Vormittagssitzung.

[89] GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Der Angeklagte Streicher wird bei dieser Sitzung nicht anwesend sein.

VORSITZENDER: Bitte, Dr. Seidl.


DR. SEIDL: Herr Präsident, meine Herren Richter! Ich komme nun zur Verlesung der Niederschrift über die Befragung des Zeugen Alfred Heß.


VORSITZENDER: Wo können wir diese finden?


DR. SEIDL: Herr Präsident! Ich habe dieses Protokoll über die Vernehmung des Zeugen erst am letzten Samstag bekommen, und ich konnte es infolgedessen noch nicht dem Dokumentenbuch einverleiben. Der Zeuge wurde am 19. März in Bad Mergentheim vernommen.


VORSITZENDER: Wollen Sie damit sagen, daß wir keine Abschriften davon bekommen haben?


DR. SEIDL: Ich weiß nicht, ob der Herr Generalsekretär, von dem ich die Niederschrift bekommen habe, dem Hohen Gerichtshof eine Abschrift zur Verfügung gestellt hat.


VORSITZENDER: Dann fahren Sie am besten fort. Fahren Sie fort.


DR. SEIDL: Jawohl. Vor Beantwortung der ersten Frage schickte der Zeuge eine kurze Bemerkung voraus, die folgendermaßen lautet:

»Zu bemerken ist, daß ich meine Tätigkeit in der Auslandsorganisation der NSDAP im Anschluß an den Englandflug meines Bruders Rudolf Heß, Stellvertreter des Führers, einstellen mußte. Daher gilt meine nachstehende Aussage nur für die Zeit bis zum 12. Mai 1941.

Die erste Frage: Welches waren die Aufgaben und der Zweck der Auslandsorganisation der NSDAP?

Antwort: Zweck der Auslandsorganisation war die kulturelle, soziale und wirtschaftliche Betreuung aller Reichsdeutschen im Ausland, gleichgültig, ob es sich um Parteigenossen handele oder nicht. Die Auslandsorganisation sollte in diesem Sinne Brücke zwischen den reichsdeutschen Auslandsdeutschen und der Heimat sein. Ziel war, die Liebe und die Verbundenheit zur fernen Heimat zu pflegen und zu erhalten und das Verständnis für das Vaterland wachzuhalten, sowie das Verständnis der Deutschen im Inland für den harten [89] Lebenskampf ihrer Landsleute in aller Welt zu wecken. Der Deutsche im Ausland sollte durch sein würdiges, anständiges Verhalten im Ausland in seinem Gastlande gern gesehen sein und so als bester Repräsentant seines Vaterlandes wirken.

2. Frage: Wer konnte Mitglied der Auslandsorganisation werden?

Antwort: Die Frage ist unverständlich. Eine Mitgliedschaft bei der Auslandsorganisation gab es überhaupt nicht, ebensowenig, wie es beispielsweise eine Mitgliedschaft beim Auswärtigen Amt des Reiches gab oder bei einem Gau der NSDAP im Reiche.

3. Frage: Ist es richtig, daß sich auf dem Auslandsausweis jedes reichsdeutschen Parteigenossen als herrschender Grundsatz der Auslandsorganisation folgender Grundsatz aufgedruckt fand: Befolge die Gesetze des Landes, dessen Gast Du bist; die Innenpolitik des Gastlandes lasse dessen Bewohner machen, mische Dich nicht in diese, auch nicht gesprächsweise?

Antwort: Es ist richtig, daß sich der angeführte Grundsatz unter ähnlichem auf dem Ausweis beziehungsweise auf der Schutzhülle des Ausweises befand. Wenn ich mich nicht irre, stand unter diesen Grundsätzen noch die Warnung vor Ausschluß aus der NSDAP bei Mißachtung dieser Grundsätze. Letzteres wird ohne große Schwierigkeit durch Beschaffung einer Schutzhülle, die jeder Parteigenosse im Auslande hatte, feststellbar sein.

4. Frage: Hat die Auslandsorganisation der NSDAP irgendeine Tätigkeit entwickelt, die sie als Fünfte Kolonne erscheinen lassen könnte?

Antwort: ›Fünfte Kolonne‹ ist kein klarer, einheitlich angewandter Begriff. Im allgemeinen sollte damit wohl eine geheime Spionage- oder Sabotagetätigkeit gemeint sein. Entsprechend ihren Richtlinien hat die Auslandsorganisation keine solche Tätigkeit entwickeln können.

Ich entsinne mich, daß das Schlagwort ›Fünfte Kolonne‹ der Auslandspresse in der Auslandsorganisation als ein geschickter Bluff der antifaschistischen Propaganda gewertet wurde und daß es ehrliche Heiterkeit erregte. Im Ernst konnte doch wohl kein Staat auf den Gedanken kommen, daß eine so weltbekannte, beargwöhnte und jedem Zugriff offene Organisation für einen Geheimdienst im Sinne der Fünften Kolonne geeignet sei. Ich nehme als selbstverständlich an, daß dieser oder jener Deutsche im Ausland geheime Aufträge hatte (Dienste, die andere Staatsangehörige für ihr Vaterland genau so leisten); aber Auftraggeber oder Vermittler solcher Agenten war bestimmt nicht die Auslandsorganisation.

[90] 5. Frage: Welcher Art waren die Weisungen und Richtlinien, die der Stellvertreter des Führers der Auslandsorganisation für ihre Tätigkeit gegeben hat?

Antwort: Die Weisungen und Richtlinien des Stellvertreters des Führers für die Tätigkeit der Auslandsorganisation bewegten sich im Rahmen meiner Antworten zu 1. und 3. Er hat immer wie der mit besonderem Nachdruck auf seine strengen Anweisungen hingewiesen, daß die Gruppen im Ausland alles zu unterlassen haben, was die Gastländer verletzen könnte oder was als Einmischling in deren Angelegenheiten anzusehen ist. Als sein Grundsatz galt auch, daß der Nationalsozialismus als eine rein deutsche Bewegung kein Exportartikel sei, den man anderen Völkern als für sie geeignet aufdrängen wolle.

