SIEMERS: Sie sind dann, Herr Großadmiral, sehr ausführlich über Österreich und die Tschechei gefragt worden. Ich möchte mich, nachdem wir das Thema schon eingehend behandelt haben, nur noch auf eine Frage beschränken. Hatten Sie jemals von Hitler irgendwelche außenpolitische Aufgaben oder Aufträge, und wurden Sie von ihm speziell in außenpolitischen Dingen um Rat gefragt?


RAEDER: Ich wurde niemals um Rat gefragt, und ich habe auch keine außenpolitischen Aufträge gehabt, wenn man nicht die beiden Aufträge, die ich nach meinem Abgang zu erfüllen hatte, in Bulgarien und Ungarn als außenpolitisch betrachtet.


DR. SIEMERS: Bezüglich der Tschechei, und zwar des Dokuments über die sogenannte »Rest-Tschechei«, ist Ihnen vorgehalten worden, ob zu dieser Zeit Hitler Angriffsabsichten auf Prag gehabt hätte. Richtiger muß die Frage wohl lauten: ob mit Absicht auf einen Angriffskrieg. Im Zusammenhang damit ist Ihnen vorgehalten worden das von Göring angekündigte Bombardement Prags, und Sie gaben richtig Sir David zu, daß ein solches Bombardement eine Drohung ist Sir David formulierte es als nahe an einen Angriffskrieg. Um es ganz klarzustellen bitte ich, diesem Gericht zu sagen, wann haben Sie von diesem geplanten Bombardement auf Prag erfahren?


RAEDER: Unter allen Umständen erst nach der Erledigung der ganzen Angelegenheit gesprächsweise, aber ich habe keine Ankündigung gehört, oder sonst nichts davon gewußt vorher.


DR. SIEMERS: Vor der Besetzung von Prag haben Sie nichts gewußt?


RAEDER: Nein, zumal ich ja überhaupt von den militärischen Unternehmungen gegen Prag nichts wußte.


DR. SIEMERS: Dann das Dokument C-100.

Herr Präsident, es ist gestern überreicht worden mit der Nummer GB-464.


[263] VORSITZENDER: 463, ich habe es hier.


DR. SIEMERS: Ich bitte um Verzeihung, es ist 463. Ich möchte aus diesem Dokument Ihnen von Seite 10, das ist von der Anlage Seite 3, Ziffer 6, folgenden Satz vorhalten, ich zitiere:

»Führer fragte Ob.d.M., ob besondere Wünsche der Marine, betreffend Stützpunkte an holländisch- belgischer Küste, vorliegen. Ob.d.M. verneint, da Stützpunkte im englischen Küstenvorfeld liegen und als U-Bootbasis daher unbrauchbar.«

Herr Zeuge, Sie sind demnach weder für eine Besetzung von Belgien und Holland eingetreten noch haben Sie sich irgendwie mit dieser Frage beschäftigt.

RAEDER: Ich habe immer den Standpunkt vertreten, daß es eine Erfahrung des Weltkrieges sei, daß Belgien und Holland für die Marine keine nutzbaren Stützpunkte geben, weil die sämtlichen Streitkräfte in voller Kontrolle der englischen Luftwaffe sich befanden und gerade im Weltkriege ja sehr schwere Kämpfe der auslaufenden U-Boote und der dort stationierten Zerstörer immer stattgefunden hatten. Deswegen erklärte ich mich an Belgien und Holland desinteressiert.

DR. SIEMERS: Ich überspringe dann verschiedene Urkunden und komme auf D-843, GB-466. Das ist die Urkunde, in der Bräuer von der Gesandtschaft Oslo der Meinung Ausdruck gegeben hat, daß die Gefahr einer englischen Besetzung von Norwegen wohl nicht so groß sei und daß einige Handlungen nur vorgenommen würden, um Deutschland zu provozieren. Dazu noch eine Frage: Kannte die Gesandtschaft in Oslo, kannte also Bräuer die Nachrichten, die Sie von Admiral Canaris erhielten?


RAEDER: Das kann ich von mir aus nicht sagen, weil ich mit Dr. Bräuer niemals direkt in Verbindung gestanden habe, sondern nur mit dem Marine-Attaché. Ich möchte aber hinzufügen, daß Dr. Bräuer erst verhältnismäßig kurze Zeit in Oslo war, und daß er offenbar nicht so gut unterrichtet war, und daß er auch die Äußerungen der norwegischen Minister nicht richtig einschätzte.


DR. SIEMERS: Lag nicht eine Anweisung von Hitler vor, das Auswärtige Amt über die eventuellen Pläne bezüglich Norwegen nicht zu orientieren?


RAEDER: Das hat er ausdrücklich angeordnet. Und aus dem Grunde ist ja offenbar auch der Reichsaußenminister selbst ganz spät erst unterrichtet worden.


DR. SIEMERS: Dann hat jedenfalls aus den militärischen Kreisen der Gesandte die Nachrichten von Canaris, soweit Sie es übersehen können, nicht erhalten?


[264] RAEDER: Das ist nicht anzunehmen, nein.


DR. SIEMERS: Es sind dann verschiedene Urkunden vorgelegt, und zwar D-844 und D-845, woraus ebenfalls Ihnen vorgehalten wurde, daß keine Gefahr in Skandinavien bestanden hat. Sind Ihre Nachrichten in dieser Beziehung anders, die Sie damals erhielten?


RAEDER: Jawohl, meine Nachrichten waren am laufenden Bande...


VORSITZENDER: All dies wurde gestern besprochen, und der Zeuge hat dieselbe Antwort gegeben.


DR. SIEMERS: War Ihnen bekannt, ich glaube, das ist nicht zur Sprache gekommen, daß bereits am 5. April Minen in den Hoheitsgewässern von Norwegen gelegt worden sind?


RAEDER: Die Alliierten hatten es bekanntgegeben, meines Wissens am 7. April. Aber die Operation an sich muß schon einige Tage vorher angelaufen sein.


DR. SIEMERS: Herr Großadmiral, Sie haben gestern die Frage, was sich...


VORSITZENDER: Dr. Siemers, der einzige Zweck des Rückverhörs ist, Punkte vorzubringen, die Ihrem Klienten zum Vorteil gereichen und die im Kreuzverhör nicht vorgebracht worden sind, das heißt, Dinge zu klären, die im Kreuzverhör nicht vorgelegt wurden.

Wenn er seine Erklärung im Kreuzverhör abgegeben hat, so hat es keinen Zweck, ihm diese Punkte im Rückverhör nochmals vorzuhalten. Wir haben es gehört.


DR. SIEMERS: Ich glaube, in diesem Punkt fehlt eine Erklärung.


[Zum Zeugen gewandt:]


Sie wurden gestern etwas überraschend gefragt, was sich rein technisch seit 1936 geändert habe und die Rechtslage hinsichtlich des U-Bootkrieges beeinflussen konnte.

RAEDER: Ja!

DR. SIEMERS: Eine etwas schwierige Frage, die sofort in zwei Sekunden zu beantworten ist. Sie haben auf Flugzeuge hingewiesen. Können Sie nicht diesen Punkt etwas ergänzen?


RAEDER: Ja, ich habe eigentlich den Hauptpunkt vergessen, da mir in dem Moment etwas stark entgegengeredet wurde, das ist der, daß die Ortung von Fahrzeugen auf See vom Flugzeug aus in dieser Zeit ganz neu aufgekommen und zu großer Vollkommenheit entwickelt war. Die Entwicklung ging dann während des Krieges in sehr scharfem Maße weiter. Dadurch wurden die U-Boote auf See sehr schnell festgestellt und konnten dann gejagt werden.


[265] DR. SIEMERS: Bezüglich der Urkunde D-841, einem Affidavit von Dietmann, darf ich mit Erlaubnis des Gerichts einen formalen Antrag stellen. Es findet sich in diesem Affidavit folgender Satz:

»Ich persönlich muß annehmen, daß die höheren Dienststellen der Marine in Kiel und in anderen Plätzen in Deutschland von diesen schrecklichen Zuständen gewußt haben müssen.«


VORSITZENDER: Es heißt nicht »gewußt haben«, sondern »gewußt haben müssen«. Es scheint mir, daß es hier in der Übersetzung heißt »gewußt haben müssen«.

DR. SIEMERS: Ja, ich habe die deutsche Urfassung nicht, und ich weiß nicht, wie das Original lautet, ich habe nur die englische Übersetzung bekommen. Also mir ist nicht ganz klar, wie die deutsche Fassung in dieser Beziehung ist. Ich bitte, das verehrliche Gericht...


VORSITZENDER: Ist das Dokument ursprünglich in deutscher oder in englischer Sprache abgefaßt worden? Die Zeugenaussage ist vermutlich deutsch.


DR. SIEMERS: Ich vermute, daß die Erklärung ursprünglich deutsch war, denn es steht bei meinem Exemplar darüber, daß es eine Übersetzung ist, und diese ist auf englisch. Ich habe aber das deutsche Original nicht gesehen.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft, dem Zeugen muß doch gestern ein deutsches Exemplar vorgelegt worden sein. Ich weiß zwar nicht, ob es das Original ist. Ich sah es nicht, aber ich vermute es.


VORSITZENDER: War es nicht so, daß die Zeugenaussage in deutscher Sprache abgegeben und dann ins Englische übersetzt und wieder ins Deutsche zurück übersetzt worden ist?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft, deshalb nehme ich an, daß es das Original war. Es tut mir leid, daß es gemacht wurde. Ich habe zwar nicht das Originaldokument vor mir liegen, aber ich nehme an, daß das so war. Ich werde es gleich feststellen lassen.


