Nachmittagssitzung.

[124] [Der Zeuge Schäfer im Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Der Zeuge kann sich zurückziehen.


[Der Zeuge verläßt den Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Bitte, Dr. Böhm?

RA. BÖHM: Herr Präsident! Ich bitte Sie, als nächsten Zeugen den Zeugen Gruß vernehmen zu dürfen. Es ist der Zeuge, der über den Fragenkomplex derjenigen Leute vernommen werden soll, die aus dem Stahlhelm in die SA übergetreten sind.


[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Geben Sie bitte Ihren vollen Namen an.

ZEUGE THEODOR GRUSS: Theodor Gruß.


VORSITZENDER: Wollen Sie mir diesen Eid nachsprechen: »Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.«


[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]


VORSITZENDER: Sie können sich setzen.

RA. BÖHM: Herr Zeuge! Wie alt sind Sie?


GRUSS: 64 Jahre.


RA. BÖHM: Waren Sie Mitglied der Partei?


GRUSS: Nein.


RA. BÖHM: Oder einer ihrer Gliederungen?


GRUSS: Nein.


RA. BÖHM: Sind Sie Soldat gewesen?


GRUSS: Ja, im ersten Weltkriege.


RA. BÖHM: Welchen Rang hatten Sie?


GRUSS: Ich war Gefreiter.


RA. BÖHM: Und welchen Rang hatten Sie im Stahlhelm?


GRUSS: Ich war der Bundeskämmerer des Stahlhelms.


RA. BÖHM: Von wann und bis wann waren Sie im Stahlhelm?


GRUSS: Von 1919 bis zur Auflösung 1935.


RA. BÖHM: Was für eine Aufgabe hatten Sie nach der Auflösung des Stahlhelms im November 1935?


GRUSS: Ich hatte die Liquidation des Stahlhelms durchzuführen.


RA. BÖHM: Und wie lange sind Sie Liquidator gewesen?


GRUSS: Bis in das Jahr 1939.


[124] RA. BÖHM: Wie vollzog sich die Überführung des Stahlhelms in die SA?


GRUSS: Ende April 1933 hat der erste Bundesführer, Reichsminister Franz Seldte, den zweiten Bundesführer, Düsterberg, unter Bruch des Bundesstatuts seines Postens enthoben und die diktatorische Befehlsführung über den Stahlhelm übernommen. Einen Tag später hat Seldte in einer Rundfunkansprache seinen Eintritt in die Partei erklärt und den Stahlhelm Hitler unterstellt. Im Juni 1933 hat Hitler im Einvernehmen mit Seldte eine Verordnung erlassen, wonach

  • 1. die Stahlhelm-Jugend, der sogenannte Scharnhorst-Bund, in die Hitler-Jugend eingegliedert werden mußte;

  • 2. der Jung-Stahlhelm und die Sporteinheiten wurden der Obersten SA-Führung unterstellt;

  • 3. der übrige Stahlhelm verblieb unter Führung von Seldte.

Einige Wochen später, im Juli 1933, kam ein neuer Befehl Hitlers, der Befehl, daß nunmehr der gesamte Stahlhelm unter die Oberste SA-Führung gestellt wurde und ordnete an, daß der Jungstahlhelm und die Sporteinheiten neu aufgestellt werden sollten zwecks Eingliederung in die SA. Am 4. Juli 1933 nahm die Bundesführung des Stahlhelm eine Neueinteilung des Bundes vor, indem sie aufstellte:

  • 1. den Wehr-Stahlhelm. Dieser bestand aus dem Jung-Stahlhelm, den Sporteinheiten und allen Stahlhelmern bis zum 35. Lebensjahre;

  • 2. den Kern-Stahlhelm, der aus allen Mitgliedern bestand vom 36. Lebensjahre ab.

In der Folge wurde nun der Wehr-Stahlhelm in die SA eingegliedert, in eigenen Formationen, mit eigenen Führern in der feldgrauen Uniform und mit den Stahlhelmfahnen. Diese Eingliederung war ungefähr Ende Oktober 1933 beendet.

Anfang November kam ein weiterer Befehl Hitlers, demzufolge die SA-Reserve I und II aufzustellen waren. Die SA-Reserve I sollte von Einheiten des Stahlhelms formiert werden, und zwar von den Männern vom 36. bis 45. Lebensjahre. Die SA-Reserve II sollte die älteren Jahrgänge, also über 46 Jahre, um fassen. Sie ist aber nicht weiter in Erscheinung getreten und ist wohl nur listenmäßig erfaßt worden.

Dagegen erfolgte nunmehr die Aufstellung der Einheiten des Stahlhelms, aus denen die SA-Reserve I gebildet wurde, und ihre Überführung in die SA, wiederum mit eigenen Führern, in eigenen Einheiten und in der Stahlhelmuniform. Diese Operation war bis gegen Ende Januar 1934 vollzogen. Ich glaube, es war am 24. Januar, als der Stabschef Röhm Hitler meldete, daß der gesamte Stahlhelm in die SA eingegliedert worden ist. Ebenso wie schon früher der[125] Wehr-Stahlhelm den SA-Gruppen unterstellt wurde, wurde nunmehr auch die SA-Reserve I unter den Befehl der SA-Gruppen gestellt; das bedeutete in beiden Fällen...

VORSITZENDER: Sind diese Einzelheiten nicht alle in der Beweisaufnahme vor der Kommission aufgezeigt worden?

RA. BÖHM: Nein, Herr Präsident! Die Einvernahme dieses Zeugen in der Kommissionssitzung war nicht so, wie die Einvernahme im allgemeinen durchgeführt worden ist. Dieser Zeuge ist in der Kommissionssitzung schon damals nur ganz kurz vernommen worden, unter anderem weil sein Gesundheitszustand sehr schlecht war; und es wird sich nicht umgehen lassen, daß dieser Zeuge nun vor dem Court umfangreicher gehört werden muß.


VORSITZENDER: Das einzige Thema, mit dem er sich befaßt, ist die Eingliederung des Stahlhelms in die SA im Jahre 1933. Das ist doch das einzige, worüber er aussagt, und diese Beweisaussage ist sicher schon angemessen in der Kommission behandelt worden.


RA. BÖHM: Ja, Herr Präsident!


VORSITZENDER: Wollen Sie noch etwas vom Zeugen hören?


RA. BÖHM: Ja.


VORSITZENDER: Was denn? Aber darüber spricht er jetzt nicht. Er befaßt sich gerade mit der Art der Eingliederung des Stahlhelms in die SA.


RA. BÖHM: Die Stahlhelmer legen sehr großen Wert darauf, daß dem Gericht vorgetragen wird, wie sie in die SA überführt worden sind, daß sie befehlsgemäß überführt worden sind und daß sie, wie sie behaupten, keineswegs freiwillig in die SA gegangen sind, und ich glaube, daß ich in diesem Zusammenhang...


VORSITZENDER: Das verstehe ich sehr wohl. Aber Sie wollen mir doch nicht sagen, daß dies nicht in der Beweisführung vor der Kommission dargelegt worden sei, daß sie zwangsweise in die SA überführt worden sind?