6. Frage: Hat der Stellvertreter des Führers der Auslandsorganisation irgendwelche Anweisungen oder Befehle gegeben, die sie zu einer Tätigkeit ähnlich der einer Fünften Kolonne hätten veranlassen können?

Antwort: Der Stellvertreter des Führers hat nicht nur nie solche Anweisungen oder Befehle erteilt, sondern wie oben zu 5. festgestellt, Richtlinien erlassen, die eine Tätigkeit im Sinne der sogenannten Fünften Kolonne völlig ausschließen.

7. Frage: Ist es richtig, daß im Gegenteil der Stellvertreter des Führers auf das peinlichste darauf geachtet hat, daß unter allen Umständen eine Einmischung in die inneren Verhältnisse des Gastlandes unterblieben ist?

Antwort: Ich kann nur wiederholen, daß es eine Hauptsorge des Stellvertreters des Führers war, die Arbeit der Auslandsorganisation im Ausland so zu gestalten, daß unbedingt jegliche Einmischung in innere Verhältnisse des Gastlandes unterblieb. Die wenigen unbedeutenden Verstöße, die bei der da mals sehr großen Zahl Reichsdeutscher im Ausland – sie betrug mehrere Millionen – unvermeidlich vorgekommen sind, wurden entsprechend scharf geahndet.

8. Frage: Welches waren die Aufgaben und der Zweck des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland?

Antwort: Der Volksbund für das Deutschtum im Ausland hatte die sogenannten Volksdeutschen kulturell zu betreuen. Volksdeutsche sind deutsche Stammesangehörige, die freiwillig oder durch Gesetze anderer Länder ihre reichsdeutsche Staatsangehörigkeit verloren haben beziehungsweise die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes angenommen haben, zum Beispiel Amerikas, Ungarns, Siebenbürgens und so weiter.

[91] 9. Frage: Hat der Volksbund für das Deutschtum im Ausland jemals, insbesondere aber vor dem 10. Mai 1941, irgendeine Tätigkeit entwickelt, die ihn als Fünfte Kolonne hätte erscheinen lassen können?

Antwort: Hierzu muß ich feststellen, daß die Tätigkeit der Auslandsorganisation mit der des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland nichts zu tun hatte, So daß ich keinerlei Einblick in dessen Arbeitsweise haben kann. Indessen halte ich es für ganz ausgeschlossen, daß mein Bruder dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland Aufgaben im Sinne einer Fünften Kolonne gestellt haben könnte. Es würde weder dem Aufgabenkreis des Stell vertreters des Führers entsprochen haben, noch seinen Ansichten über die Aufgabe des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland.

10. und letzte Frage: Welcher Art waren die Anordnungen und Weisungen, die der Stellvertreter des Führers für die Tätigkeit dieses Bundes erteilt hat?

Antwort: Anordnungen und so weiter, die mein Bruder für die Tätigkeit des Bundes erteilt hat, sind mir nicht bekannt, da, wie bereits erwähnt, meine Tätigkeit in der Auslandsorganisation in keinem Zusammenhang mit dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland stand.

(Gezeichnet) Alfred Heß;

beschworen und unterschrieben am 19. März 46.«

Der Zeuge Alfred Heß wurde dann im Zusammenhang mit seiner Vernehmung auch einem Kreuzverhör unterzogen. Ich nehme an, daß die Anklagebehörde dieses Kreuzverhör selbst dem Gerichtshof unterbreiten will. Wenn es aber so ist, daß dieses Kreuzverhör und die dazu gehörigen Fragen noch nicht übersetzt sind, dann wäre es vielleicht praktisch, wenn das jetzt im Anschluß gleich geschieht.

MR. THOMAS J. DODD, ANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Hoher Gerichtshof! Wir haben die Kreuzverhör-Protokolle erhalten, aber ich möchte vorschlagen, daß wir sie, anstatt Zeit auf die Verlesung zu verwenden, lieber vorlegen und mit Erlaubnis des Gerichtshofs in die vier Sprachen übersetzen lassen. Es würde etwa noch weitere zehn Minuten beanspruchen, um sie vorzulesen, und uns liegt nichts daran, es sei denn, daß der Gerichtshof es für angebracht hält.

VORSITZENDER: Einverstanden, Herr Dodd.


DR. SEIDL: Herr Präsident, meine Herren Richter! Ich weiß nicht, ob das gestern von mir vorgelegte Affidavit des Botschafters Gaus schon übersetzt worden ist, und ob sich bereits Übersetzungen in den Händen des Gerichtshofs befinden. Ich habe gestern mittag[92] sechs Abschriften dem Informationsbüro übergeben und habe seitdem nichts mehr gehört.


VORSITZENDER: Kann die Anklagebehörde den Gerichtshof darüber unterrichten?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Die Anklagebehörde hat noch kein Exemplar dieses Affidavits erhalten. Wir wissen daher nicht, was es enthält. Wir schlagen vor, daß Herr Dr. Seidl die Verlesung verschiebt, bis wir die Möglichkeit gehabt haben, es zu prüfen.


VORSITZENDER: Ja, das muß dann leider verschoben werden.


DR. SEIDL: Jawohl. Ich gehe nun zu Band 3 des Do kumentenbuches über. Meine Herren Richter! Dieser Band des Dokumentenbuches enthält im wesentlichen Äußerungen und Zitate aus Büchern und Reden ausländischer Staatsmänner, Diplomaten und Wirtschaftswissenschaftler zu der Entstehungsgeschichte des Versailler Vertrags, zum Inhalt des Versailler Vertrags, zu den durch diesen Vertrag bedingten territorialen Veränderungen, wie zum Beispiel die Frage des Polnischen Korridors, und vor allem auch zu den verheerenden wirtschaftlichen Folgen, die dieser Vertrag für Deutschland und auch für die übrige Welt mit sich gebracht hat.


VORSITZENDER: Ja, Sir David?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Ich habe die Dokumente in diesem Buch gelesen, und ich möchte nur ein oder zwei Bemerkungen dazu machen.

Sie sind Meinungsäußerungen einer großen Anzahl verschiedener Leute, darunter Politiker, Wirtschaftler und Journalisten. Diese Meinungen sind in polemischer und einige in journalistischer Form zum Ausdruck gebracht worden. Mit den meisten ist man vertraut und hat sie gekannt, als sie vor 15 oder 25 Jahren geäußert wurden.