VORSITZENDER: Ja, worum handelt es sich jetzt, Dr. Siemers?


DR. SIEMERS: Ich glaube nicht, daß dieser Satz die Bezeugung einer Tatsache ist; infolgedessen stelle ich den Antrag, diesen Satz aus der Urkunde zu streichen.


VORSITZENDER: Sie meinen, Sie beantragen seine Streichung, oder...?


DR. SIEMERS: Ja.


VORSITZENDER: Was sagen Sie, Sir David?


[266] SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! In den vorhergehenden Teilen des Affidavits beschreibt der Zeuge alle Tatsachen. Es stimmt zwar, daß er dann schreibt: »Ich persönlich muß annehmen...« Aber der Kernpunkt der Aussage ist, daß auf Grund dieser Tatsachen, die ich erwähnt habe, »... die höheren Dienststellen der Marine in Kiel und in anderen Plätzen Deutschlands von diesen schrecklichen Zuständen gewußt haben müssen.«

Jemand, der in dieser Abteilung der deutschen Marine arbeitete und der weiß, welche Verbindung zwischen dieser Abteilung und der Zentrale bestanden, ist in der Lage festzustellen, ob die Zentrale von den Tatsachen, die er angegeben hat, Kenntnis haben würde. Die Folgerung, die er zieht, hat einen größeren Beweiswert als eine Folgerung, die der Gerichtshof daraus ziehen kann. Der Einspruch gegen eine Erklärung, die eine Ansichtssache ist, wird dort erhoben, wo ein Zeuge seine Meinung über eine Angelegenheit äußert, über die sich der Gerichtshof auf Grund derselben Tatsachen genau so seine Meinung bilden kann. Aber diese Erklärung ist deshalb wichtig, weil er sagt, dort arbeitend und vertraut mit dem Befehls- und Mitteilungsweg, und ich behaupte, daß jeder Mensch in Kiel aus diesen Tatsachen ableiten konnte, was an diesen Orten vor sich ging. Das ist der naheliegendste Punkt, nämlich ob seine besonderen Kenntnisse ihn berechtigen, eine Meinung zu äußern, zu der der Gerichtshof ohne diese besonderen Kenntnisse nicht zu gelangen in der Lage wäre.


VORSITZENDER: Aber müßte er nicht theoretisch alle Tatsachen angeben. Gibt er dann alle Tatsachen an, so ist der Gerichtshof in derselben Lage wie er, um sich ein Urteil zu bilden, und damit ist es Sache des Gerichtshofs, sich das Urteil zu bilden.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Das ist genau der Punkt, auf den mein Argument hinzielt, nämlich, daß es noch eine zusätzliche Tatsache gibt. Auf Grund seiner dortigen Arbeit gehörte er zum Marinebefehlsweg, und er spricht von seiner Kenntnis des Marinekommandos vom Standpunkt eines Mannes, der dort gearbeitet hat. So beruht seine Meinung darüber auf Kenntnissen, die auf die Quelle zurückgehen, und die Notwendigkeit seines konstruktiven Wissens ist eine zusätzliche Tatsache.

Euer Lordschaft! Die Geistesverfassung und die Art und Weise, mit der er sein Wissen vorbringt, kann unter Umständen genau so eine Tatsache sein, wie dies festgestellt wurde,... wie Lord Bowen es einmal gesagt hat.


VORSITZENDER: Ja, wenn der Stand seines Wissens direkt für einen Punkt erheblich ist.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, Euer Lordschaft, darum handelt es sich hier.


[267] VORSITZENDER: Es ist eine Art Sachverständigenaussage.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! In einem Sinn ist es nicht, wie Euer Lordschaft sagen, in einer Form, es ist nicht in der üblichen Form, aber es ist die Aussage eines Mannes, der besondere Kennt nisse hat. Euer Lordschaft, es ist eine wohlbekannte Unterscheidung zum Beispiel in den Gesetzen über Verleumdung zwischen Personen, die Sachverständigenkenntnisse haben, und dem großen Publikum; und Euer Lordschaft, die Ansicht von jemandem, der über besondere Kenntnisse von den Tatsachen verfügt, muß wohl, Euer Lordschaft, Beweiswert im Sinne von Artikel 19 des Statuts besitzen. Euer Lordschaft, wenn die Bestimmung, daß dieser Gerichtshof an technische Beweisregeln nicht gebunden ist, überhaupt Bedeutung haben soll, dann möchte ich behaupten, daß dies sich auch auf eine Meinungsäußerung über einen solchen Punkt bezieht; das ist die Fähigkeit, Kenntnisse zu haben, die von jemandem stammen, der in einer besonderen Stellung ist, solche Meinungen zu äußern.


VORSITZENDER: Das ist nur ein ganz geringfügiger Punkt, Sir David, und wir müßten die Angelegenheit entscheiden und unsere eigene Meinung darüber bilden, und schließlich ist dieser Mann nicht hier, damit man ihn über derartige Dinge ins Kreuzverhör nimmt.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein, das stimmt, Euer Lordschaft. Aber, mit Respekt gesagt, das ist zweischneidig. Ich meine, er gibt hier ein Affidavit, und ein Teil desselben bildet die Grundlage für diese Schlußfolgerung. Ich möchte mit Respekt behaupten, daß diese Schlußfolgerung die Feststellung einer Tatsache ist; aber wenn Euer Lordschaft es wünschen, so werden wir zu einem späteren Zeitpunkt darum ersuchen, diese Schlußfolgerung als Sache des Arguments selbst zu ziehen; aber, Euer Lordschaft, allgemein gesprochen habe ich nur deshalb soviel Zeit des Gerichtshofs in Anspruch genommen, weil Artikel 19 von der Anklagevertretung als wichtig betrachtet wird, und wir uns daher gegen irgendwelche Versuche, ihn zu begrenzen, wehren müssen. Das ist der einzige Grund, warum ich die Zeit des Gerichtshofs in Anspruch genommen habe.


DR. SIEMERS: Herr Präsident! Darf ich nur auf einen Punkt noch hinweisen. Sir David sprach eben von dem wohlbekannten juristischen Unterschied. Gerade darauf möchte ich mich stützen, auf den Unterschied zwischen Tatsache und Meinung. Hier ist von Meinung die Rede, und ich bitte zu beachten, daß der darauffolgende Satz sogar noch weiter geht. Da kommt der Zeuge zu einer rechtlichen Meinung und sagt nun sogar, wer verantwortlich ist. Er macht also praktisch eine Art Gerichtsurteil. Ferner bitte [268] ich zu bedenken, daß es sich um einen ganz kleinen untergeordneten Beamten handelt, der ja schließlich nicht so weitgehende Dinge sagen kann, also Dinge angeben kann, indem er sagt, daß höhere Formationen in Kiel und anderen Plätzen in Deutschland, völlig allgemein gehalten, in Deutschland, Kenntnis haben.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich vertagen.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Bevor sich der Gerichtshof vertagt, möchte ich eine Berichtigung geben und um Entschuldigung bitten. Euer Lordschaft, ich dachte, daß von diesem Affidavit ein deutsches Exemplar gestern dem Zeugen vorgelegt worden sei, und es war offenbar ein englisches Exemplar. Das ursprüngliche Affidavit wurde abgesandt am 6. Mai und telephonisch von Oberst Phillimore bestätigt. Es ist noch nicht eingetroffen. Ein englisches Exemplar wurde übersandt, wird jetzt bearbeitet, und das Original wird vorgelegt werden, sobald es eintrifft, Euer Lordschaft, ich dachte, wir hätten das Original, aber offenbar ist es noch nicht angekommen. Dem Angeklagten wurde ein englisches Dokument vorgelegt.


VORSITZENDER: Wollen Sie Dr. Siemers das Original zur Einsicht geben, sobald es eintrifft?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja!


[Das Gericht setzt die Verhandlung für 10 Minuten aus.]


VORSITZENDER: Der Gerichtshof hat den Antrag von Dr. Siemers sorgfältig geprüft und hat entschieden, daß die Stelle, gegen die er Einspruch erhebt und deren Streichung aus dem Affidavit des Walter Kurt Dietmann er bei dem Gerichtshof beantragt hat, mit Rücksicht auf Artikel 19 des Statuts nicht gestrichen wird. Der Satz enthält lediglich eine Meinungsäußerung, und der Gerichtshof wird diese Meinungsäußerung in ihrem Verhältnis zum gesamten Beweismaterial prüfen, wenn es dem Gerichtshof vorliegt. Der Gerichtshof wird dann über den Beweiswert dieser Meinungsäußerung und auch den Beweiswert des anderen Beweismaterials entscheiden.

DR. SIEMERS: Ich habe dann nur noch eine...


VORSITZENDER: Dr. Siemers! Darf ich Sie daran erinnern, daß Sie uns sagten, Sie hofften für das Rückverhör nur eine halbe Stunde zu benötigen.


DR. SIEMERS: Ja, Herr Präsident, entschuldigen Sie, ich bin sofort fertig.

Herr Großadmiral, Sir David hat gestern im Zusammenhang mit dem schon viel besprochenen Kommandobefehl Ihnen den Fall vorgehalten bezüglich des Angriffs auf den »Tirpitz«. Ich darf Sie [269] in diesem Zusammenhang fragen: Erinnern Sie sich, daß es sich hierbei – er kam vor bei der Vernehmung von Wagner – um den britischen Matrosen Evans handelt?