RA. BÖHM: Ja, ich wollte aber haben, daß die einzelnen Vorgänge, wie sie tatsächlich gewesen sind, dem Gericht hier vorgetragen werden.


VORSITZENDER: Wir haben eine Zusammenfassung der Aussage vor uns liegen, und es scheint uns, daß er die gleichen Ausführungen macht, die er damals gemacht hat.


RA. BÖHM: Gewiß sind es zum großen Teil dieselben gewesen, Herr Präsident! Aber er ist auch mit dem letzten Satz mit seinen Aussagen in diesem Zusammenhang fertig gewesen, und ich wäre sowieso zur nächsten Frage gekommen.


[Zum Zeugen gewandt:]


Haben sich die Einheiten der SA-Reserve I bis zum Zusammenbruch 1945 erhalten?

[126] GRUSS: Nicht alle. Ein großer Teil dieser Einheiten wurde im Laufe der Jahre, namentlich bei Kriegsbeginn, in die aktive SA überführt. Dort wurde er entweder in die Front-SA einrangiert oder der Front-SA in Form von Reservegruppen angegliedert. Die übrigen SA-Reserve-I-Einheiten blieben weiter bestehen.

RA. BÖHM: Warum fand diese Verschmelzung der SA-Reserve mit der SA statt?


GRUSS: Es waren namentlich bei Kriegsbeginn in der SA Lücken entstanden. Diese wurden durch die Überführung der SA-Reserve I aufgefüllt. In der Hauptsache aber wollte man durch diese Überführung die immer als oppositionell erkannten Stahlhelmer durch die SA besser überwachen lassen.


RA. BÖHM: Warum sind Sie selbst nicht in die SA eingegliedert worden?


GRUSS: Ich war damals schon zu alt, und außerdem war ich Hochgradfreimaurer.


RA. BÖHM: Sind bei der Eingliederung des Stahlhelms in die SA über die Befehle hinaus Druckmittel angewandt worden?


GRUSS: Ja, in großer Zahl. Zunächst ist ja keine freiwillige Überführung erfolgt. Es geschah diese Überführung befehlsgemäß, beispielsweise beim Wehr-Stahlhelm in der Form – so ist es in den meisten Fällen gewesen –, der Wehr-Stahlhelm wurde zu einem Appell zusammengerufen. Man teilte ihm mit, er sei überführt, und dann übernahm den Wehr-Stahlhelm ein anwesender SA-Führer. Gefragt wurde niemand, ob er diesen Übertritt mitmachen wollte. Es zeigte sich sofort bei der Eingliederung des Stahlhelms, daß überall bei der übergroßen Menge der Stahlhelmer diese Eingliederung nur mit Widerstreben und unter Anwendung von Widerstand vor sich ging. Stahlhelmer, die nicht zur SA gehen wollten, wurden in zahlreichen Fällen mit Verhaftung bedroht. Es sind in diesem Zusammenhang auch Polizeiarreststrafen bis zu zehn Tagen und länger verhängt worden. Es wurde ferner den Stahlhelmern gesagt, daß, wenn sie der SA fernblieben, ein Befehl Hitlers nicht befolgt würde, und dies bedeutete Staatsfeindlichkeit. Diese Staatsfeindlichkeit hatte aber immer die allerschwierigsten Folgen. Wer mit dem Makel der Staatsfeindlichkeit belegt wurde, wurde der Polizei als politisch unzuverlässig gemeldet und von der Polizei besonders überwacht. Es konnte ihm passieren, daß er bei irgendeiner Gelegenheit ohne jeden Grund verhaftet, in die Gefängnisse oder Konzentrationslager überführt wurde. Die Bezeichnung als Staatsfeind hatte aber auch noch die sehr schwierigen Folgen, daß fast immer die Existenz entweder mindestens schwer gestört oder sogar vernichtet wurde. Staatsbeamte, die als Stahlhelmer nicht in der SA sein wollten und als Staatsfeinde bezeichnet wurden, wurden aus [127] ihren Stellungen entfernt, häufig sogar unter Verlust des Ruhegehalts. Ähnlich war es bei den Angestellten in der Privatwirtschaft. Diese verloren fast immer ihre Stellungen, weil die Chefs in ihrem Betrieb einen Mann nicht haben wollten, der ein Staatsfeind war. Wir haben von der Bundesführung damals in vielen hundert Fällen versucht, diesen Stahlhelmern, die uns um Hilfe angingen, dadurch zu helfen, daß wir die Arbeitsgerichte anriefen. Aber wir konnten es doch in den meisten Fällen nicht erreichen, daß diese Leute wieder ihre Stellungen erhielten. Meistens beschränkte sich das Gericht darauf, ihnen ein Entlassungsgeld zu gewähren. Die Schikanen, die ein Stahlhelmer über sich ergehen lassen mußte, der nicht der SA angehören wollte, waren in einigen Fällen so groß, daß ich mich mit Bestimmtheit an mehrere Selbstmorde von Stahlhelmern erinnere, die alles dies nicht mehr ertragen konnten.


RA. BÖHM: Erstreckten sich diese Ihre Beobachtungen auf ganz Deutschland?


GRUSS: Ja.


RA. BÖHM: Sollte es richtig sein, daß bei der Eingliederung außerdem Täuschungsmanöver stattgefunden haben?


GRUSS: Nach meiner Ansicht haben auch Täuschungsmanöver stattgefunden. Ich erwähnte zum Beispiel vorher bereits, daß sowohl dem Wehr-Stahlhelm wie auch der SA-Reserve I gestattet worden war, die Eingliederung in eigenen Formationen mit eigenen Führern und in der feldgrauen Uniform vorzunehmen. Nach kurzer Zeit wurden aber diese Zusagen ohne weiteres gebrochen, und sowohl Wehr-Stahlhelm wie SA-Reserve I mußten die braune Uniform der SA anlegen. Sie waren also nicht mehr in der SA als ehemalige Stahlhelmer kenntlich. Dann war ein Punkt, der besonders viele Unzuträglichkeiten im Gefolge hatte. Man hatte den Stahlhelmern zugesagt, daß sie nach dem Übertritt gleichzeitig auch Mitglieder des Stahlhelms bleiben konnten, die sogenannte Doppelmitgliedschaft. Sie durften an den Veranstaltungen des Stahlhelms teilnehmen, wenn dadurch der SA-Dienst nicht beeinträchtigt wurde. Aber auch diese Zusage wurde sehr bald zurückgenommen, und es entstanden gerade hieraus bei den Stahlhelmern, die doch treu zu ihrem Bund halten wollten, die allergrößten Schwierigkeiten mit sehr vielen Verhaftungen und Bestrafungen aller Art.


RA. BÖHM: War Seldte in der Zeit, als er den Stahlhelm an Hitler übergab, Willensträger des Stahlhelmbundes gewesen?