Nun bin ich der Ansicht, wie ich schon vorher dem Gerichtshof unterbreitet habe, daß der gesamte Gegenstand überhaupt viel zu entlegen ist. Ich möchte jedoch einen Vorschlag machen, den der Gerichtshof, wie ich hoffe, vernünftig finden wird. Ich schlage vor, daß die Anklagebehörde dieses Buch, wie ich gestern schon angeregt habe, im Moment »de bene esse« zuläßt, und daß Herr Dr. Seidl die Argumente, die darin von den verschiedenen, von ihm benannten Herren vorgebracht werden, in seinem Plädoyer verwendet, falls er sie für richtig hält. Er kann dann diese Argumente zur Illustrierung verwenden, aber immer unter der Voraussetzung, daß seine These vom Gerichtshof als beweiserheblich für die zur Erörterung stehenden Fragen angesehen wird. So wird Dr. Seidl nicht des Rechtes verlustig gehen, diese Dokumente – vorbehaltlich der Erheblichkeit der darin vorgebrachten Fragen – zu verwenden. Aber [93] ich möchte behaupten, daß es ganz falsch wäre, sie jetzt hier als Beweismittel zu verlesen. Es sind lediglich polemische und journalistische Meinungsäußerungen, die sich auf ein Thema beziehen, das nach unveränderter Ansicht der Anklagebehörde zu entlegen ist.

Mir ist jedoch sehr daran gelegen, daß Dr. Seidl alle Möglichkeiten für sein Plädoyer haben soll. Ich bin daher der Ansicht, daß es angebracht wäre, die Dokumente jetzt nur vorzulegen, ohne sie zu verlesen, und daß sie der Beschränkung der Beweiserheblichkeit weiterhin unterworfen bleiben, welche Frage der Gerichtshof nach Vorlage des gesamten Beweismaterials erörtern kann, so daß er sie dann in seinem Schlußplädoyer verwenden kann.

Ich hoffe, daß der Gerichtshof dies nicht nur als passende, sondern auch vernünftige Handhabung für die Behandlung solchen Materials betrachtet.


DR. SEIDL: Herr Präsident, darf ich vielleicht kurz...


VORSITZENDER: Einen Augenblick, Dr. Seidl. Wir werden Sie sogleich anhören. Vielleicht sollten wir jetzt anhören, was Sie zu sagen haben. Halten Sie den Vorschlag von Sir David für annehmbar?


DR. SEIDL: Herr Präsident! Auf den ersten Blick scheint der Vorschlag von Sir David Maxwell-Fyfe sehr vernünftig zu sein. Aber ich glaube, doch sagen zu müssen, daß für die Verteidigung große Schwierigkeiten entstehen werden, wenn die Sache so behandelt wird. Es werden nämlich die Argumente über die Beweiserheblichkeit, die der ganzen Natur nach in das Beweisverfahren gehören und dort entschieden werden müssen, in das Plädoyer der Verteidigung verlegt. Dies hätte zur Folge, daß der Verteidiger in seiner Schlußansprache immer wieder unterbrochen würde, daß er für die Beweiserheblichkeit seiner Zitate argumentieren müßte, daß vielleicht ganze Teile seiner Rede auf diese Weise unter den Tisch fallen würden, und daß dadurch die Gefahr heraufbeschworen würde, daß der Zusammenhang der Rede völlig unterbrochen wird.


VORSITZENDER: Bitte, Sir David.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Die Gefahr, daß gewisse Teile seiner Rede nicht als erheblich betrachtet werden, besteht für jeden Anwalt. Aber ich dachte, mein Vorschlag wäre ein guter Ausweg; aber wenn er nicht angenommen wird, muß die Anklagebehörde höflich, jedoch nachdrücklich darauf bestehen, daß die Probleme der Bedingungen des Versailler Vertrags für den Gerichtshof beweisunerheblich sind. Ich habe dies schon ausgeführt, und ich will es nicht noch einmal ausführlich entwickeln. Ich möchte jedoch klarstellen, daß die Fragen, welche durch diese Zitate angeschnitten werden, natürlich Gegenstand politischer Meinungsverschiedenheiten in fast jedem Land Europas waren, und daß [94] verschiedene Meinungen geäußert worden sind über die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der Bestimmungen des Versailler Vertrags, besonders der wirtschaftlichen. Ich bestreite nicht, daß darüber Meinungsverschiedenheiten bestehen, aber ich bin der Ansicht, daß sie nicht vor diesen Gerichtshof gehören. Ich persönlich habe nahezu alle Zitate englischer Staatsmänner der letzten Jahre als Politiker hier beantwortet, und ich bin überzeugt, daß viele Leute in diesem Gerichtshof den einen oder anderen Standpunkt vertreten hatten; aber dies ist für diesen Gerichtshof nicht wesentlich. Nach meiner Ansicht ist es insbesondere falsch, in der Streitfrage nur Meinungen der einen Seite als Beweismaterial vorzubringen. Jede dieser Reden, sofern sie englisch waren, war entweder eine Antwort auf eine vorangegangene Rede oder sie sind in der Folge beantwortet worden. Das gleiche gilt nach meiner Ansicht auch bezüglich der Reden des Senators Borah in den Vereinigten Staaten.

Mein zweiter Punkt ist der, daß es sich hier nicht um wirkliches Beweismaterial handelt. Dies ist eine Frage des Standpunkts, und es muß einmal zu einem dem Gerichtshof genehmen Zeitpunkt entschieden werden, ob diese Frage als beweiserheblich erachtet wird. Ich habe deshalb den Vorschlag gemacht, diese Entscheidung zu treffen, nachdem das gesamte echte, tatsächliche Beweismaterial dem Gerichtshof unterbreitet worden ist. Ich möchte jedoch, abgesehen von meinem Vorschlag, völlig klarstellen, daß die Anklagebehörde einheitlich der Ansicht ist, daß die Frage der Richtigkeit oder praktischen Anwendbarkeit der Bestimmungen des Versailler Vertrags nicht beweiserheblich ist. Ich möchte zwischen diesen beiden Fragen einen Unterschied machen.