RAEDER: Ja!


DR. SIEMERS: Und erinnern Sie sich, daß nach dem Affidavit von Flesch D-864, GB-57, Flesch erklärt hat: »Mir ist nicht bekannt, daß Evans eine Uniform trug«?


RAEDER: Jawohl!


DR. SIEMERS: Ich brauche Ihnen die Urkunde nicht erst vorzulegen?


RAEDER: Nein, ich erinnere mich.


DR. SIEMERS: Erinnern Sie sich weiter, daß in der Urkunde UK-57, die am gleichen Tage bei der Vernehmung von Wagner vorgelegt wurde, erklärt ist, »daß der britische Matrose Evans in Zivil festgenommen wurde«?


RAEDER: Jawohl, ich habe das hier vor mir stehen.


DR. SIEMERS: Das war der eine Fall, wo der SD auf Grund des Kommandobefehls eine Ermordung ohne Wissen der Marine vorgenommen hat.


RAEDER: Jawohl, und der Mann war auch von der Polizei oder vom SD verhaftet worden, nicht von der Marine. Er war nur vernommen worden inzwischen von dem Admiral.

DR. SIEMERS: Der zweite Fall, der Ihnen vorgeworfen war, ist der Sabotageanschlag an deutschen Schiffen vor Bordeaux; auch dies habe ich neulich bei der Vernehmung mit Wagner geklärt.

Erinnern Sie sich, daß in diesem Dokument ebenfalls stand, daß die Betreffenden in Zivilkleidern nach Spanien zu entkommen versuchten?


RAEDER: Jawohl!


DR. SIEMERS: Herr Großadmiral, sind jemals bei der Kleinkampfwaffe, die gestern erwähnt wurde, die von Vizeadmiral Heye geleitet wurde, unsere Soldaten in Zivil aufgetreten?


RAEDER: Nein, das gab es nicht.


DR. SIEMERS: Nur in Uniform?


RAEDER: Jawohl, nur in Uniform. Es war eine Waffe genau so wie die U-Bootwaffe, Schnellbootwaffe und so weiter.


DR. SIEMERS: Ich habe dann als letztes nur noch, Herr Präsident, darauf hinzuweisen, auf die gestern von Oberst Pokrowsky eingereichte Urkunde USSR-460. Betrifft die Moskauaufzeichnungen...


[270] OBERST POKROWSKY: Hoher Gerichtshof! Im Zusammenhang mit dem gestrigen Gerichtsbeschluß, den übrigen Verteidigern Auszüge aus dem Dokument USSR-460 zu übergeben, haben heute die Vertreter der Anklagebehörde ihre Meinungen darüber getauscht. Die Anklagevertreter der Vereinigten Staaten, vertreten durch Herrn Dodd, die Anklagevertretung Englands, vertreten durch Sir David Maxwell-Fyfe, und die Sowjetanklagevertretung sind zu dem Entschluß gelangt, Sie um Genehmigung zu bitten, daß wir die drei kurzen Auszüge mit Bezug auf Dönitz, Keitel und Jodl, welche der Gerichtshof gestern bei der Annahme unseres Dokuments nicht vorlesen ließ, heute verlesen zu dürfen, damit diese Auszüge im Gerichtsprotokoll enthalten sind. Wenn wir den Gerichtshof recht verstanden haben, so beruhte seine Entscheidung auf Zeitmangel, da sich die Verhandlung zu lange hinzog. Deshalb sind drei Absätze, die von unserem Standpunkt aus sehr wichtig sind, und deren Richtigkeit der Angeklagte Dönitz1 gestern bestätigte, nicht im Sitzungsprotokoll enthalten. Deshalb bitte ich im Namen der drei Anklagebehörden um fünf Minuten Zeit, um diese Auszüge in das Protokoll verlesen zu können.


VORSITZENDER: Was wäre der beste Weg, Dr. Siemers? Möchten Sie, daß die Sache jetzt verlesen wird, so daß Sie dann dazu Fragen stellen können?


DR. SIEMERS: Herr Präsident, darf ich eben zu dieser Urkunde etwas sagen?

Die Sowjet-Delegation ist so liebenswürdig gewesen, mir das Original zur Verfügung zu stellen. Ich habe mir das Original gestern angesehen und mir auch den Auszug angesehen. Die Sowjet-Delegation ist ferner so liebenswürdig, eine Photokopie dieser betreffenden Teile dem Gerichtshof an Stelle des Originals, das die Sowjet-Delegation behalten möchte, einreichen zu wollen. Ich bin absolut mit diesem Vorgehen einverstanden und habe persönlich nicht die Absicht, irgendwelche Fragen dazu zu stellen, da es sich um ein klares Dokument handelt.


VORSITZENDER: Sehr gut!


DR. SIEMERS: Ich möchte deshalb bitten, daß die gestrige Meinung des Gerichts bestehen bleibt, die Dinge nicht erst weiter vorzulesen, genau so wie ja andere Dokumente, die allgemein im Gerichtssaal bekanntgeworden sind und gelesen wurden, auch nicht extra vorgelesen worden sind.


VORSITZENDER: Oberst Pokrowsky! Das Dokument war ursprünglich in deutscher Sprache abgefaßt. Vermutlich ist es ins Russische übersetzt worden. Sicherlich ist es ins Englische übersetzt [271] worden. Wenn die französischen Mitglieder der Anklagebehörde nicht eine Verlesung wünschen, weil es noch nicht ins Französische übersetzt worden ist, hat es keinen Zweck, die Zeit des Gerichtshofs darauf zu verwenden, es in das Protokoll zu verlesen. Wir haben das Dokument in englischer Sprache erhalten und haben es alle gelesen.


MR. DODD: Herr Präsident! Ich glaube, es besteht doch ein Grund. Selbst wenn es in das Protokoll verlesen werden sollte, so wird es zumindest morgen werden, bis die Exemplare für die betroffenen Angeklagten zur Verfügung stehen, und dieser Zeuge oder dieser Angeklagte wird den Zeugenstand bereits verlassen haben. Wenn Sie ihn über das, was er über sie gesagt hat, kreuzverhören wollen, dann müßten wir, wie ich annehme, diesen Angeklagten in den Zeugenstand zurückbringen. Ich glaube, wir würden damit viel mehr Zeit verlieren als wenn Oberst Pokrowsky jetzt fünf Minuten braucht, um es zu verlesen. Sie werden es alle hören, und wenn Sie dazu Fragen stellen wollen, können Sie das sofort tun.


VORSITZENDER: Sehr gut, sehr gut.

Dr. Siemers! Wenn Sie dazu keine Fragen stellen wollen, können Sie Ihr Kreuzverhör jetzt abschließen, und dann kann Oberst Pokrowsky das Dokument verlesen.

Dann können die anderen Angeklagten, wenn sie dies tun wollen, Fragen an den Zeugen richten.


DR. SIEMERS: Jawohl!


VORSITZENDER: Wäre das nicht der beste Weg, Oberst Pokrowsky?


OBERST POKROWSKY: Ja, sicherlich.


DR. SIEMERS: Ich bin damit einverstanden, Herr Vorsitzender, aber ich glaube, daß dieses Dokument nicht verlesen werden braucht. Herr Dodd hat insofern einen kleinen Irrtum begangen, wenn er meint, daß die Angeklagten dieses Dokument noch nicht kennen. Sie kennen es alle, und auch die Verteidiger kennen es, und ich glaube, es ist nicht unbedingt erforderlich; aber letzten Endes soll es mir gleich sein.


VORSITZENDER: Wenn die Verteidiger eine Verlesung nicht verlangen, dann wünscht auch der Gerichtshof nicht, daß es verlesen wird, sofern nicht Verteidiger Fragen dazu stellen wollen.


FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Herr Vorsitzender, ich lege als Verteidiger von Großadmiral Dönitz keinen Wert auf die Verlesung. Ich kenne das Dokument.


[272] DR. SIEMERS: Ich höre soeben, daß die Verteidiger das Dokument kennen und keinen Wert auf die Verlesung legen und auch keine Fragen zu stellen wünschen.


VORSITZENDER: Gut, dann Herr Dodd und Oberst Pokrowsky, scheint es keinen Zweck zu haben, es zu verlesen.


MR. DODD: Nein, ich bin zufriedengestellt, Herr Präsident. Ich habe noch nichts vom Anwalt Keitels gehört, er scheint einverstanden zu sein. Ich befürchte nur, daß vielleicht später – es ist ein für uns sehr interessantes Dokument natürlich – eine Frage entstehen könnte. Ich stehe dem Wunsch dieser Angeklagten, das Dokument nicht öffentlich zu verlesen, ebenfalls sympathisch gegenüber.

Der Verteidiger von Schacht hat sich auch nicht geäußert. Ich denke es wäre gut, Herr Präsident, wenn wir von allen Verteidigern eine klare Erklärung hätten, daß sie darüber keine Frage zu stellen wünschen, so daß wir völlig sicher sind, daß es nicht nochmals angeschnitten wird.


VORSITZENDER: Gut! Ich glaube, alle Verteidiger sind anwesend oder alle Angeklagten sind vertreten, und sie müssen es verstehen, was ich sage. Ich schließe aus ihrem Schweigen, daß sie mit dem, was Dr. Siemers gesagt hat, einverstanden sind und daß sie das Dokument nicht verlesen haben wollen und keine Fragen zu stellen wünschen.


OBERST POKROWSKY: Ich habe Ihre Entscheidung nicht verstanden, Herr Präsident. Erlauben Sie mir, diese wenigen Auszüge in das Protokoll zu verlesen oder nicht?