GRUSS: Nein, das ist er nicht gewesen. Die übergroße Zahl der Stahlhelmer war mit den Maßnahmen des Bundesführers Seldte nicht einverstanden. Es ist deshalb im Stahlhelm zu ganz schweren Auseinandersetzungen gekommen, und wenn der Stahlhelm damals nicht auseinandergefallen ist, so nur deshalb, weil die Stahlhelmer [128] sagten, wir sind nicht auf die Person Seldtes vereidigt, wir haben dem Stahlhelm und den Frontsoldaten Treue geschworen.


RA. BÖHM: Welche Ränge erhielten die Stahlhelmer in der SA und welche Bedeutung hatten sie?


GRUSS: Auch hier könnte man noch von einem Täuschungsmanöver insofern sprechen, als den Stahlhelmführern bei der Überführung ausdrücklich versprochen worden war, sie würden in den gleichen Rängen in der SA Dienst tun. Aber dieses Versprechen wurde ebenfalls nicht gehalten. Die Stahlhelmführer wurden um ein bis zwei Dienstgrade heruntergesetzt. Bald darauf wurden sie sogar ihrer Kommandos enthoben und zur Disposition gestellt. Nur wenige von ihnen blieben noch in Kommandostellen. Die meisten hatten eigentlich in der SA nichts mehr zu tun, aber sie konnten auch aus der SA nicht heraus. Nach meinen Beobachtungen haben die Stahlhelmführer überhaupt in der SA die Charge eines Standartenführers nicht überschritten, wenn es sich hier nicht um ganz besondere Ausnahmen handelte von solchen Männern, die sich durch eine besonders aktive Tätigkeit im Nationalsozialismus hervortaten. Eine Sonderrolle spielte hierbei hinsichtlich der Dienstgrade auch noch das NS-Reiterkorps, in dem sehr viele Stahlhelmer vereinigt waren. Aber man ließ dieses Reiterkorps hinsichtlich der Führer ziemlich unbehelligt. Die Stahlhelmführer haben dort zumeist ihre Kommandos bis einschließlich zum Standartenführer beibehalten, obwohl auch unter diesen Stahlhelmern viele Oppositionelle sich befanden.


RA. BÖHM: War die Haltung der in die SA überführten Stahlhelmer von den Zielsetzungen der SA verschieden?


GRUSS: Ja. Der Stahlhelm war ja in seinem innersten Wesen etwas ganz anderes als die SA. Wenn jemand in den Stahlhelm eintrat, so tat er das freiwillig und aus eigenster Entschließung. Es wurde nicht jeder in den Stahlhelm aufgenommen. Jede Aufnahme erfolgte erst nach sorgfältiger Prüfung. Der Stahlhelm hatte dann ein Bundesstatut, eine Bundesverfassung, die auf rein demokratischer Grundlage ihm die Möglichkeit gab, in der Mitgliederversammlung sich die Führer zu wählen, die er haben wollte, oder die Führer abzusetzen, die er nicht wollte. Auch die beiden Bundesführer mußten sich von Zeit zu Zeit der Mitgliederversammlung stellen, die dann über ihre Wiederwahl entschied. Das Hauptwesen jedoch des Stahlhelms war die Fortführung und Tradition der im Felde entstandenen Frontkameradschaft, jener eigenartigen Kameradschaft, die in Not und Tod verlangt, daß ich unbedingt für meinen Kameraden mit meinem ganzen Selbst eintreten muß und ihm immer helfen muß. Das war, wie wir das nannten, der Frontsozialismus. Da wurde kein Unterschied gemacht zwischen arm und reich und Rang und Stand. Wir Stahlhelmer waren alle gleich. Nun kommt noch hinzu, daß sich zum Stahlhelm vorwiegend Leute [129] meldeten, die aus einer gemäßigten bürgerlichen, ich möchte fast sagen konservativen Schicht der Bevölkerung stammten. Diese Leute waren nicht für Extreme und Radikalismus, sie waren für eine gemäßigte und ruhige Entwicklung und, wenn man alles dieses zusammenfaßt, dann erkennt man, daß in dem Stahlhelm eben eine ganz besondere Art von Menschen zusammengekommen ist und daß sich hieraus mancherlei Reibungsflächen mit der SA ergeben mußten.


RA. BÖHM: Brachten die Stahlhelmer in die SA militärische Anschauungen mit?


GRUSS: Ja, aber nur insofern, als man oft im Stahlhelm vom ersten Weltkriege gesprochen hat, an dem wir ja fast alle teilgenommen hatten. Aber wir waren doch keine militärische Organisation. Man hat das aber oft vom Stahlhelm behauptet, weil er militärische Kommandos hatte. Es war aber ganz unmöglich, eine Massenbewegung von eineinhalb Millionen Mitgliedern in Ordnung zu führen, ohne solche Kommandos, die den Stahlhelmern als alten Soldaten auch in Fleisch und Blut übergegangen waren. Sonst haben wir eigentlich nie damit gerechnet, daß es wieder zu einem Krieg kommen könnte, denn wir hatten an dem ersten Weltkrieg gerade genug und sahen es als unsere Aufgabe an, im Volk die Idee zu verbreiten, daß man auch ohne Kriege Aufgaben lösen könnte. Aber nicht nur in Deutschland haben wir diese Auffassung vertreten, sondern wir haben auch im Ausland Fühlung genommen, besonders bei den ausländischen Frontkämpferorganisationen, weil wir glaubten, daß diese alten Veteranen uns am besten verstehen würden, wenn wir sagten, daß es nie wieder einen Krieg geben dürfte.


RA. BÖHM: Sollte der soldatische Kameradschaftsgedanke der Vorbereitung eines Angriffskrieges dienen?


GRUSS: Nein, der Stahlhelm hat – das geht ja auch aus dem, was ich eben gesagt habe, hervor – niemals an einen Angriffskrieg gedacht, und der soldatische Frontkameradschaftsgedanke hatte doch nur den Zweck, die edlen Tugenden der im Felde entstandenen Kameradschaft auf weitere Kreise auszudehnen, um dadurch auf friedlichem Wege zu einem besseren staatlichen Zusammenleben zu führen.


RA. BÖHM: Welche Auffassungen bestanden im Stahlhelm gegenüber den politischen Parteien Deutschlands?


GRUSS: Der Stahlhelm war gegen alle radikalen politischen Strömungen. Er verfolgte dabei aber nicht ein Vernichtungs- oder Ausrottungsprinzip, sondern er hatte immer wieder versucht, durch Aufklärung, Überzeugung, durch Werbung diese extremen Richtungen mit den gemäßigten Richtungen zu vereinigen. Ein Beweis dafür, daß die politischen Gegner des Stahlhelms ihn doch letzten [130] Endes verstanden haben, ergab das Frühjahr 1933, als viele Mitglieder, verfolgte Mitglieder der SPD und KPD, im Stahlhelm Schutz und Hilfe suchten. Sie wurden dort von uns aufgenommen, aber der Stahlhelm geriet dadurch in die schwersten Konflikte mit der Partei. Die Partei konnte sich nicht damit einverstanden erklären, daß die von ihr verfolgten Leute vom Stahlhelm geschützt wurden. Bezeichnend hierfür sind die Vorgänge in Braunschweig im Frühjahr 1933. Dort hatte eine Ortsgruppe des Stahlhelms eine Versammlung. Die SA hat dieses Versammlungslokal umstellt und alle Mitglieder verhaftet. Bei der Nachprüfung ergab sich, daß von ungefähr 1500 Teilnehmern über 1000 ehemalige Mitglieder der SPD und KPD waren. Wir hatten sie aufgenommen, als sie uns nachwiesen, daß sie anständige Leute waren und daß sie zum allergrößten Teil mit uns zusammen an der Front gestanden hatten.