Die andere Frage ist von Dr. Stahmer im Hinblick auf die wirklichen Bedingungen der Präambel zu den militärischen Klauseln skizziert worden. Das ist eine ganz andere Sache, die wir besprechen können, wenn, wie ich erfahre, gewisse Rechtstragen von einem der Verteidiger für die Verteidigung vorgebracht werden. Die Richtigkeit und praktische Durchführbarkeit des Vertrags und besonders seiner wirtschaftlichen Klauseln sind jedoch, wie gesagt, Gegenstand großer Meinungsverschiedenheiten, und es gibt buchstäblich tausenderlei verschiedene Ansichten jeder Schattierung hierüber. Ich behaupte, daß diese Streitfrage vor diesem Gerichtshof nicht zur Diskussion steht, und zweitens behaupte ich, daß dies kein Beweismaterial. Ist. Es ist auch dann kein Beweismaterial, wenn diese Frage hier zur Diskussion stünde.


DR. SEIDL: Darf ich darauf vielleicht kurz erwidern?


VORSITZENDER: Ihr Vorschlag, Sir David, würde also bedeuten, daß Dr. Seidl keine Zitate aus diesen Dokumenten bringen könnte?


[95] SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, Euer Lordschaft, sicherlich. Auf Grund meiner Voraussetzung, daß es eine unerhebliche Angelegenheit ist, könnte er es nicht.


VORSITZENDER: Ja, sie sind nicht zulässig.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Sie sind nicht zulässig.

VORSITZENDER: Ja.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Mein ursprünglicher Vorschlag war, die Diskussion über die Zulässigkeit zu verschieben, bis das gesamte Beweismaterial vorliegt. Wenn dieser aber nicht angenommen wird, behaupte ich glatt – wenn ich diesen Ausdruck mit allem Respekt benützen darf –, daß sie nicht zulässig sind.


VORSITZENDER: Nun, Dr. Seidl?


DR. SEIDL: Darf ich vielleicht kurz erwidern, Herr Präsident?


VORSITZENDER: Ja, ja.


DR. SEIDL: Es würde eine völlige Verkennung meiner Absichten bedeuten, wenn man annehmen wollte, daß ich mit der Vorlage dieses Dokumentenbuches beweisen wollte, ob der Versailler Vertrag ein Ausdruck staatsmännischer Weisheit sei oder nicht. Darauf kommt es mir hier nicht an.

Mit der Vorlage dieser Dokumente soll vielmehr bewiesen werden, beziehungsweise soll zur Diskussion gestellt werden:

Erstens: Ob die Gegenseite beim Vertragsabschluß, beziehungsweise bei den Vorverhandlungen – ich erinnere an die vierzehn Punkte Wilsons – sich ihrerseits einer Verletzung der allgemeinen Vertragspflich ten schuldig gemacht hat, ob insbesondere eine culpa in contrahendo hier anzunehmen sei.

Zweitens; Die Vorlage der Dokumente soll dartun, ob die Gegenseite die sich aus dem Vertrag ergebenden Pflichten erfüllt hat, um auf diese Weise festzustellen, beziehungsweise dem Gericht die Möglichkeit zu einer Feststellung zu geben, welche Rechtsfolgen Deutschland möglicherweise daraus ableiten konnte.

Drittens: Der Versailler Vertrag und seine Verletzung durch die Angeklagten nimmt eine zentrale Stellung in dem Anklagepunkt 1, nämlich in der von der Anklage behaupteten Verschwörung, ein. Die Anklagebehörde hat daher auch auf eine Frage des Gerichtshofs, von welchem Zeitpunkt ab die Verschwörung als begonnen anzusehen sei, geantwortet, daß dies bereits für das Jahr 1921 anzusetzen sei.

Viertens: Die Anklagevertretung hat umfangreiches...


VORSITZENDER: Ich habe nicht die geringste Vorstellung von dem, was Sie mit dem letzten Punkt gemeint haben. Ich verstehe nicht, was Sie im letzten Punkt gesagt haben, absolut nicht.


[96] DR. SEIDL: Ich wollte damit sagen, daß für den Beginn der von der Anklage behaupteten Verschwörung der Versailler Vertrag mit eine entscheidende Rolle gespielt hat, und daß die Entstehung dieses Vertrags mindestens in irgendeinem ursächlichen Zusammenhang mit der behaupteten Verschwörung steht. Bevor über Rechtswidrigkeit und über Schuld gesprochen werden kann, müssen die Tatsachen festgestellt werden, die ursächlich waren für die von der Anklage behauptete Verschwörung.

Viertens: Die Anklagevertretung hat umfangreiches Beweismaterial vorgelegt, um die Entwicklung der NSDAP zu beweisen. Umfangreiche Dokumentenbücher wurden dem Gerichtshof übergeben, um das Anwachsen der Mitgliederstärke zu beweisen, um die Zunahme der Reichstagsmandate unter Beweis zu stellen. Wenn nun dieses Beweismaterial erheblich war, dann ist es meine Behauptung, daß auch die Umstände und die Tatsachen, die überhaupt erst diesen Aufstieg der Partei ermöglicht haben, schon aus den Gesichtspunkten des Kausalzusammenhanges heraus beweiserheblich sein müssen.


VORSITZENDER: Behaupten Sie, daß die von einem Journalisten nach Abfassung des Versailler Vertrags gemachte Äußerung, daß seiner Meinung nach der Vertrag von Versailles ungerecht für Deutschland wäre, entweder für die Auslegung des Vertrags oder für irgendeinen anderen Zweck, mit dem sich dieser Gerichtshof hier beschäftigt, zulässig wäre?