VORSITZENDER: Nein, Oberst Pokrowsky. Ich sage, daß das Dokument, da die Verteidiger eine Verlesung nicht wünschen, nicht verlesen werden braucht.


OBERST POKROWSKY: Wir messen diesem Dokument große Bedeutung bei, Herr Präsident; es berührt nicht nur die Interessen der Verteidiger, sondern auch die Interessen der Anklagebehörde. Das Dokument wurde gestern vom Gerichtshof angenommen, jedoch wurde aus irgendeinem Grund nur ein kleiner Teil der Charakterisierung, die Admiral Raeder darin gibt, in das stenographische Protokoll des Tages aufgenommen. Ich sehe keinen Grund, warum diese Auszüge nicht in das Protokoll verlesen werden sollten, und warum der Zeuge Raeder, der die Angeklagten Dönitz, Keitel und Jodl gut kannte, die Auszüge nicht hier und jetzt hören soll.


VORSITZENDER: Oberst Pokrowsky und Dr. Siemers, der Gerichtshof hat gestern verfügt, daß es unnötig sei, das Dokument hier zu verlesen, und der Gerichtshof bleibt bei dieser Entscheidung mit Rücksicht auf den Umstand, daß die Verteidiger die Verlesung nicht wünschen und keine Fragen diesbezüglich zu stellen haben.

[273] Ja, Dr. Siemers?

DR. SIEMERS: Herr Präsident, ich beendige damit mein Kreuzverhör von Großadmiral Raeder. Ich weiß nicht, ob sonst noch irgendwelche Fragen an Großadmiral Raeder zu stellen sind.


VORSITZENDER: Sind durch das Kreuzverhör Fragen entstanden, die die Verteidiger stellen wollen?


FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich möchte noch zwei Fragen stellen.

Herr Großadmiral! Im Kreuzverhör sind Ihnen Befehle und Denkschriften über den U-Bootkrieg vorgehalten worden. Fühlen Sie sich verantwortlich für diejenigen Befehle über den U-Bootkrieg, die Sie während Ihrer Zeit als Oberbefehlshaber erlassen haben?


RAEDER: Ich fühle mich voll verantwortlich für die gesamten Befehle über den U-Bootkrieg, der unter meiner Verantwortung ja stattfand, ebenso wie für jede von mir befohlene Seekriegshandlung. Ich habe in der Seekriegsleitung mit den Offizieren der Skl die Weisungen ausgearbeitet, die Denkschriften gebilligt und genehmigt und danach die Befehle erteilt, der B.d.U. war lediglich der taktische Führer der U-Boote. Er gab die Befehle weiter und leitete die Operationen im einzelnen.


FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Herr Großadmiral, Sir David hat Ihnen gestern vorgehalten, daß er nicht feststellen könne, wer eigentlich den Befehl gegeben hat, das Logbuch des U-Bootes zu ändern, das die »Athenia« versenkt hat.

Admiral Godt hat hier auf meine Frage ausgesagt, daß er diesen Befehl gegeben habe im Auftrage von Admiral Dönitz. Kennen Sie irgendwelche Tatsachen, die diese Aussage von Admiral Godt als unrichtig hinstellen?


RAEDER: Ich habe mich wirklich um diese Sache überhaupt nicht gekümmert. Ich habe nur die drei Punkte befohlen, die hier wiederholt genannt worden sind.


FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Sie halten also die Aussage von Admiral Godt für richtig?


RAEDER: Ich nehme an, daß das richtig ist, da er ja sonst alles sehr zuverlässig aussagte hier.


FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich habe keine weiteren Fragen.


VORSITZENDER: Der Angeklagte kann sich auf die Anklagebank zurückbegeben.


[274] DR. SIEMERS: Ich bitte dann mit Erlaubnis des Gerichts, meinen ersten Zeugen, den früheren Reichsminister Severing, vorladen zu dürfen.


[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Wie heißen Sie?

ZEUGE KARL SEVERING: Ich heiße Karl Severing, bin 70 Jahre alt und wohne in Bielefeld.


VORSITZENDER: Wollen Sie mir den folgenden Eid nachsprechen: Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.


[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]


VORSITZENDER: Sie können Platz nehmen.

DR. SIEMERS: Herr Minister! Ich bitte Sie, dem Gerichtshof anzugeben, welche Rolle Sie bis 1933 in der Sozialdemokratischen Partei spielten und welche Ministerposten Sie im wesentlichen in der Zeit bis 1933 innehatten.


SEVERING: Ich bin als Sechzehneinhalbjähriger in die Gewerkschaft, als Achtzehnjähriger in die Sozialdemokratische Partei eingetreten, und habe darum verhältnismäßig früh in der Sozialdemokratischen Partei Ehrenstellen bekleidet. Ich wurde im Jahre 1905 Stadtverordneter in Bielefeld, gehörte dem Reichstag vom Jahre 1907 bis zum Jahre 1912 an und wurde wieder Mitglied des Reichstages und zugleich des Preußischen Landtages im Jahre 1919. Ich bekleidete die Mandate zum Reichstag und zum Preußischen Landtag bis zum Jahre 1933. Minister war ich vom Jahre 1920 bis 1921 in Preußen, dann wieder von 1921 bis 1926, von 1930 bis zum Jahre 1933 und zwischendurch vom Jahre 1928 bis zum Jahre 1930 Reichsinnenminister.


DR. SIEMERS: Wann und weshalb sind Sie aus dem öffentlichen Leben ausgeschieden?


SEVERING: Aus dem amtlichen öffentlichen Leben bin ich ausgeschieden im Juli 1932, aus dem politischen in der Zeit, in der das Verbot gegen die Sozialdemokratische Partei erlassen wurde.


DR. SIEMERS: Sind Sie anläßlich Ihres Ausscheidens 1933 oder später verhaftet worden und gegebenenfalls auf wessen Befehl?


SEVERING: Ich wurde an dem Tage verhaftet, an dem im Reichstag das Ermächtigungsgesetz über die neue Regierung behandelt und verabschiedet werden sollte.

Den Befehl zur Verhaftung hatte der damalige Innenminister, Herr Göring, erteilt, der damals aber auch zu gleicher Zeit Reichstagspräsident war, und, wenn ich hier ein Werturteil abgeben darf, [275] die Verpflichtung gehabt hätte, als Reichstagspräsident die Immunität der Abgeordneten zu schützen. Ich wurde unter Bruch der Immunität in dem Augenblick verhaftet, in dem ich das Reichstagsgebäude betreten hatte.


DR. SIEMERS: Herr Minister! Sie haben aber an der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz teilgenommen?


SEVERING: Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion hatte gegen meine Behandlung Beschwerde beim Reichstagspräsidenten Göring erhoben, die den Erfolg hatte, daß ich zur Abstimmung beurlaubt wurde. Die Abstimmung war aber bereits geschlossen. Es hat dann aber der Reichstagspräsident Göring gestattet, daß ich die Nein-Stimme gegen das Ermächtigungsgesetz noch abgeben durfte.


DR. SIEMERS: Sie sind dann aber nur ganz kurz verhaftet gewesen?


SEVERING: Ich mußte mich am nächsten Tage zu weiteren Vernehmungen stellen und konnte am zweiten Tage Berlin verlassen, mit der Auflage, in meiner Heimat in Bielefeld mich für weitere Vernehmungen bereit zu halten.


DR. SIEMERS: Sie sind trotz Ihrer bekannten antinationalsozialistischen Einstellung später nicht verhaftet und etwa in ein Konzentrationslager gebracht worden, soweit mir bekannt ist.


SEVERING: Ich war nicht in einem Konzentrationslager. Das verdanke ich aber ausschließlich der Achtung und der Verehrung – das darf ich ohne Ruhmredigkeit sagen – die mir die alten preußischen Beamten, also meine früheren Beamten, entgegenbrachten. Im Oktober des Jahres 1933 erfuhr ich von dem Polizeipräsidenten in Bielefeld, daß man gegen mich etwas im Schilde führe. Die Polizeiverwaltung ließ mich wissen, daß sie nicht in der Lage sei, mir den erforderlichen Schutz zu gewähren. Sie gab mir den Rat, Bielefeld auf mehrere Monate zu verlassen. Ich habe diesem Rat Folge geleistet und hielt mich vom Oktober 1933 bis Ende März 1934 in Berlin unter einem falschen Namen auf, zunächst abwechselnd bei Freunden, später in einem kleinen jüdischen Sanatorium in Wannsee. Eine weitere Verhaftung drohte im August des Jahres 1944. Auf der Liste der summarisch zu Verhaftenden, also derjenigen Männer und Frauen, die im Verdacht standen am Komplott gegen Hitler beteiligt zu sein, stand auch mein Name, sagte mir einer meiner Bekannten der Polizei.


VORSITZENDER: Haben Sie 1944 oder 1943 gemeint?


SEVERING: 1944, nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli. Darf ich fortfahren?


[276] DR. SIEMERS: Ich bitte darum.


SEVERING: Es war nach dem Attentat auf Hitler eine Verfügung an die Polizeiverwaltungen ergangen, bestimmte Personen in Haft zu nehmen. Auf der Bielefelder Liste dieser Männer stand auch mein Name. Es hat dann ein mir aus meiner früheren Amtszelt bekannter Polizeibeamter darauf verwiesen, daß ich vor Vollendung meines siebzigsten Lebensjahres stände und durch mittelbare Kriegseinwirkung meinen Sohn verloren habe. Durch diese Hinweise ist es ihm gelungen, meinen Namen von der Liste zu streichen.