RA. BÖHM: War er gewerkschaftsfeindlich gesonnen?


GRUSS: Nein! Die Stahlhelmer waren auch hier nur gegen die extremen Übersteigerungen. Der Stahlhelm hatte ja selbst eine eigene Gewerkschaft, die Stahlhelm-Selbsthilfe. In dieser waren fast alle Arbeiter, die dem Stahlhelm als Mitglieder angehörten, zusammengefaßt. Ich bemerke hierbei, daß der Stahlhelm ungefähr 25 bis 30 Prozent seines Mitgliederstandes unter den Arbeiterkameraden hatte. Übrigens wurde die Stahlhelm-Selbsthilfe im Sommer 1933 gewaltsam aufgelöst.


RA. BÖHM: Betrieben die Stahlhelmer antisemitische Propaganda?


GRUSS: Im Stahlhelm hatte es viele Meinungen und Ansichten gegeben. Jeder konnte eigentlich denken, was er wollte, aber ein Befehl der Bundesführung gegen Juden, den habe ich nie kennengelernt, und er ist auch nicht gegeben worden. Das war auch ganz unmöglich, denn in der Bundesführung zum Beispiel war ja der zweite Bundesführer Düsterberg. Von ihm wußten wir, daß er jüdischer Herkunft war, und trotzdem war Düsterberg der beliebteste und populärste Stahlhelmführer. In dem Zentralamt der Bundesführung in Berlin war einer meiner engsten Mitarbeiter ein Stahlhelmer, der mit einer Jüdin verheiratet war. Wir haben uns darum überhaupt nicht gekümmert. Wir hatten im Stahlhelm viele Juden, weil wir nicht die radikale Rassentheorie der Partei uns zu eigen gemacht hatten, sondern immer dagegen gewesen sind.

Wir hatten auch außer Düsterberg Nichtarier als Stahlhelmführer. Es gab also bei uns im Stahlhelm Juden, Mischlinge, Freimaurer, und es kann deswegen auch keine antisemitische Tendenz im Stahlhelm gewesen sein, mit Ausnahme einiger Kreise, die aber nicht die Oberhand hatten.


RA. BÖHM: Wie wirkte sich nun diese Stahlhelmerziehung bei der Überführung des Stahlhelms in die SA aus?


[131] GRUSS: Es ist zweifellos in erster Linie diese tief einschneidende Stahlhelmerziehung gewesen, die bei allen Stahlhelmern in der großen Mehrzahl den Widerstand gegen die Eingliederung hervorrief. Es waren besonders drei Punkte, die der Stahlhelmer nie verstehen konnte, die ihn immer von der SA trennten. Das war zunächst das autokratische Führerprinzip. Beim Stahlhelm gab es nur selbstgewählte Führer. Die gab es aber bei der SA nicht. Dann konnte man sich mit dem Radikalismus, wie er vielfach in der SA beobachtet wurde, nicht einverstanden erklären. Und ferner konnte man sich auch mit dem Totalitätsgedanken nicht befreunden.

RA. BÖHM: Ja, nun möchte ich Sie fragen, warum sind denn dann die Stahlhelmer aus der SA nicht wieder ausgetreten?


GRUSS: Ja, wenn das möglich gewesen wäre! Da können Sie mir glauben, dann wären sie in hellen Scharen wieder ausgetreten. Aber ein Austritt aus der SA war fast unmöglich. Es gab in der SA eigentlich nur zwei Möglichkeiten, sie zu verlassen: das eine war der ehrenvolle Abschied und das andere der Ausschluß.

Der ehrenvolle Abschied wurde erteilt, wenn man unzweifelhaft nachweisen konnte, daß man zum Beispiel sehr schwer krank war. Von dieser Möglichkeit, die SA zu verlassen, konnte aber nur ein ganz verschwindend kleiner Bruchteil des Stahlhelms Gebrauch machen. Für viele Stahlhelmer kam in der Hauptsache nur der Ausschluß in Frage, und zwar deshalb, weil die SA aus der Opposition des Stahlhelms ja schon sehr frühzeitig erkannt hatte, daß es sich hier um ihr feindlich gesinnte Elemente handelte. Infolgedessen wurde vielfach der Ausschluß dann ausgesprochen, wenn man damit den Stahlhelmer ganz empfindlich treffen wollte.

Zu den Beispielen, die ich bereits vorhin bei dem Begriff »staatsfeindlich« gesagt habe, möchte ich noch folgendes hinzufügen: Der Ausschluß aus der SA wurde in die Papiere des Stahlhelmers eingetragen. Wenn der Stahlhelmer eine neue Stellung annehmen wollte, dann war sofort offenbar, daß er aus der SA ausgeschlossen war; und das war ein so schlimmes Vergehen, daß ihn niemand haben wollte. Stahlhelmer, die in die Reichswehr eintreten wollten, wurden dort nicht angenommen, wenn sie aus der SA ausgeschlossen waren. Es ergab sich also, wenn Sie das berücksichtigen, was ich bereits vorher gesagt habe, eine derart große Menge von Schwierigkeiten schlimmster Art, daß viele Stahlhelmer, die sonst mutige und tapfere Männer waren, doch zögerten, aus der SA auszuscheiden, weil sie es nicht verantworten konnten, die Existenz ihrer Familie zu gefährden.


RA. BÖHM: Und auf welche Zeit erstreckten sich diese Ihre Beobachtungen?


GRUSS: Bis in die Kriegszeit hinein.


[132] RA. BÖHM: Und von wem erhielten Sie Kenntnis von diesen Dingen, die Sie hier wiedergegeben haben?


GRUSS: In meiner Stellung als Bundeskämmerer habe ich ständig mit sehr vielen Stahlhelmern mündlich über alle diese Dinge gesprochen. Ich habe außerdem zahllose Berichte lesen müssen.


RA. BÖHM: Haben Sie als Liquidator des Stahlhelms einen Zusammenhalt der überführten Stahlhelmer über die geschäftliche Abwicklung hinaus aufrechterhalten?


GRUSS: Ja, das habe ich.


RA. BÖHM: Durften Sie das?


GRUSS: Nein! Ich durfte zwar den Stahlhelm kaufmännisch abwickeln, jeder Versuch jedoch, den Stahlhelm etwa getarnt noch weiterzuführen, war mir von der Gestapo untersagt worden. Ich habe deshalb auch wiederholt Zusammenstöße mit der Gestapo gehabt. Aber ich habe doch immer wieder den Versuch weitergeführt, weil zahlreiche meiner alten Kameraden mir immer wieder sagten, daß ich dies tun müßte, weil sonst niemand mehr dagewesen wäre.