DR. SEIDL: Herr Präsident! Ich gebe zu, daß selbstverständlich die vereinzelte Meinung eines ausländischen Journalisten nicht ohne weiteres ein beweiserhebliches Dokument sein muß. Ich behaupte jedoch, daß die Meinung des Staatssekretärs Lansing über das Zustandekommen des Versailler Vertrages und sein Zusammenhang mit der Vorgeschichte dieses Vertrages von irgendeiner beweiserheblichen Bedeutung sein muß. Welcher Materialbeweiswert seiner Meinung zukommt, das ist eine Frage, welche jetzt noch nicht entschieden werden kann. Diese Frage wird der Gerichtshof erst dann entscheiden können, wenn das gesamte Beweismaterial vorliegt. Ich behaupte weiter, daß die Meinung des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Senats der Vereinigten Staaten über den Versailler Vertrag, über sein Zustandekommen, über seine Auswirkungen im Rahmen der von der Anklage behaupteten Verschwörung, die sich in erster Linie gegen den Vertrag gerichtet haben soll, prima fade einen Beweiswert haben kann. Das gleiche gilt für die meisten der übrigen in diesem Dokumentenbuch zusammengestellten Äußerungen. Ich erinnere an Gustav Cassel, an John Maynard Keynes, den offiziellen Finanzberater der Britischen Regierung, und an eine Reihe anderer.


[97] VORSITZENDER: Wollen Sie behaupten, daß Deutschland wegen der Bestimmungen des Versailler Vertrages oder wegen einer Verletzung dieser Bestimmungen durch die Signatarmächte das Recht hatte, einen Angriffskrieg zu unternehmen?


DR. SEIDL: Darauf kann ich im Zusammenhang jetzt endgültig, solange ich nicht das Beweismaterial der übrigen Angeklagten gehört habe, nicht antworten. Ich behaupte jedoch, daß aus einer Verletzung des Versailler Vertrages durch die Gegenseite unter Umständen das Deutsche Reich oder die Angeklagten das Recht zur Wiederaufrüstung ableiten konnten, und das beinhaltet ja auch schon eine Verletzung des Versailler Vertrages, die den Angeklagten zum Vorwurf gemacht wird. Was das Recht zu einem Angriffskrieg anbelangt, so möchte ich hierzu endgültige Äußerungen zurückstellen, mindestens bis zu dem Zeitpunkt, bis der Gerichtshof vom Affidavit des Botschafters Gaus offiziell Kenntnis erlangt hat.


VORSITZENDER: Eine weitere Frage: Wollen Sie sagen, daß die vierzehn Punkte des Präsidenten Wilson zulässiges Beweismaterial darstellen, um das schriftliche Dokument des Versailler Vertrages auszulegen?


DR. SEIDL: Ich behaupte nicht, daß die vierzehn Punkte Wilsons für sich allein schon zulässiges Beweismaterial sind. Ich behaupte aber, daß der Zusammenhang zwischen diesen vierzehn Punkten Wilsons und dem Versailler Vertrag und der daraus sich ergebende Widerspruch eine ursächliche Bedeutung für die von der Anklage behauptete Verschwörung haben.


VORSITZENDER: Dann sagen Sie im Grunde, daß der Versailler Vertrag, soweit er von den vierzehn Punkten abwich, ein ungerechter Vertrag war?


DR. SEIDL: Herr Präsident! Ob der Vertrag gerecht war oder nicht, das ist ja ein Punkt, den ich mit diesem Dokument überhaupt nicht beweisen will. Ob der Vertrag ungerecht war oder nicht, ist meines Erachtens eine Tatsache, die vielleicht über den Rahmen dieses Prozesses weit hinausgeht. Ich behaupte aber, daß der Vertrag mindestens in vielen seiner Bestimmungen das nicht gebracht hat, was auch die Siegerstaaten selbst von ihm erwartet haben.


VORSITZENDER: Wollen Sie noch etwas hinzufügen, Dr. Seidl?


DR. SEIDL: Im Augenblick nicht.


DR. RUDOLF DIX, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN SCHACHT: Da es sich um eine ganz grundsätzliche Frage handelt, die durch Sir David jetzt zur Diskussion gestellt ist, und da die Verteidigung immer mit der Möglichkeit rechnen muß, daß der Gerichtshof schon jetzt eine Entscheidung über die Frage fällt, ob und inwieweit derartiges Dokumen tenmaterial wie das besprochene [98] produziert werden kann, halte ich mich für verpflichtet, zu den Ausführungen meines Kollegen Seidl, denen ich im übrigen in vollem Umfang zustimme, nur etwas ergänzend hinzuzufügen, und zwar auf die sehr präzise Frage Eurer Lordschaft, die mit den Worten anfängt: »Halten Sie es für erheblich...« Ich glaube – ich vermeide alle Wiederholungen – ich glaube aber, daß auf einen sehr wesentlichen Punkt hinsichtlich der Erheblichkeit bisher noch nicht hingewiesen worden ist, und das ist die subjektive Seite; das ist die Beweiserheblichkeit für die Beweiserforschung und die Wahrheitserforschung des subjektiven Tatbestandes bei den einzelnen Angeklagten, also für die innere Tatseite.

Wenn zum Beispiel einer der Angeklagten eine Handlung begangen hat, welche rein objektiv einen Bruch des Versailler Vertrages darstellt, so ist es für die strafrechtliche Beurteilung seiner Handlungsweise vom subjektiven Standpunkt aus von großer Bedeutung, ob er nach der Ansicht verständiger, gerechter und geschulter Männer aller Nationen aus einer Einstellung und aus einer Ansicht heraus gehandelt hat, die nicht etwa nur seine Spezialansicht war, sondern die von den ernstesten Männern der verschiedenen Nationen und auch derjenigen Nationen, die 1914-1918 gegen Deutschland im Felde gestanden hatten, vertreten wurde. Um nicht zu abstrakt zu bleiben, möchte ich ein konkretes Beispiel herausgreifen:

Ein Angeklagter vertritt den Standpunkt, zur Wiederaufrüstung – nicht zum Angriffskrieg, diese Frage lasse auch Ich offen – zur Wiederaufrüstung berechtigt zu sein, weil entweder dieser Vertrag von der anderen Seite nicht erfüllt worden ist, oder weil er durch expressis verbis, durch abgeschlossene Verträge oder durch konkludente Handlungen als obsolet anzusehen ist. Es ist meines Erachtens von entscheidender Beweiserheblichkeit, ob dieser Angeklagte in dieser seiner Ansicht, aus der heraus sich sein Handeln erklärt, allein auf der weiten Flur der Welt steht, oder ob die Ansicht, aus der heraus er handelt, auch von in jeder Beziehung ernst zu nehmenden Männern anderer Nationen als der deutschen vertreten wird, selbst von denen, die 1914-1918 auf der anderen Seite gestanden haben, also zu seinen Gegnern gehören.