DR. SIEMERS: Sind Ihnen, abgesehen von den eben geschilderten Dingen, durch die Nationalsozialisten sonst Nachteile zugefügt worden?


SEVERING: Die weiteren Nachteile bestanden darin, daß ich in meiner Freizügigkeit erheblich eingeschränkt war. Es hat mich zwar nicht sonderlich verwundert, daß Post und Telephon unter Zensur gestellt wurden, das habe ich als selbstverständlich betrachtet, aber ich konnte auch keine Reise unternehmen, ohne von Polizeibeamten beobachtet und bespitzelt zu werden.

Verzeihen Sie, Herr Rechtsanwalt, darf ich Sie auf folgendes aufmerksam machen: Außer materiellen Schädigungen gibt es auch ideelle, und ideelle sind mir in der Tat von der Nationalsozialistischen Partei nach ihrem Machtantritt viele zugefügt worden. Eine politische Maßnahme, die aus Anlaß der Wahlen des Jahres 1932 getroffen war, ist gegen mich ausgenützt worden; ich darf sagen im kriminellen Sinne: Man hat von meinem Freunde Braun und mir als den Millionendieben gesprochen und diese Bezeichnung auch auf meine Familienmitglieder ausgedehnt.


VORSITZENDER: Herr Dr. Siemers, wird dieser Zeuge irgendwelche Aussagen machen, die für den Fall des Angeklagten erheblich sind?


DR. SIEMERS: Ja!


VORSITZENDER: Gut. Bringen Sie ihn so schnell wie möglich dorthin!


DR. SIEMERS: Ja, ich werde es tun, Herr Vorsitzender.

Herr Minister, ich bitte Sie, sich in dieser Beziehung kurz zu fassen. Es ist sicherlich richtig, daß Ihnen auch in ideeller Beziehung Nachteile entstanden sind. Ich möchte nur gern als Grundlage des Verhörs feststellen, ob ganz schwerwiegende Nachteile entstanden sind und darf Sie bitten, noch ganz kurz zu sagen, ob Sie vom Nationalsozialismus Ihrem Rechtsanspruch gemäß...

VORSITZENDER: Dr. Siemers, inwiefern ist dies für Raeders Fall erheblich?


[277] DR. SIEMERS: Herr Vorsitzender, ich möchte gerne darauf hinaus, daß nach der kurzen Schilderung des Lebens des Ministers Severing während des Nazismus klargestellt wird, daß er die Fragen, die Raeder betreffen, völlig unbeschwert von einer Einstellung, also völlig objektiv geben kann, da er auf der einen Seite keine Vorteile, sondern auch Nachteile erlitten hat, aber auf der anderen Seite...


VORSITZENDER: Gut, Sie haben die Nachteile genügend behandelt. Gehen Sie doch zu den Sachen Raeders über. Er hat uns sein Leben von 1933 bis 1944 in großen Zügen geschildert, und das sollte genügen.


DR. SIEMERS: Die Anklagebehörde hat dem Angeklagten Raeder vorgeworfen, daß er als Chef der Marineleitung gegen den Versailler Vertrag verstoßen hätte, und zwar in der Absicht, Angriffskriege zu führen und zweitens, hinter dem Rücken der Reichsregierung. Um die Vernehmung abzukürzen, darf ich Ihnen, Herr Minister, eben referieren, daß feststeht, es ist nicht bestritten und ist geschichtsbekannt, daß Deutschland beim Aufbau der Marine im Rahmen des Versailler Vertrags gegen die Bestimmungen des Vertrags verstoßen hat. Das ist alles dem Gericht bereits bekannt. Bereits vor diesem Termin beantragte die damalige Regierung im Rahmen des Versailler Vertrags den Bau des Panzerkreuzers A. Über den Bau dieses Panzerkreuzers entstand ein großer innerpolitischer Streit. Im Rahmen einer Debatte über diesen Panzerkreuzer vor dem Reichstag haben Sie eine Rede gehalten. Ich habe einen kurzen Auszug aus dieser Rede, den ich Ihnen gerne vorlegen möchte und verlesen möchte. Herr Vorsitzender, es ist Raeder-Exhibit Nummer 5, im Dokumentenbuch I, Seite 13. Der Auszug ist aus einer Rede des Reichsministers a. D. Karl Severing vor dem Deutschen Reichstag am 20. Januar 1928. Herr Minister, zu dieser Zeit waren Sie nicht Minister, sondern Sie hielten die Rede als Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei?


SEVERING: Ja, das ist richtig.


DR. SIEMERS: Der Auszug lautet:

»Nun der Panzerkreuzer. Daß eine Regierung, die genau weiß, welche riesigen Summen wir im nächsten Jahre aufzubringen haben, mit derartigen Forderungen kommt, ist mindestens sehr merkwürdig. Sie sagt, der Friedensvertrag erlaubt's, – jawohl, aber der Friedensvertrag befiehlt auch, Reparationen zu zahlen. Die in diesem Jahre angeforderten 9,3 Millionen Mark spielen erst in ihren Konsequenzen ihre entscheidende Rolle. Und diese Konsequenzen erfordern mehrere hundert Millionen Mark, die in den nächsten Jahren aufzubringen mir ganz unmöglich erscheint. Auch den [278] militärischen Wert der Panzerschiffe kann ich angesichts der Entwicklung der Seekriegswaffe nicht anerkennen. Mag sein, daß diese Panzerschiffe bei der Verteidigung zur See das Rückgrat bilden, wie die Regierung sagt. Aber zu einem lebendigen Gefechtskörper gehören zum Rückgrat noch andere Glieder, gehören U-Boote und Flugzeuge, und solange wir die nicht bauen dürfen, haben Panzerkreuzer auch für die Verteidigung nur geringen Wert.«

Ist dieser Auszug aus Ihrer damaligen Rede richtig wiedergegeben?

SEVERING: Ja, der Auszug ist richtig wiedergegeben.

DR. SIEMERS: Kann man hieraus entnehmen, daß auch die Sozialdemokratische Partei und Sie persönlich seinerzeit der Meinung waren, daß die nach dem Versailler Vertrag gestattete Wehrmacht auch für einen etwaigen Verteidigungskrieg nicht ausreicht?


SEVERING: Das ist richtig.


DR. SIEMERS: Darf ich Sie bitten, dazu etwas ausführlicher Stellung zu nehmen.


SEVERING: Daß das Deutschland gestattete Hunderttausend-Mann-Heer auch für einen Verteidigungskrieg nicht in Betracht kam, wußte und weiß viel leicht heute jeder in Deutschland, der sich mit politischen Dingen beschäftigt. Es war eine üble Situation, in die Deutschland geriet durch die Einlegung des Korridors den östlichen Nachbarn gegenüber. Die insulare Lage Ostpreußens zwang damals schon zu Maßnahmen, die ich sehr ungern mit durchgeführt habe, aber die ostpreußische Bevölkerung hatte ein Anrecht darauf, geschützt zu werden gegen Angriffe, die aus dem Osten drohten. Ich spreche nicht von Angriffskrieg, ich spreche nicht von Plänen der Polnischen Regierung, aber ich verweise darauf, daß in den Jahren 1919, 1920 und 1921 angriffslustige polnische Gruppen deutschen Boden betreten haben, wahrscheinlich in der Absicht, vollendete Tatsachen...


VORSITZENDER: Dr. Siemers! Diese Aussage ist eine Sache des Argumentierens. Sie ist nicht nur Sache des Argumentierens, wir haben vielmehr diese Dinge immer wieder von fast allen Angeklagten und einem großen Teil ihrer Zeugen gehört. Es hilft dem Gerichtshof wirklich nicht, zu wissen, was dieser Zeuge 1928 gesagt hat oder was seine Ansicht im Jahre 1928 war.


DR. SIEMERS: Hohes Tribunal! Ich glaube, das Gericht wird es aus dem weiteren Verlauf ersehen. Minister Severing war Mitglied derjenigen Regierung, die die von dem Angeklagten Raeder bereits erwähnte Kabinettssitzung vom 18. Oktober 1928 durchgeführt hat. Ich bin absolut der Meinung des Gerichts, daß[279] Sie die Dinge schon oft gehört haben, diese Dinge allerdings erst einmal; aber ich darf daran erinnern, daß Sir David gestern noch im Kreuzverhör dem Angeklagten vorgehalten hat, daß er gegen den Willen der Reichsregierung und gegen den Willen der gesetzgebenden Körperschaft, trotz der Aussage Raeders, gegen den Versailler Vertrag verstoßen habe. Wenn also nach der Vernehmung Raeders die Anklage auf diesem Standpunkt steht, dann habe ich keine andere Möglichkeit, die Unrichtigkeit der Auffassung der Anklage zu beweisen, als durch einen Zeugen, der allerdings...


VORSITZENDER: Dr. Siemers! Die Frage, ob der Versailler Vertrag verletzt wurde, ist eine Frage von Tatsachen, und natürlich können Sie dazu Beweismaterial beibringen, und Sie haben es auch in Form der Aussage des Angeklagten Raeder beigebracht Aber dieser Zeuge äußert sich nicht zu der Frage von Tatsachen, er argumentiert, daß Deutschland das Recht hatte, sich zu verteidigen, auch wenn dadurch der Versailler Vertrag verletzt wurde. So verstehe ich seine Aussage, und das ist eine Frage des Argumentierens, keine Frage des Tatbestands.


DR. SIEMERS: Herr Vorsitzender, soweit ich juristisch...