RA. BÖHM: Worin bestand denn Ihre Tätigkeit zum Zweck des Zusammenhaltes?


GRUSS: Ich habe viele einzelne Stahlhelmer selbst gesprochen. Sie kamen aus allen Teilen Deutschlands zu mir nach Berlin. Ich habe mit vielen schriftlich in Verbindung gestanden. Ich habe ferner unter kaufmännischer Tarnung Rundschreiben herausgegeben, aus denen die alten Stahlhelmer das entnehmen konnten, was sie...


VORSITZENDER: Was haben wir damit zu tun, Dr. Böhm?

RA. BÖHM: Es dreht sich darum, dem Gericht in der Hauptsache zu zeigen, welcher Art die Ideenrichtung und die Ideologie der aus dem Stahlhelm gekommenen Menschen war.


VORSITZENDER: Nun, Sie verteidigen die SA gegen die Anklage, eine verbrecherische Organisation zu sein. Sie versuchen uns jetzt zu zeigen, was die Weltanschauung des Stahlhelms war. Sie haben fast eine Stunde für diesen Zeugen in Anspruch genommen. Praktisch ist alles, was er gesagt hat, in der Zusammenfassung seiner Ausführungen vor der Kommission schon enthalten, die uns vorliegt.


RA. BÖHM: Gewiß, aber irgend etwas muß ich dem Court vortragen über die Einstellung des Zeugen und der eineinhalb Millionen Leute, die aus dem Stahlhelm in die SA gekommen sind. Ich will versuchen, wegen der restlichen wenigen Fragen, es sind nur noch vier oder fünf, mich auf das kürzeste zu beschränken.

Sie wollen also sagen, Herr Zeuge, daß diese Fortsetzung des Stahlhelms nach 1934 eine illegale gewesen ist?


GRUSS: Ja, denn sie war ja nicht erlaubt.


[133] RA. BÖHM: Und wie groß war etwa der Personenkreis, mit dem Sie in dieser Hinsicht in Verbindung standen?


GRUSS: Ich selbst stand nur mit einigen hundert ehemaligen Stahlhelmern in Verbindung. Aber das waren nur die Verbindungsleute, hinter diesen standen dann die vielen Tausende in den einzelnen Städten.


RA. BÖHM: Bestanden weitere Verbindungen unter den Stahlhelmern?


GRUSS: Ja! Außer der Verbindung mit mir hatten sich überall in ganz Deutschland in den einzelnen Orten selbständige Gruppen von Stahlhelmern außerdem noch zusammengeschlossen, die manchmal doch ganz beträchtliche Stärken erreichten. Zum Beispiel habe ich in Berlin oftmals an solchen Zusammenkünften teilgenommen, an denen über 150 bis 200 Stahlhelmer zusammen waren. Damit nun die Gestapo das nicht...


VORSITZENDER: Dr. Böhm! Wenn das zeigen soll, daß der Zeuge die Verhältnisse im Stahlhelm kannte, dann können Sie es doch sicher dem Wiederverhör überlassen, wenn es bestritten werden sollte. Warum sollten Sie jetzt schon vorwegnehmen, daß man sein Wissen über den Stahlhelm in Frage zieht. Vermutlich weiß er etwas davon. Wenn es bestritten wird, können Sie es dem Wiederverhör überlassen.


RA. BÖHM: Ich will meine letzte oder vorletzte Frage stellen, Herr Präsident.


[Zum Zeugen gewandt:]


Ist Ihnen bekannt, Herr Zeuge, daß überführte Stahlhelmer an Verbrechen, die der SA zur Last gelegt worden sind, beteiligt waren, zum Beispiel an der Judenverfolgung?

GRUSS: Nein, davon ist mir nichts bekannt; aber ich hätte davon doch eigentlich etwas wissen müssen, denn es wäre eine außergewöhnlich auffallende Tatsache gewesen, wenn festgestellt worden wäre, daß Stahlhelmer sich an Judenverfolgungen beteiligt hätten. Ich beziehe mich hierbei auf meine Ausführungen, die ich über das Nichtvorhandensein einer antisemitischen Tendenz im Stahlhelm machte.

RA. BÖHM: Haben Sie Beobachtungen darüber gemacht, daß diese Ablehnung von Stahlhelmern innerhalb der SA allgemein war, oder sind Anzeichen vorhanden, daß erhebliche Teile des Stahlhelms allmählich anderer Meinung wurden?


GRUSS: Diese ablehnende Haltung der Stahlhelmer hat sich bei der übergroßen Mehrzahl derselben unverändert erhalten bis zum Schluß. Ja, ich möchte sogar sagen, diese Opposition und Ablehnung ist, je länger das Dritte Reich dauerte, bei den Stahlhelmern immer [134] schärfer geworden. Ich glaube nicht, daß es viele Stahlhelmer gewesen sind, die von dieser Opposition im Laufe der Jahre abgegangen sind. Natürlich gibt es bei der großen Menge immer solche Einzelfälle, aber das waren Einzelfälle.


RA. BÖHM: Herr Präsident! Ich habe zunächst weiter keine Fragen an den Zeugen.


DR. HANS GAWLIK, VERTEIDIGER FÜR DEN SD: Herr Zeuge! Ist Ihnen bekannt, ob die oppositionellen Stahlhelmer vom SD überwacht worden sind?


GRUSS: Von einer Überwachung durch den SD ist mir nichts bekannt. Ich habe immer nur gehört, daß die Gestapo und die Ortspolizei die oppositionellen Stahlhelmer überwacht haben.


DR. GAWLIK: Der Sohn von Düsterberg hat eine eidesstattliche Erklärung abgegeben unter »Stahlhelm Nummer 4«, daß die oppositionellen Stahlhelmer vom SD überwacht worden sind. Sind diese Angaben in Bezug auf den SD somit unrichtig?


GRUSS: Ich bin der Ansicht, daß sich der Sohn Düsterbergs hier geirrt haben muß. Ich selbst habe nie etwas vom SD in der Eigenschaft als Verfolger oder Überwacher des Stahlhelms gehört.


DR. GAWLIK: Danke schön.

OBERST H. J. PHILLIMORE, HILFSANKLÄGER FÜR DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH: Herr Zeuge! Sie haben über die radikalen und extremen Tendenzen der SA gesprochen.


GRUSS: Ja.


OBERST PHILLIMORE: Sie meinen doch damit, daß sie Terroristen und Gangster gewesen sind?


GRUSS: Ja, dazu kann ich sagen, wenn ich hier gesagt habe, radikale und extreme Tendenzen, dann meinte ich damit diese Gruppen von Leuten bei der SA, die schon damals das Ansehen der SA schwer geschädigt haben. Aber das waren eben Gruppen, ich will damit sagen, das war nicht die ganze SA, das waren immer wieder nur Teile von ihnen.


OBERST PHILLIMORE: Solche Gruppen gab es in jeder Stadt in Deutschland, nicht wahr?