Die Wiederaufrüstung ist nach der Konstruktion der Anklage, so wie ich sie verstanden habe, nicht ein »crime« als solches, sondern wird nur benutzt von der Anklage als ein belastendes Indiz für den Nachweis des Verbrechens, einen Angriffskrieg geführt zu haben. Weist nun ein Angeklagter nach, daß er aus sauberer und anständiger Auffassung heraus, einer Auffassung, die, wie gesagt, von Männern anderer Nationen, wie ich sie eben charakterisiert habe, auch vertreten wird, gehandelt hat, gewissenhaft und aus reinem Gewissen sowohl gegenüber dem internationalen Recht und der internationalen [99] Moral wie auch gegenüber den Bedürfnissen seines eigenen Vaterlandes, so wird dieses Material, welches Meinungen, literarische Äußerungen, Reden enthält, die die Ansichten des betreffenden Angeklagten teilen, für die subjektive Seite des Tatbestandes nicht nur von erheblicher, sondern überhaupt von entscheidender Bedeutung. Diesen Gesichtspunkt, bitte ich den Hohen Gerichtshof, sich besonders vor Augen zu halten, wenn er über die Frage jetzt schon entscheiden will, die Sir David zur Diskussion jetzt grundsätzlich gestellt hat und stellen mußte, wie ich durchaus anerkenne. Aber auch ich bin jetzt nunmehr in der angenehmen Lage, in der praktischen Behandlung mit Sir David übereinzustimmen. Auch ich – jetzt spreche ich nur für meine Person – würde es vorziehen, wenn die Entscheidung dieser Frage bis zu dem Zeitpunkt aufgeschoben würde, den Sir David vorgeschlagen hat. Ich nehme für meine Person die Nachteile, die der Kollege Seidl durchaus richtig erkannt hat, in Kauf zugunsten des dann eintretenden günstigen Umstandes, daß, wenn der Gerichtshof sich dann über diese Frage entscheidet, er vorher einen viel weiteren Überblick über all die Fragen und Nuancen bekommen hat, die für die Entscheidung der Fragen von Bedeutung sind, und die ich in diesem kurzen Intermezzo auch jetzt gar nicht in der Lage bin, erschöpfend zu behandeln, denn ich will ja keine zusammenfassende Rede halten, sondern nur einen Punkt zur Beweisfrage behandeln.


DR. MARTIN HORN, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN VON RIBBENTROP: Ich darf noch ein paar Bemerkungen zu den Ausführungen meines Kollegen Dix hinzufügen. Ich bitte den Gerichtshof...


VORSITZENDER: Der Gerichtshof möchte gerne wissen, wieviele Verteidiger das Recht zu haben glauben, zum Gerichtshof sprechen zu können. Wenn Dr. Horn ein kurzes Argument hinzufügen will, dann ist der Gerichtshof bereit, es anzuhören. Wenn andere Verteidiger zum Gerichtshof zu sprechen wünschen, so wird der Gerichtshof jetzt entscheiden, ob weitere Verteidiger angehört werden sollen oder nicht.

Wir sind also darüber einig, daß nur Dr. Horn dem Gerichtshof ein kurzes Argument vorträgt? Wenn es nicht so ist, dann wird der Gerichtshof entscheiden, ob er weitere Argumente über diesen Gegenstand anhören will.


DR. HORN: Ich kann natürlich meinen Kollegen, Herr Präsident, in dieser Frage nicht vorgreifen. Ich persönlich möchte nur noch eine ganz kurze Ausführung zu den Rechtspunkten machen.


VORSITZENDER: Gut, dann müssen Sie eben Ihre Kollegen befragen.


[100] DR. HORN: Wenn Herr Präsident jetzt eine Entscheidung zu dieser Frage wünschen, dann muß ich natürlich meine Kollegen vorher befragen.


VORSITZENDER: Sicherlich.


[Verhandlungspause. Die Verteidiger beraten sich.]


DR. HORN: Ich darf zunächst vorausschicken, Herr Präsident, was mir eben aus Kollegenkreisen gesagt wurde. Zunächst haben an dieser Entscheidung die Vertreter der Organisationen ein ganz besonderes Interesse.

Für mich persönlich darf ich zu folgenden Ausführungen übergehen:

Die Anklage...


VORSITZENDER: Dr. Horn, ich habe Sie gebeten, die anderen Verteidiger zu befragen und festzustellen, ob sie damit einverstanden sind, daß Sie allein angehört werden. Nur unter dieser Bedingung bin ich bereit, Sie anzuhören.


[Weitere Verhandlungspause. Die Verteidiger beraten sich erneut.]


DR. HORN: Jawohl, Herr Präsident, meine Kollegen sind damit einverstanden, daß ich die letzten Ausführungen zu diesem Punkt mache.

VORSITZENDER: Einen Augenblick. – Sehr wohl, fahren Sie fort.


DR. HORN: Es besteht kein Zweifel, daß die Anklage sich in wesentlichen Punkten auf Brüchen des Versailler Vertrages aufbaut. Zur Beurteilung dieser Vertragsbrüche ist es meines Erachtens unbedingt notwendig, die Tatsachen vorzubringen, die eine Beurteilung der Rechtsnatur dieses Vertrages zulassen. Es ist kein Zweifel, daß dieser Vertrag unter Zwang geschlossen worden ist. Es ist daher anerkanntes Völkerrecht, daß derartige Verträge – rechtlich gesehen – mit schweren Mängeln behaftet und anrüchig sind. Die Tatsachen, die zum Beweise dieser Behauptung und Rechtsanschauung dienen, müssen meines Erachtens vorgebracht werden können. Eine weitere Frage ist die – und die hat, glaube ich, wenn ich richtig verstanden habe, Sir David im Auge – das ist die Frage der Polemisierung über die rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Folgen dieses Vertrages. Darüber möchte ich keine weiteren Ausführungen machen, möchte aber darum bitten, daß meinem ersten Antrage stattgegeben wird, die rechtlichen dokumentarischen Tatsachen vorbringen zu dürfen, die eine Beurteilung des rechtlichen Wertes des Vertrages von Versailles zulassen.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Mit Genehmigung des Hohen Gerichtshofs darf ich mich vielleicht zuerst mit dem Argument [101] beschäftigen, das Dr. Dix vorgebracht hat. Soweit ich ihn verstand, war sein erster hauptsächlicher Vorschlag folgender:

Wenn ein Angeklagter eine Handlung begangen hat, die eine Verletzung des Vertrages darstellt, er aber nachweisen kann, daß nach der Meinung vernünftiger, gerechter und gebildeter Menschen in denjenigen Staaten, die die anderen Partner des Vertrages waren, der Vertrag so schlecht war, daß eine Verletzung gerechtfertigt war, so ist das ein Argument, das zugelassen werden muß.