VORSITZENDER: Dr. Siemers, diese Art von Aussagen, wie sie der Zeuge bisher gegeben hat, wird vom Gerichtshof nicht angehört werden. Wenn Sie Tatsachen durch ihn beweisen wollen, können Sie das tun, aber Argumente oder seine Ansicht über Argumente können Sie nicht beweisen.


DR. SIEMERS: Hat Deutschland sich mit seiner Wehrmacht gegen die Einfälle in Schlesien und Polen wehren können?


SEVERING: Mit seiner Wehrmacht hatte es sich in Ostpreußen im Jahre 1920 jedenfalls nicht wehren können. Es war darum notwendig, die Bevölkerung Ostpreußens zu schützen, und das ist dadurch geschehen, daß ich selbst meine Zustimmung dazu gegeben habe, in Ostpreußen aufgefundene Waffen der Bevölkerung auszuhändigen. Die Dinge lagen damals so, daß selbst zu Inspektionsreisen nach Ostpreußen den Eisenbahnweg durch den Korridor zu passieren sehr schwierig und problematisch war, so daß ich im Jahre 1920 eine solche Inspektionsreise auf dem Seeweg von Stolpmünde bis Pillau zurücklegen mußte.

Ich habe diese Tatsache angeführt, um die Schwierigkeiten des Transports durch den Korridor überhaupt zu beweisen. Im Jahre 1920/1921 war es außerdem der deutschen Wehrmacht nicht möglich, die Einfälle polnischer Insurgenten in Oberschlesien abzuwehren, so daß leider auch, ich betone leider, auch in Oberschlesien ein gewisser Selbstschutz eintreten mußte, um deutschen Boden und deutsches Leben zu verteidigen.


[280] DR. SIEMERS: Herr Minister! Die vom Reichswehrminister Groener ab Januar 1928 gewünschten und verantworteten Maßnahmen auf dem Gebiete der Rüstung, beruhten diese, soweit Sie Groener kennen, auf Verteidigungs- oder auf Angriffsgedanken?


SEVERING: Soweit ich Groener kenne und seine persönliche, ich sage wieder persönliche Amtsführung, beruhte alles, was er dachte und ausführte auf dem Verteidigungsgedanken.


DR. SIEMERS: Das trifft dann aber doch auch für den Panzerkreuzer A zu. Da würde es mich interessieren, zu hören, warum die Sozialdemokratische Partei, die die Verteidigung auch wünschte, überhaupt gegen den Bau des Panzerkreuzers war?


SEVERING: Die Sozialdemokratische Partei war im Jahre 1928 gegen den Bau des Panzerkreuzers, weil die wirtschaftliche Situation es geraten erscheinen ließ, keine Ausgaben zu machen, die nicht absolut erforderlich waren, und zum anderen, die Sozialdemokratische Partei wollte den Beweis erbringen, alles zu tun, was in ihren Kräften stand, um das bis dahin viel erörterte Problem der Abrüstung der Verwirklichung zuzuführen. Sie glaubte nicht, daß der Bau eines Panzerkreuzers eine gute Geste für die Einleitung entsprechender Verhandlungen war.


DR. SIEMERS: Herr Minister, am 28. Juni 1928 wurde eine neue Reichsregierung gebildet, und zwar unter Müller als Reichskanzler, Stresemann Außenminister und Sie Innenminister. Wie stellte sich Ihre Regierung zu dem damals schwebenden Problem der im Versailler Vertrag vorgesehenen Abrüstung aller Länder, beziehungsweise der damals schwebenden Aufrüstung Deutschlands?


SEVERING: Ich habe das eben schon angedeutet. Wir waren in der Sozialdemokratischen Partei, aber auch nach dem Eintritt in die Regierung Müller, der Meinung, daß alles aufgeboten werden müßte, um gerade dieses Problem einer Lösung zuzuführen. Im September 1928 ging der damalige Reichskanzler Müller als Vertreter des erkrankten Außenministers Stresemann nach Genf, um dieses Problem auf der Völkerbundstagung zu erörtern. Müller hielt eine sehr entschiedene Rede, die aber von den Staatsmännern der Alliierten, wenn ich mich recht erinnere, sehr kühl aufgenommen wurde, so daß für die nächste Zeit praktische Vorschläge zur Verwirklichung des Abrü stungsgedankens nicht zu erwarten waren.


DR. SIEMERS: Herr Minister! Im Juli 1928 sprachen Sie mit dem Reichswehrminister Groener über Etatsfragen, und zwar darüber, daß auch geheime Etats in der Wehrmacht bekanntgeworden waren, über den Panzerkreuzer und ähnliche Fragen. Welchen [281] Standpunkt haben Sie hierbei eingenommen und zu welchen Ergebnissen kamen Sie dann auf Grund Ihrer Verständigung mit Groener?


SEVERING: Ich darf bei der Beantwortung dieser Frage noch einmal den Auszug aus meiner Rede berühren, Herr Rechtsanwalt, den Sie eben dem Hohen Gericht zur Kenntnis gebracht haben. In derselben Reichstagssitzung, in der ich diese Rede hielt, erschien der Reichswehrminister Groener zum erstenmal als Nachfolger Geßlers. Ich habe dem scheidenden Reichswehrminister Geßler ein paar Worte des Abschieds gewidmet und begrüßte den neuen Wehrminister Groener mit der Bemerkung, daß meine politischen Freunde ihm Achtung entgegenbrächten, daß aber Vertrauen erst erworben werden müsse. Auf diese Bemerkungen spielte Minister Groener offenbar an, als er in der ersten Sitzung der Regierung Müller auf mich zukam und mir sagte, er freue sich auf die Zusammenarbeit mit mir. Ich habe ihm bei der Gelegenheit ein Zitat aus Iphigenie entgegengehalten: Zwischen uns sei Wahrheit! und nur auf Grund dieser absoluten Wahrheit wäre es möglich, ein gedeihliches Zusammenarbeiten herbeizuführen.


VORSITZENDER: Herr Dr. Siemers! Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß dies eine absolute Zeitverschwendung ist, und daß diese Rede des Zeugen völlig unerheblich ist. Warum stellen Sie ihm nicht einige Fragen, die mit dem Fall Raeder etwas zu tun haben?


DR. SIEMERS: Herr Präsident! Darf ich daran erinnern, daß die Anklage vorgeworfen hat, daß der Aufbau durch geheime Etats erfolgt ist, und daß auf geheime Weise ein Aufbau, mit der Absicht, Angriffskrieg zu führen, durchgeführt worden wäre. Infolgedessen weiß ich nicht, wie ich den Zeugen anderes fragen soll, als daß ich ihn danach frage, wie in seiner Regierung diese geheimen Etats, die praktisch zum Teil identisch sind mit den Verstößen gegen den Versailler Vertrag, behandelt worden sind, und das ist das, was ich eben den Zeugen gefragt habe.


VORSITZENDER: In dieser Rede, auf die Sie uns aufmerksam gemacht haben, hat er lediglich gesagt, daß seiner Ansicht nach Panzerkreuzer nutzlos wären. Das ist die einzige Bedeutung der Rede mit Ausnahme des Hinweises auf die Tatsache, daß Reparationszahlungen nicht geleistet wurden. Im übrigen besagt sie, daß seiner Ansicht nach Panzerkreuzer nutzlos wären.


DR. SIEMERS: Herr Präsident! Ich will und darf hier jetzt nicht plädieren. In der Rede, die ich vorgelesen habe, wird etwas anderes gesagt. Es wird gesagt, daß aus wirtschaftlichen Gründen die Sozialdemokraten gegen den Panzerkreuzer waren, nicht aus strategischen Gründen, und daß, wenn man einen Panzerkreuzer...


VORSITZENDER: Was hat das mit der Anklage, einen Angriffskrieg im Jahre 1939 geführt zu haben, zu tun?


[282] DR. SIEMERS: Herr Präsident! Ich habe nicht den Vorwurf des Angriffskrieges erhoben, sondern die Anklage. Ich soll meinen Klienten gegen diesen Vorwurf, daß er 1928 einen Angriffskrieg beabsichtigt hat, verteidigen, und ich behaupte, daß er keine solche Absicht gehabt hat, und daß die Reichsregierung über diese Verstöße orientiert war, die Verantwortung übernommen hat, und es wird das Verhör des Ministers ergeben, daß dies so geschehen ist, und bis gestern ist dieser Punkt noch bestritten worden.


VORSITZENDER: Stellen Sie ihm einige direkte Fragen über Tatsachen! Der Gerichtshof wird sie anhören, wenn sie erheblich sind, aber wir sind der Ansicht, daß die von Ihnen bezüglich seiner Rede vorgebrachte Beweisführung einfach Zeitverschwendung ist.


DR. SIEMERS: Ich werde abkürzen. Ich werde also dementsprechend dem Minister Fragen stellen, die er dann im einzelnen beantworten soll.


[Zum Zeugen gewandt:]


Sie sagten soeben, Sie verlangten von Groener Vertrauen und absolute Wahrheit. Haben Sie ihn in diesem Zusammenhang um Aufklärung ersucht über die geheimen Etats und über die bisher erfolgten Verstöße gegen den Versailler Vertrag?

SEVERING: Ich habe ihn schon deswegen insbesondere um Aufklärung ersucht, weil im Januar 1928 von dem damaligen Reichskanzler Marx offen zugegeben war, daß unter der Führung eines Kapitän Lohmann im Reichsmarineamt oder im Marineamt Etatsverschleierungen vorgekommen waren, die mit einer soliden Haushaltsführung und mit politischer Ehrlichkeit nicht in Einklang zu bringen waren.