GRUSS: Darüber kann ich nichts sagen, ob es in jeder Stadt Deutschlands war, aber sie waren wohl in vielen Städten.


OBERST PHILLIMORE: Sie behaupten also, daß die Stahlhelmer in ganz Deutschland der SA zwangsweise beitreten mußten?


GRUSS: Ja.


OBERST PHILLIMORE: Und das geschah auf Drohung der örtlichen SA-Führer hin, die sie übernahmen? Stimmt das? Das wollten Sie doch sagen?


[135] GRUSS: Ja.


OBERST PHILLIMORE: Kann man überhaupt im Zweifel sein, daß diese Drohungen und Inhaftierungen, über die Sie gesprochen haben, von der SA-Führung angeordnet worden waren?


GRUSS: Nach meinem Dafürhalten waren diese Drohungen, Inhaftierungen, und alles, was damit zusammenhängt, von der SA-Führung eingeleitet worden. Es mag selbstverständlich bei der großen Menge, die hier in Frage kommt, auch vorgekommen sein, daß hier auch die Partei oder andere Gliederungen des Dritten Reiches eingegriffen haben, aber in der Hauptsache wurden diese Druckmittel doch von der SA selbst ausgeführt.


OBERST PHILLIMORE: Sie haben auch über den Boykott gegen einen Mann gesprochen, der aus der SA ausgestoßen war. Wollen Sie sagen, daß das in ganz Deutschland zutraf, daß, wenn jemand von der SA ausgestoßen war, man ihn dann boykottierte?


GRUSS: Jedenfalls in den Fällen, die ich kenne – und das waren sehr viele – wurde ein solcher Boykott ausgeübt. Ich kenne zum Beispiel einen solchen Boykott in einer kleinen Stadt. Dort lagen ja überhaupt diese Verhältnisse...


OBERST PHILLIMORE: Ich will keine Beispiele. Sie sagen auch, daß ein Mann dann nicht der Wehrmacht beitreten konnte. Das kann doch nur so gewesen sein, daß die SA-Führerschaft der Wehrmacht seinen Namen als einen der Ausgestoßenen mitgeteilt hat?


GRUSS: Es ist möglich, daß die SA der Wehrmacht diesen Namen aufgegeben hat. Aber das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur das eine ganz genau, daß Stahlhelmer, die in die Wehrmacht eintreten wollten, zum Beispiel frühere Offiziere, nicht aufgenommen wurden, wenn sich bei Vorlage ihrer Papiere ergab, daß sie aus der SA ausgeschlossen waren.


OBERST PHILLIMORE: Ich möchte Ihnen nur noch eine oder zwei Fragen über die SA vorlegen. Kennen Sie Minister Severing?


GRUSS: Minister Severing ist mir wie wohl jedem anderen Deutschen aus der Zeit als er Minister war, bekannt. Persönlich kenne ich ihn nicht.


OBERST PHILLIMORE: Kennen Sie ihn als einen anständigen Mann?


GRUSS: Ich persönlich halte Severing für einen an ständigen Mann.


OBERST PHILLIMORE: Wollen Sie sich seine Beschreibung der SA in den frühen Tagen, vor der Machtergreifung, anhören?


GRUSS: Ich kenne diese Beschreibung nicht.


[136] OBERST PHILLIMORE:

»So hat die SA überall dort, wo sie ungehindert ihren Terror entfalten konnte, auch gerast. Sie hat Saalschlachten geliefert; das waren nicht die gewöhnlichen Plänkeleien zwischen politischen Parteien in Wahlkämpfen, sondern das war organisierter Terror.«

Ist das eine richtige Beschreibung der SA während der Jahre vor der Machtergreifung?

GRUSS: Ich glaube, daß Severing im großen und ganzen es richtig beschreibt.

OBERST PHILLIMORE: Kennen Sie den Zeugen Gisevius?


GRUSS: Nein, er ißt mir nicht bekannt.


OBERST PHILLIMORE: Wollen Sie sich seine Worte anhören:

»Während des Anfangsstadiums des Kampfes um die Macht stellte die SA eine Privatarmee dar, die die Aufgabe hatte, Befehle der Nazi-Partei auszuführen.

Wo sich der einzelne über seine Freiwilligkeit nicht ganz schlüssig ist, da beseitigt sie unzweideutig jedes Mißverständnis. Ihre Mittel sind primitiv, dafür aber um so schlagkräftiger. Beispielsweise lernt sich auf den Straßen der neuartige Hitlergruß außerordentlich schnell, sobald neben jeder marschierenden SA-Kolonne... auf dem Bürgersteig ein paar handfeste SA-Männer einhergehen und alle Passanten rechts und links hinter das Ohr hauen, wenn sie nicht bereits drei Schritte im voraus der Sturmfahne den Gruß entbieten. Ähnlich verfahren diese Sturmleute auf sämtlichen anderen Gebieten.«

Ich frage Sie noch einmal, ist das eine richtige Beschreibung des Verhaltens der SA, so wie Sie sie kannten?

GRUSS: Ja, ich muß dazu sagen, eigentlich bin ich doch gar nicht so richtig kompetent, ein Urteil über die SA aus der Frühzeit abzugeben. Denn meine Beobachtungen habe ich erst ab 1933 – ich will mal sagen – amtlich machen müssen, weil ich eben der Bundeskämmerer des Stahlhelms war. Vorher war ich aber Bankdirektor und hatte nicht so sehr das große Interesse an der SA. Ich will aber doch zugeben, daß...

OBERST PHILLIMORE: Dann möchte ich Ihnen noch eine letzte Frage vorlegen...


VORSITZENDER: Liegen diese Aussagen als Beweismaterial vor?


OBERST PHILLIMORE: Jawohl, Herr Vorsitzender! Die erste Erklärung stammt aus der Aussage des Ministers Severing (Sitzung vom 21. Mai 1946, nachmittags, Band XIV, Seite 304) und die zweite Erklärung stammt aus Gisevius' Aussage (Sitzung vom 26. April 1946, vormittags, Band XII, Seite 295).


[137] VORSITZENDER: Der Kern der Aussagen dieses Zeugen war doch der, daß der Stahlhelm zwangsweise in die SA eingegliedert worden ist. Er hat nichts darüber ausgesagt, daß die SA eine ordentliche und anständig geführte Organisation gewesen sei.


OBERST PHILLIMORE: Herr Vorsitzender! Er hat von ihren radikalen, extremistischen Tendenzen gesprochen, und deshalb kann man annehmen, daß er von der SA gesprochen hat.


VORSITZENDER: Meinen Sie, daß er das von der SA gesagt hat?


OBERST PHILLIMORE: Jawohl, man kann es nicht anders auslegen.


VORSITZENDER: Wenn er das von der SA gesagt hat, dann hat er das nicht für die SA als Organisation ausgesagt, und deshalb dürfen Sie das auch nicht in Frage stellen. Wenn er ausgesagt hätte, daß die SA eine Organisation gewesen sei, die sich vollkommen ordentlich benommen hat, dann könnte Ihr Kreuzverhör erheblich sein, aber wenn er das nicht gesagt hat, verstehe ich nicht ganz, inwiefern das Kreuzverhör erheblich ist.