Ich behaupte, bei aller Hochachtung für Dr. Dix, daß dies ein unhaltbares Argument ist und sowohl nach rechtlichem als auch nach materiellen Grundsätzen unbegründet ist. Sobald man zugibt, daß ein Vertrag besteht, und daß eine Verletzung stattgefunden hat – und es ergibt sich aus dem Beispiel, das Dr. Dix vorgebracht hat, daß dies zugestandene Tatsachen sind –, dann ist es keine Antwort, wenn man sagt, daß eine Anzahl achtenswerter Männer in denjenigen Ländern, die Partner dieses Vertrages waren, seine Bestimmungen für falsch hielt. Der Vertrag besteht, und derjenige, der ihn bewußt verletzt, bricht den Vertrag, wie stark auch immer seine Unterstützung dabei sein mag.

In seinem zweiten Punkt hat Dr. Dix sich auf ein ganz anderes Gebiet begeben. Er sagte, daß dieses Beweismaterial im besonderen Hinblick auf die Frage der Wiederaufrüstung erheblich sein könne, da es zeigen könnte, daß der Vertrag als veraltet betrachtet wurde. Nun, es ist eine seltene, aber nichtsdestoweniger bestehende Doktrin des Völkerrechtes, daß Verträge, gewöhnlich geringfügigere Verträge, durch das Verhalten der Vertragschließenden aufgehoben werden können. Ich will nicht behaupten, daß es keine Beispiele dafür gäbe, obwohl sie sehr selten sind und gewöhnlich geringfügigere Dinge behandeln. Dieses Beweismaterial, das im Augenblick dem Gerichtshof vorliegt, hat jedoch gar nichts mit diesem Punkt zu tun. Es ist in der Hauptsache zeitgenössisches, polemisches Beweismaterial, in dem zum Ausdruck gebracht wird, daß gewisse Gesichtspunkte des Vertrages entweder vom politischen oder vom wirtschaftlichen Standpunkt aus schlecht waren. Das ist ein völlig verschiedenes Argument gegenüber dem, das Dr. Dix so bewundernswert skizzierte. Und wenn dieser Fall auftreten würde, würden wir uns damit zu befassen haben, der Fall nämlich, daß ein Vertrag veraltet gewesen ist oder die Verletzungen vergeben wurden, und daß darum die Bestimmungen tatsächlich zu bestehen aufgehört haben.

Meine Antwort ist, daß dieses Beweismaterial überhaupt nicht auf diesen Punkt gerichtet ist.

Nun, wenn Dr. Dix mir vergeben will, und ich bin sicher, daß es mein Fehler war, so habe ich nicht ganz verstanden, was er als sein »subjektives Argument« bezeichnete. Soweit ich es aber verstanden habe, scheint es eine sehr gute Antwort darauf zu geben:[102] Wenn er nämlich anzudeuten versucht, daß die Schuld eines Angeklagten geringer wäre, weil er, dieser Angeklagte, den Vertrag für schlecht gehalten habe, so ist dies im wesentlichen eine Sache, die durch den Gerichtshof beurteilt werden kann, der diesen Angeklagten anhören und seinen Standpunkt würdigen und bewerten wird. Aber für die Entscheidung, ob der Angeklagte Heß glaubte, so handeln zu dürfen, weil er den Vertrag von Versailles für einen schlechten Vertrag hielt, ist es wirklich nicht von Bedeutung zu wissen, was der Herausgeber des »Observer«, einer englischen Sonntagszeitung, vor ungefähr zwanzig Jahren als seine Meinung äußerte, oder was der »Manchester Guardian« oder gar angesehene Staatsmänner, bei allem Respekt vor diesen Herren, bei der Niederschrift ihrer Memoiren, Jahre nachdem die Ereignisse stattgefunden haben, zu sagen haben. Der subjektive Tatbestand ist, so behaupte ich, ein wichtiger Punkt bei der Entscheidung über das Beweismaterial. Der subjektive Tatbestand kann von dem Angeklagten selbst dargelegt werden, wenn er durch den Gerichtshof nach seinen Ansichten gefragt wird.

Dr. Horn nun hat eine viel weitgehendere Frage angeschnitten, die, wie ich behaupte, vollkommen unerheblich ist und den Rahmen dieses Verfahrens überschreitet.

Er wünscht, daß der Gerichtshof prüft, ob der Vertrag von Versailles unter Zwang unterschrieben wurde. Nun, das würde natürlich eine eingehende Betrachtung der Regierung der Deutschen Republik, der Stellung der Bevollmächtigten und der rechtlichen Stellung der Personen, die die Vertragsverhandlungen geführt haben, erfordern.

Die Antwort darauf lautet, daß dieser Gerichtshof sich nur mit bestimmten, ganz klar festgelegten und einzeln angegebenen Vergehen befaßt, die sich innerhalb der in der Anklageschrift angeführten Zeitspanne ereignet haben. Aus dem gesamten Beweismaterial über die Handlungen der deutschen Regierung vor der Nazi-Zeit und sogar der Nazi-Regierung selbst geht hervor, daß Versailles Jahre hindurch als die gesetzmäßige und tatsächliche Arbeitsgrundlage anerkannt wurde. Mannigfaltige verschiedene Methoden wurden angewandt, um über Änderungen des Vertrages zu verhandeln und solche sicherzustellen. Ich brauche vor dem Gerichtshof nicht weiter auf den ganzen Aufbau der im Jahre 1925 unterzeichneten Locarno-Verträge einzugehen, die den Versailler Vertrag anerkennen und von der Nazi-Regierung selbst als bestehend und in Kraft befindlich behandelt wurden.