DR. SIEMERS: Was hat Ihnen Groener daraufhin erklärt?


SEVERING: Groener hat mir daraufhin erklärt, daß er die Absicht habe, in einer Kabinettssitzung über alle diese Dinge Klarheit zu schaffen.


DR. SIEMERS: Sollten zu dieser Kabinettssitzung die Chefs der beiden Wehrmachtsteile erscheinen?


SEVERING: Sie sollten erscheinen und sind am 18. Oktober 1928 erschienen.


DR. SIEMERS: Herr Minister, wann haben Sie Großadmiral Raeder kennengelernt?


SEVERING: Die erste amtliche Berührung hatte ich nach meiner Erinnerung in den ersten Oktobertagen des Jahres 1928, wahrscheinlich an dem Tag, an dem er mir einen Antrittsbesuch machte.


DR. SIEMERS: Ich habe dem Hohen Gericht als Raeder-Exhibit Nummer 6, das Gericht wird sich erinnern, den Vortrag von Raeder [283] eingereicht vom 23. Januar 1928, mit einem Begleitbrief, den ich dem Zeugen vorlegen lasse.


[Zum Zeugen gewandt:]


Hat nach diesem Dokument Ihre Besprechung mit Raeder am 5. Oktober 1928 stattgefunden, also fünf Tage nach der Ernennung Raeders zum Chef der Marineleitung?

SEVERING: Die Unterredung hat wahrscheinlich an diesem Tage stattgefunden. Darf ich zu diesem Dokument bemerken...

DR. SIEMERS: Einen Moment, Herr Minister. Ich glaube es ist sicherer, wenn Sie den Brief sich ansehen. Dann heißt es dort: »Im Anschluß an unser Gespräch vom 5. Oktober...«


SEVERING: Ja!


DR. SIEMERS: Darf ich Sie bitten, dem Gericht zu bestätigen, daß dieser Vortrag Raeders von Ihnen aufbewahrt wurde und dementsprechend eine richtige Wiedergabe ist?


SEVERING: Der Brief, den ich Ihnen, Herr Rechtsanwalt, zur Verfügung stellte, ist ein Originalbrief Raeders und entspricht den Vorgängen, die Sie eben in Ihrer Aufzeichnung oder in Ihren Bemerkungen geschildert haben.


DR. SIEMERS: Nun hat am 5. Oktober diese Besprechung mit Raeder stattgefunden. Deckte sich diese Unterhaltung zwischen Ihnen und Raeder in den Grundzügen mit den Gedanken dieser Rede?


SEVERING: Jawohl!


DR. SIEMERS: Erinnern Sie sich, daß in dieser Rede Raeder ausdrücklich erklärt hat, daß ein Angriffskrieg ein Verbrechen wäre?


SEVERING: Jawohl, daran erinnere ich mich.


DR. SIEMERS: Haben Sie bei dieser Unterhaltung Raeder gesagt, daß Sie mit Groener verabredet hätten, daß die tatsächlich erfolgten Verstöße gegen den Versailler Vertrag geklärt werden müßten und eine Kabinettssitzung stattfinden solle?


SEVERING: An eine solche Einzelheit erinnere ich mich nicht. Aber sie ist sehr wahrscheinlich.


DR. SIEMERS: Haben Sie von Raeder verlangt, daß zwischen Ihnen und ihm absolute Wahrheit und Offenheit sein müsse?


SEVERING: Auch von Raeder, noch mehr aber von den Befehlshabern des Landheeres.


DR. SIEMERS: Hatten Sie auf Grund dieser Unterhaltung mit Raeder den Eindruck, daß Sie mit Raeder korrekt und angenehm zusammenarbeiten könnten und daß er Ihnen die Wahrheit sagte?


[284] SEVERING: Den Eindruck hatte ich.


DR. SIEMERS: Und nun fand am 18. Oktober 1928 die schon erwähnte Kabinettssitzung statt. Darf ich Sie bitten, diese kurz zu schildern, falls es dem Gericht angenehm ist, daß der Zeuge sie schildert. Ich glaube eine Schilderung erspart Zeit, als wenn ich jede Einzelheit durch eine Frage besonders herausfrage. Aber ich bitte Sie deshalb, Herr Minister, in kurzer Form zu sagen, was sich damals abspielte.


SEVERING: In dieser Sitzung wurden den Kabinettsmitgliedern alle die Dinge im einzelnen angegeben, die man entweder als Etatsverschleierungen ansprechen könnte, oder die auch Verstöße gegen den Versailler Vertrag bedeuteten. Die Schilderungen wurden nach meiner Erinnerung gegeben von beiden Herren, dem Chef der Heeresleitung und dem Chef der Marineleitung.


DR. SIEMERS: War das gesamte Kabinett anwesend?


SEVERING: Vielleicht mit Ausnahme des einen oder anderen erkrankten Mitgliedes. Aber es war eine Sitzung, die man im allgemeinen als Vollsitzung des Kabinetts bezeichnet.


DR. SIEMERS: Die wesentlichsten Mitglieder?


SEVERING: Jawohl!


DR. SIEMERS: Müller, Stresemann waren dabei?


SEVERING: Ich kann nicht sagen, ob Stresemann dabei war. Stresemann war im September noch krank, ob er sich bis zum 18. Oktober wieder erholt hatte, kann ich nicht sagen. Aber ich darf hinzufügen, Herr Rechtsanwalt, wenn Herr Stresemann nicht dabei war, dann war sicherlich ein anderer, autorisierter Vertreter des Auswärtigen Amtes dabei.


DR. SIEMERS: Haben Großadmiral Raeder und General Heye bei dieser Verhandlung vor dem geschlossenen Kabinett ausdrücklich die Versicherung, wenn ich recht erinnere, sogar eidesstattlich, abgegeben, daß nur die von Ihnen vorgetragenen Verstöße vorgekommen sind?


SEVERING: Ob das in dieser feierlichen Form geschehen ist, eidesstattliche Versicherung oder ehrenwörtliche Versicherung, weiß ich nicht. Jedenfalls haben sie auf Ersuchen des Reichskanzlers und insbesondere auf mein Ersuchen erklärt, daß nun weitere Verstöße nicht vorkommen sollen.


DR. SIEMERS: Sie haben also ausdrücklich versichert, daß keine weiteren Verstöße ohne Wissen der Reichsregierung erfolgen sollen?


SEVERING: Ja! Grundsätzlich war es so.


[285] DR. SIEMERS: Und haben darüber hinaus erklärt, daß jetzt das Kabinett voll über alles orientiert worden sei?


SEVERING: Ja!

DR. SIEMERS: Diese Erklärung wurde abgegeben?


SEVERING: Ja, eine solche Erklärung wurde abgegeben.


DR. SIEMERS: Handelte es sich bei diesen geheimen Etats oder bei diesen Verstößen gegen den Versailler Vertrag um wesentliche Dinge?


SEVERING: Ich habe, da ich ja Verstöße gegen den Versailler Vertrag, ich darf es hier sagen und muß es sogar sagen, gewöhnt war, habe ich mich besonders für den Umfang der Verstöße in der Summe interessiert. Ich wollte wissen, was ich nun auf dem neuen Posten, gegen die geheimen Waffenträger, gegen Verbindung mit unerlaubten Organisationen, tun müßte und habe gefragt, welche Gesamtsumme in Betracht käme. Darauf hat man mir geantwortet und nach meiner Erinnerung später auch schriftlich bestätigt, daß diese Überschreitungen oder diese Verschleierungen etwa fünfeinhalb bis sechs Millionen Mark betrugen.


DR. SIEMERS: Herr Minister, Sie erinnern sich der Zahlen und der Haushaltszahlen aus der damaligen Zeit besser als ich. Was ergibt sich aus dieser Zahl? Ergibt sich daraus, daß es schwerwiegende Verstöße sind mit Angriffsabsichten, oder ergibt sich daraus, daß es letzten Endes kleine Verstöße, also Bagatellen sind?

SEVERING: Ich habe die Zahlen des Haushaltsplanes für Heer und Marine nicht hier und kann aus der Erinnerung die einschlägigen Zahlen nicht angeben. Aber der Gesamteindruck von den Schilderungen der beiden Leiter der Heeresabteilungen war der, daß es sich um Bagatellen handle, und dieser Eindruck ist es gewesen, der mich veranlaßt hat, eine gewisse politische Verantwortung für diese Dinge mitzuübernehmen, besonders im Hinblick darauf, daß uns versichert wurde, daß weitere Etatsverschleierungen oder andere Verstöße nicht mehr vorkommen sollten.


DR. SIEMERS: Erinnern Sie sich, daß Groener bei dieser Kabinettssitzung erklärt hat, daß es sich bei diesen kleinen Verstößen überdies nur im wesentlichen um Verteidigungsschutz, nämlich zum Beispiel Küstenausbau, Flakbatterie und ähnliches handelte?


SEVERING: Im einzelnen kann ich darüber heute nichts sagen, ich darf aber daran erinnern, daß alle Reden Groeners in jener Zeit, also in der Zeit, in der er Wehrminister war, auf dieser Urne lagen. Bei allen seinen Reden im Reichstag hat Herr Groener ausdrücklich noch erklärt, er bekenne sich zu einem gesunden Pazifismus. Ich habe Ihnen schon auf Ihre Frage, Herr Rechtsanwalt, [286] geantwortet, daß Groeners Ausführungen, und ich meine auch seine Anweisungen, auf dieser Linie, in der Verteidigung, der Abwehr lagen.