OBERST PHILLIMORE: Herr Vorsitzender! Für die SA ist Zeuge um Zeuge vor der Kommission erschienen.


VORSITZENDER: Jawohl, aber nicht dieser Zeuge und nicht in dieser Sache. Wir wollen uns mit diesem Zeugen befassen. Dieser Zeuge hat vor dem Gerichtshof nichts ausgesagt, was beweisen könnte, daß die SA eine ordentliche und anständige Organisation gewesen ist.


OBERST PHILLIMORE: Herr Vorsitzender! Er hat doch gesagt, daß die SA eine schlecht geführte Organisation war. Ich glaube nicht, daß man von mir verlangen kann, im Kreuzverhör diese Aussage nicht weiter zu verfolgen, es sei denn, Euer Lordschaft hält dies für eine Zeitverschwendung des Gerichtshofs. Meines Erachtens ist es von größter Bedeutung für die Beurteilung der Aussagen von vielen Zeugen für die SA, die vor der Kommission erschienen sind. Euer Lordschaft, ich werde mich sehr kurz fassen.

Ich will noch eine weitere Erklärung, die sich auf die Zeit nach dem Jahr 1933 bezieht, zitieren. Sie stammt von dem Zeugen Gisevius (Protokoll vom 26. April 1946, vormittags, Band XII, Seite 296):

»Die SA veranstaltet Großrazzien. Die SA macht Haussuchungen. Die SA beschlagnahmt. Die SA lädt zu Zeugenvernehmungen. Die SA sperrt ein. Kurzum, die SA erhebt sich zur Hilfspolizei in Permanenz... Wehe, wenn sie jemanden in ihren Klauen hat. Damals entstanden die ›Bunker‹, jene furchtbaren Privatgefängnisse, von denen jeder gute SA-Sturm mindestens einen besitzen mußte. Die ›Abholung‹ wird SA-Gewohnheitsrecht. Die Tüchtigkeit eines [138] Standartenführers mißt sich nach der Zahl seiner Häftlinge, und das Ansehen eines SA-Rabauken wertet nach der Schlagkraft seiner Gefangenen-›Erziehung‹.«


[Zum Zeugen gewandt:]


Ist das eine richtige Beschreibung der Tätigkeit der SA in den Monaten unmittelbar nach der Machtübernahme?

GRUSS: Ja, ich muß sagen, daß das meiste, was der Herr Verfasser hier sagt, mir damals in Berlin tagtäglich bekanntgeworden ist. Aber bedenken Sie, daß es sich hier um die SA handelt, die unter dem Stabschef Röhm stand und daß die spätere SA einer Reinigung unterzogen wurde. Ich glaube, daß aus dieser späteren SA...

OBERST PHILLIMORE: Jawohl, darauf werde ich gleich zu sprechen kommen. Aber es ist doch eine richtige Beschreibung von dem, was sich in den ersten Monaten des Jahres 1933 in Berlin zugetragen hat? Wenn Sie einen Bericht darüber abzugeben hätten, würden Sie dann sagen, daß das eine richtige Beschreibung der Ereignisse in allen Städten Deutschlands war?


GRUSS: Ich möchte sagen, daß nach meiner Erinnerung Herr Gisevius nicht übertrieben hat. Es wird häufig so gewesen sein, wie er es schildert.


OBERST PHILLIMORE: Nun möchte ich Ihnen doch noch Fragen über die Juden stellen. Sie haben gesagt, daß die Mitglieder des Stahlhelms keine Antisemiten gewesen sind. War die antisemitische Einstellung der SA einer der Gründe, warum, Ihrer Aussage nach, Stahlhelmmitglieder ihr nicht gern beitreten wollten?


GRUSS: Nein, das ist vielmehr so: Die Stahlhelmerziehung, diese gemäßigt demokratische Idee des Stahlhelms, die schloß ja eigentlich eine antisemitische Propaganda aus. Denn diese antisemitische Propaganda wäre ja ein Radikalismus gewesen, und diesen Radikalismus gab es bei der übergroßen Zahl der Stahlhelmer nicht.


OBERST PHILLIMORE: Kennen Sie den Zeugen Hauffer? Er hat vor der Kommission ausgesagt.


GRUSS: Ja, Hauffer ist mir bekannt. Er war früher in Dresden.


OBERST PHILLIMORE: Seine Aussage enthält folgendes:

»Wir mißbilligten vollständig die Politik der Partei gegen die Juden.«

Stimmt das?

GRUSS: Jawohl.

OBERST PHILLIMORE: Und die Politik der Partei war die Politik der SA und der SA-Führung, nicht wahr?


GRUSS: Ja, das stimmt.


[139] OBERST PHILLIMORE: Nun zur Eingliederung des Stahlhelms im Jahre 1933: Kann man nicht sagen, daß alle Mitglieder des Stahlhelms gezwungen wurden, der SA beizutreten?


GRUSS: Ich hatte ja auch vorhin ausgeführt, daß bestimmte Altersklassen des Stahlhelms beitreten mußten; und diese Altersklassen allerdings wurden geschlossen und ohne Ausnahme überführt.


OBERST PHILLIMORE: Aber es konnte sich doch sicherlich jemand über 35 Jahre davon ausschließen, nicht wahr?


GRUSS: Ja, wenn sie vorher gefragt worden wären; aber sie wurden eben nicht vorher gefragt. Sie bekamen den Befehl und mußten übertreten.


OBERST PHILLIMORE: Sie kennen den Zeugen Waldenfels, der vor der Kommission erschienen ist. Kennen Sie ihn? Ein höherer Beamter?


GRUSS: Ja.


OBERST PHILLIMORE: Er hat sich geweigert beizutreten und hat trotzdem seine Stellung bis zum Krieg behalten. Stimmt das nicht?


GRUSS: Das ist insofern richtig; aber das ist genauso wie bei mir. Waldenfels war über das Alter derjenigen hinaus, die in die SA eingegliedert wurden.


OBERST PHILLIMORE: Er war doch damals unter 45, nicht wahr?


GRUSS: Ob er damals unter 45 Jahren war, das weiß ich nicht; aber er ist doch ein älterer Mann, und deshalb nehme ich an, wurde er von der Eingliederung nicht betroffen.


OBERST PHILLIMORE: Er ist jetzt ein älterer Mann; er ist seinen Aussagen nach am 10. August 1889 geboren. Wissen Sie, daß der Zeuge Jüttner erklärt hat, selbst wenn man einen Mann zum Beitritt gezwungen habe, hätte ihn nichts abhalten können, wieder auszutreten. Nun, ich weiß, Sie sagen; daß er dann boykottiert worden wäre; aber es ist doch eine Tatsache, daß die Mitgliederzahl der SA von 1934 bis 1939 von viereinhalb Millionen auf eineinhalb Millionen gesunken ist. Stimmt das nicht?


GRUSS: Davon habe ich gehört.