Im Hinblick auf diese Tatsachen wäre es nach meiner Ansicht vollkommen abwegig, unerheblich und im Widerspruch zu den Bestimmungen des Statuts für diesen Gerichtshof, sich in eine Untersuchung darüber einzulassen, ob der Vertrag von Versailles unter Zwang unterzeichnet wurde.

[103] Wie ich Dr. Horn verstanden habe, war er an der Frage der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der wirtschaftlichen Klauseln nicht so interessiert; ich möchte jedoch den Gerichtshof ergebenst daran erinnern, daß diese Frage im Augenblick zur Diskussion steht. Hier haben wir, wie ich bereits erwähnt habe, und ich möchte mich nicht wiederholen, eine Reihe von Meinungsäußerungen von Leuten, die zur Zeit ihrer Äußerungen Stellungen von verschiedenem Rang, verschiedener Bedeutung und verschiedener Verantwortlichkeit innehatten. Während ich meine Einstellung über diesen Vertrag entschieden aufrecht erhalte, möchte ich in gleicher Weise meinen zweiten Gesichtspunkt ausdrücken: Äußerungen als Beweismaterial anzuerkennen, die hauptsächlich polemischer Natur sind und entweder in Beantwortung eines Angriffs oder in Durchführung eines Angriffs im Hinblick auf die Politik des Staates, in dem sie sich abspielten, gemacht wurden, ist einfach ein Mißbrauch des Begriffs »Beweismaterial«. Das ist überhaupt kein Beweismaterial, und ich möchte mit gleichem Nachdruck sagen, – nicht mit gleichem Nachdruck deshalb, weil der erste Punkt von hervorragender Bedeutung ist, worauf ich den Gerichtshof ergebenst aufmerksam machen möchte, sondern ich möchte den Gerichtshof auch darauf hinweisen, daß es einen Mißbrauch des Begriffes »Beweismaterial« darstellt, Dinge dieser Art als Beweismaterial vorzulegen. Sie sind eine Angelegenheit der Argumentation, von der ein Anwalt Gebrauch machen kann, wenn sie erheblich ist, aber sie sollten aus diesem Grunde vom Gerichtshof nicht als Beweismaterial angenommen werden.


MR. FRANCIS BIDDLE, MITGLIED DES GERICHTSHOFS FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Sir David, steht irgend etwas im Versailler Vertrag, wonach entweder die Abrüstung der Signatarmächte, abgesehen von Deutschland, verlangt oder eine derartige Abrüstung erwartet wird? Wenn ja, können Sie uns die Stelle angeben?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, in der Präambel zu den militärischen Bestimmungen. Das ist der Punkt, auf den man sich gewöhnlich bezieht. Es sind ungefähr vier Zeilen zu Beginn der militärischen Bestimmungen, und es wird in ziemlich allgemein gehaltener Form eine generelle Abrüstung nach derjenigen Deutschlands vorgesehen. Und natürlich, ich glaube, ich habe die Daten richtig im Kopf, war die Sachlage die, daß die Abrüstung angenommen wurde. Ob sie hätte angenommen werden sollen, ist hinsichtlich des Beweismaterials für diesen Fall nicht von Bedeutung; sie wurde im Jahre 1927 angenommen. Später fand, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, eine Reihe von Abrüstungskonferenzen statt, die diese Frage prüften, und im Jahre 1933 hat Deutschland schließlich die damals tagende Abrüstungskonferenz verlassen.

[104] Ich versuche ganz objektiv zu sein. Ich möchte nicht den Standpunkt der Anklage oder der Verteidigung hier vorbringen; aber so ist die Lage.


MR. BIDDLE: Ich bin nur nicht ganz klar, was Sie mit »angenommen« meinten. Meinen Sie damit, daß das Ausmaß der verlangten Abrüstung von Deutschland angenommen worden war?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, umgekehrt: Deutschlands Antwort auf die Forderung von Versailles wurde von den Alliierten im Jahre 1927 angenommen, und die Abrüstungskommission, die in Deutschland, ich glaube, unter einem französischen General Denoue gewesen war, verließ Deutschland damals.


MR. BIDDLE: Soweit ich Sie verstehe, behaupten Sie dann, daß nichts, was in dieser Mappe ist, irgend etwas mit dieser möglichen Streitfrage zu tun hat?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein, nein.


MR. BIDDLE: Darauf kommt es an.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Es geht nicht um diese Streitfrage. Ich meine, wir werden uns mit dieser Streitfrage beschäftigen, wenn wir soweit sind. Ich hatte vielmehr aus den Worten von Dr. Stahmer den Eindruck gewonnen, daß dies einer der Punkte sein würde, auf die wir bei der allgemeinen noch vorzunehmenden Erörterung der Rechtsfrage stoßen würden, die die Verteidiger...


DR. SEIDL: Ich glaube, Sir David ist einem kleinen Irrtum unterlegen. Es befindet sich in dem Band 3 des Dokumentenbuches für den Angeklagten Heß auch eine Reihe von Zitaten ausländischer Staatsmänner, die sich auch auf diese Militärklausel des Versailler Vertrages beziehen und in denen ausgesprochen wird, daß zwar Deutschland insoweit seine Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag erfüllt hat, daß aber die für die Gegenseite sich daraus ergebenden Verpflichtungen nicht erfüllt wurden.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Es tut mir leid, aber ich erinnere mich an keine. Ich habe ihn durchgelesen, und es mag sich einiges nebensächliche Material damit befassen. Aber ich glaube nicht, daß ich Dr. Seidls großem Fleiß bei der Sammlung dieses Materials Unrecht tue, wenn ich sage, daß es, wenn es tatsächlich existiert, nebensächlich ist, und der Hauptpunkt in einem Angriff auf die politischen und wirtschaftlichen Klauseln des Vertrags besteht. Ich hoffe, daß ich Dr. Seidl Gerechtigkeit habe widerfahren lassen. Es war bestimmt meine Absicht. Dies ist der Eindruck, den ich gewonnen habe.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich vertagen.


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 10, S. 89-106.
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