DR. SIEMERS: Am Schluß dieser Sitzung wurde also ausdrücklich die Verantwortung für diese Verstöße und die geheimen Etats in diesem kleinen Umfange übernommen, von der Regierung?


SEVERING: In dem mitgeteilten Umfange.


DR. SIEMERS: Ist dann in Zukunft seitens Raeders stets entsprechend der klaren Anweisung der Reichsregierung gehandelt worden?


SEVERING: So positiv kann ich das nicht beantworten, aber ich kann sagen, daß ich Verstöße der Marineleitung, entgegen den Abmachungen, in meiner Amtszeit als Reichsinnenminister nicht wahrgenommen habe.


DR. SIEMERS: Sind Sie persönlich, da Sie ja Raeder genügend kennengelernt haben, der Überzeugung, daß er die Ihnen gegenüber abgegebene ausdrückliche Verpflichtung keine geheimen Verstöße zu machen, innegehalten hat?


SEVERING: Ich hatte von Raeder den Eindruck einer anständigen Persönlichkeit und habe geglaubt, daß er zu seinem Wort stehen würde.


DR. SIEMERS: Noch eine Frage, Herr Minister. Sie können sich natürlich nicht der Einzelheiten erinnern. Aber erinnern Sie sich vielleicht, daß bei dieser Kabinettssitzung vom 18. Oktober von einer Firma in Holland die Rede gewesen ist, die mit der Konstruktion von U-Booten beschäftigt war?


SEVERING: Nein, Einzelheiten über die Verhandlungen kann ich nicht angeben. Ich weiß aber, daß in jener Zeit viel davon gesprochen wurde, ob in einer anderen Sitzung des Kabinetts oder in einem Unterausschuß des Reichstages oder in einer anderen parlamentarischen Körperschaft, daß Experimentierwerkstätten für Heer und Marine in Rußland, in Schweden und in Holland angelegt worden seien.


DR. SIEMERS: Reine Experimentierwerkstätten erinnern Sie sich, also Versuchswerkstätten?


SEVERING: Ich kann nur sagen, daß in dem Sinne geredet wurde. Ob es solche Experimentierwerkstätten waren, kann ich nicht aus eigener Wahrnehmung bekunden.


DR. SIEMERS: Herr Minister, konnte und durfte Deutschland auf Grund der damaligen Regierungsverhandlungen hoffen, daß es eines Tages trotz des Versailler Vertrags wieder gestattet sein würde, U-Boote zu bauen?


[287] SEVERING: Die leitenden Staatsmänner, insbesondere der Minister...

VORSITZENDER: Herr Dr. Siemers, wie kann er antworten, daß eine Hoffnung bestünde, die Erlaubnis zu erhalten, wieder U-Boote zu bauen? War das nicht Ihre Frage, ob Hoffnung bestand?


DR. SIEMERS: Soviel ich weiß, Herr Präsident, ist über diese Fragen schon während der Regierungen von 1928 bis 1932 außenpolitisch gesprochen worden, und zwar vermutlich durch Stresemann; aber da Stresemann nicht lebt, frage ich Severing.


VORSITZENDER: Dies scheint dem Gerichtshof einfach politischer Klatsch zu sein.


DR. SIEMERS: Herr Minister, von wem war es abhängig, was im Reichstag nun vorgebracht wurde? Raeder wird vorgeworfen, er hätte hinter dem Rücken des Reichstages gehandelt. Wer machte die Vorlage beim Reichstag, machte das Raeder?


SEVERING: Vorlegen, ich verstehe Sie nicht, Etatsvorlagen?


DR. SIEMERS: Ja!


SEVERING: Etatsvorlagen gingen durch die Referenten des einzelnen Ressortministeriums und das gesamte Kabinett, und vom Gesamtkabinett wurden die Vorlagen an den Reichstag gebracht.


DR. SIEMERS: Die Frage der Behandlung der Etats beim Reichstag war also eine Angelegenheit der Reichsregierung und nicht des Chefs der Marineleitung?


SEVERING: Soweit eine Vorlage an den Reichstag ging, hatte sie zwar im Hauptausschuß des Reichstages und in der Vollsitzung der Ressortminister technisch zu vertreten, aber die politische Verantwortung trug dafür das Gesamtkabinett.


VORSITZENDER: Dr. Siemers! Es ist dem Angeklagten Raeder nie zur Last gelegt worden, daß er dem Reichstag den Etat vorlegte; das ist Raeder nicht unterstellt worden.


DR. SIEMERS: Herr Präsident! Es ist gestern behauptet worden...


VORSITZENDER: Argumentieren Sie nicht, setzen Sie mit anderen Fragen fort!


DR. SIEMERS: Erinnern Sie sich ob Sie Ende 1929 sich mit einem Regierungsmitglied unterhalten haben über die verschiedenen maßgebenden Persönlichkeiten in der Wehrmacht, und daß Sie da eine nachher bekannt gewordene Äußerung gemacht haben über bestimmte Persönlichkeiten?


[288] SEVERING: Ja, es ist richtig, daß ich einmal, ich darf wohl sagen, nach der Abstufung meiner Wertschätzung über einige Militärs befragt worden bin. Da habe ich Groener und Raeder genannt.


DR. SIEMERS: Herr Minister, wie viele Konzentrationslager kennen Sie?


SEVERING: Wie viele ich jetzt kenne, oder wollten Sie die Frage an mich richten...


DR. SIEMERS: Verzeihung, nicht jetzt, sondern wie viele Konzentrationslager kannten Sie vor dem Zusammenbruch Deutschlands?


SEVERING: Vielleicht sechs bis acht.


DR. SIEMERS: Herr Minister, wußten Sie vor dem Zusammenbruch, beziehungsweise wußten Sie schon 1944 von den Massenermordungen, die jetzt in diesem Prozeß so oft behandelt worden sind?


SEVERING: Ich habe Kenntnis von den Konzentrationslagern bekommen, als das Morden, wenn ich so sagen darf, handwerklich betrieben wurde, und zwar durch einige Fälle, die mich persönlich tief berührten. Es wurde zunächst der Polizeipräsident von Altona, ein Reichstagsabgeordneter, ein Sozialdemokrat, der auf dem rechten Flügel der Sozialdemokratischen Partei stand, wie mir berichtet wurde, im Lager in Papenburg ermordet.

Ein anderer Freund von mir, der Vorsitzende des Bergarbeiterverbandes, Fritz Husemann, soll in dem gleichen Lager kurz nach seiner Einlieferung ermordet worden sein.

Im Lager Oranienburg soll nach den Berichten seiner Angehörigen ein anderer Freund von mir, Ernst Heinmann, zu Tode geprügelt worden sein.

Dachau war damals auch im Norden Deutschlands als Konzentrationslager bekannt.

Aus Buchenwald kamen im Frühjahr 1939 einige jüdische Insassen zurück und berichteten mir von diesem Lager.

Das Columbia-Haus in Berlin habe ich auch als Konzentrationslager eingeschätzt.

Das war bis zu dem Zeitpunkt, von dem an der Londoner Rundfunk über die Konzentrationslager berichtete, meine einzige Kenntnis von den Lagern und ihren Schrecken.

Im Jahre 1944, diesen Fall darf ich auch noch vortragen, ist nach Verbüßung einer dreijährigen Zuchthausstrafe ein weiterer Freund von mir, der Reichstagsabgeordnete Stefan Meier, in ein Konzentrationslager nach Linz oder bei Linz verbracht worden und auch dort nach kurzem Aufenthalt, nach den Berichten seiner Familie, ermordet worden.


[289] DR. SIEMERS: Herr Minister! Sie haben also nur diese und ähnliche Einzelfälle kennengelernt?


SEVERING: Ja!


DR. SIEMERS: Ihnen ist nicht bekannt geworden, daß Tausende pro Tag in Gaskammern oder sonst im Osten umgebracht worden sind?


SEVERING: Ich habe geglaubt, dem Gericht nur solche Fälle mitteilen zu sollen, die mir als authentisch sozusagen berichtet worden sind. Alles, was ich später erfahren habe, also etwa aus den Schilderungen, aber auch das nur indirekt, meines Freundes Seger oder aus dem Buch des jetzigen Generalintendanten Langhof, alles das ist mir mitgeteilt worden, entzog sich aber in Bezug auf Richtigkeit meiner Kontrolle.


DR. SIEMERS: Herr Minister! Haben Sie und Ihre Parteifreunde die Möglichkeit gehabt, gegen den...


VORSITZENDER: Dr. Siemers! Wollen Sie dieses Verhör beenden oder wollen Sie es fortsetzen? Sehen Sie die Uhr?


DR. SIEMERS: Ja, ich darf es dem verehrlichen Gericht überlassen, ob erst die Pause eintreten soll. Da, soviel ich hörte, doch noch ein Kreuzverhör kommen soll, wäre es vielleicht praktisch jetzt die Pause...


VORSITZENDER: Sie wissen vermutlich, welche Fragen Sie noch stellen wollen, ich weiß es nicht.


DR. SIEMERS: Es wird vielleicht, ich weiß nicht, wieviel der Zeuge antworten kann... es wird vielleicht noch zehn Minuten dauern.


VORSITZENDER: Gut! Wir vertagen uns jetzt bis ein Viertel nach zwei Uhr.


[Das Gericht vertagt sich bis 14.15 Uhr.]


1 Müßte richtig Raeder heißen.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 14.
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