OBERST PHILLIMORE: Geschah das nicht, weil die Leute ausgetreten sind?


GRUSS: Nein, sondern, soviel ich die Sachlage übersehen kann, sind zunächst einmal nach dem 30. Juni 1934 alle Anhänger des Stabschefs Röhm aus der SA entfernt worden, und das waren schon sehr viel. Ich kann eine Ziffer dafür nicht nennen, jedenfalls waren[140] es sehr viele. Dann wurden weiterhin Hunderttausende von SA-Leuten entlassen, aber nicht etwa um in das Privatleben zurückzukehren, sondern sie wurden, soviel ich mich erinnere, anderen Gliederungen der Partei zugeführt. Von den Stahlhelmern sind nur ganz wenige damals von der Entlassung betroffen worden. Das weiß ich deshalb genau, weil vielfach Stahlhelmer zu mir kamen und mir sagten, sie hofften nunmehr, endlich aus der SA hinauszukommen; aber nach einiger Zeit kamen sie wieder zu mir und sagten, das ginge nicht, der Stahlhelm müßte bei der SA bleiben, weil man ihn besser kontrollieren wolle.


OBERST PHILLIMORE: Befolgten diese Mitglieder des Stahlhelms, nachdem sie einmal in der SA waren, die Befehle genauso wie alle anderen in der SA, und betätigten sie sich in der gleichen Weise?


GRUSS: Es blieb ihnen nichts anderes übrig, wenn sie sich nicht den von mir geschilderten außerordentlichen Schwierigkeiten aussetzen wollten. Aber es ist eine Tatsache, daß es vielfach gerade Stahlhelmer gewesen sind, die sich der Ausführung von Befehlen widersetzt haben, die sie nicht verantworten könnten.


OBERST PHILLIMORE: Ich habe keine weiteren Fragen mehr.


VORSITZENDER: Dr. Böhm! Wollen Sie ein Wiederverhör anstellen?


RA. BÖHM: Nein.


VORSITZENDER: Herr Zeuge! Können Sie mir die Mitgliederzahl des Stahlhelms im Jahre 1933, zur Zeit der Eingliederung des Stahlhelms in die SA, und die Stärke der SA ungefähr angeben?


GRUSS: Ich kann nur die ungefähre Stärke des Stahlhelms angeben, und ich möchte sie auf annähernd eine Million beziffern, das heißt die Leute, die also vom Stahlhelm in die SA eingegliedert wurden. Wie stark die SA gewesen ist, weiß ich aber nicht.


VORSITZENDER: Wissen Sie, wieviel Stahlhelmer am oder ungefähr um den 1. September 1939 herum in der SA waren?


GRUSS: Nein, das kann ich nicht sagen.


VORSITZENDER: Wissen Sie, wieviel Stahlhelmer es am Ende des Krieges ungefähr gegeben hat?


GRUSS: Wenn Sie das meinen, wieviel Stahlhelmer noch in der SA waren zu Ende des Krieges, so kann ich auch das nicht beantworten. Es mögen aber noch zu Ende des Krieges vielleicht 500000 bis 600000 Stahlhelmer gewesen sein. Man kann das nur schätzen, nachdem alles in Deutschland durcheinander gewesen war, aber man kann das nicht genau sagen.


[141] VORSITZENDER: Dann können Sie mir also wirklich keine ungefähr genauen Zahlen für den Stahlhelm nach dem Jahre 1934 angeben?


GRUSS: Meinen Sie nun den Stahlhelm, wie er nach 1934 noch weiterbestand, als Bund, oder den Stahlhelm, der in die SA überführt war?


VORSITZENDER: Ich meinte den Stahlhelm, der in die SA überführt worden war.

GRUSS: Ja, das müssen doch ungefähr eine Million gewesen sein.


VORSITZENDER: Der Zeuge kann sich zurückziehen, und der Gerichtshof wird jetzt eine Pause eintreten lassen.


[Der Zeuge verläßt den Zeugenstand.]

[Pause von 10 Minuten.]


MAJOR F. ELWYN JONES, HILFSANKLÄGER FÜR DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH: Gestatten mir Euer Lordschaft, kurz etwas vorzutragen?

Während des Verfahrens gegen die SS hatte ich das Dokument 4043-PS unterbreitet, eine Erklärung eines polnischen Priesters über die Tötung von 846 polnischen Priestern und Geistlichen in Dachau. Der Gerichtshof hat das Dokument damals nicht angenommen, weil es nicht in befriedigender Form vorzuliegen schien. Nun wünscht die Polnische Delegation noch eine weitere Beglaubigung von einem Dr. Pietrowski vorzulegen, der erklärte, daß die Aussage dieses Priesters in seiner Anwesenheit und gemäß den Vorschriften des polnischen Gesetzes gemacht worden sei, und das entspricht im englischen Recht einer feierlichen Erklärung.

Ich habe diese Angelegenheit mit Dr. Pelckmann besprochen; er hat gegen die Vorlage des Dokuments in seiner jetzigen Form nichts einzuwenden.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird über die Sache beraten. Sie können das Dokument vorlegen.


MAJOR ELWYN JONES: Danke schön. Es liegen Kopien in russischer, französischer und deutscher Sprache vor.


VORSITZENDER: Dr. Böhm! Haben Sie noch einen Zeugen?


RA. BÖHM: Herr Präsident! Ich würde bitten, dann den Zeugen Jüttner rufen zu dürfen.


[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Geben Sie bitte Ihren vollen Namen an!

ZEUGE MAX JÜTTNER: Max Jüttner.


[142] VORSITZENDER: Wollen Sie den folgenden Eid nachsprechen: »Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.«


[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]


VORSITZENDER: Sie können sich setzen.

RA. BÖHM: Herr Jüttner! Sie waren von 1934 bis 1945 Chef des Hauptamts »Führung der SA« und ab 1939 zugleich ständiger Stellvertreter des Stabschefs der SA. Sind Sie über alle Fragen, die SA betreffend, auch vor 1933, unterrichtet?


JÜTTNER: Ich habe erst ab 1. November 1933 in der Obersten SA-Führung verantwortlich mitgearbeitet. Aus den Akten, aus Gesprächen mit dem Stabschef Röhm und mit meinen Kameraden bin ich aber über alle wesentlichen Angelegenheiten der SA auch vor dieser Zeit unterrichtet.

Die gestellte Frage kann ich daher bejahen.


RA. BÖHM: Was waren Sie bis zu Ihrer Berufung in die SA-Führung beruflich und politisch?


JÜTTNER: Ursprünglich war ich Berufsoffizier, von 1906 bis 1920. Nach ehrenvollem Ausscheiden aus dem Heer trat ich in den mitteldeutschen Braunkohlenbergbau ein. Dort fing ich als einfacher Arbeiter unter Tage an und habe mich im Laufe der Jahre bis zum Prokuristen eines großen Unternehmens emporgearbeitet.

Politisch gehörte ich nach 1920 einige Jahre der Deutschnationalen Volkspartei an. Dann war ich parteilos. Ich habe aber seit 1920 neben meinem Beruf führend im mitteldeutschen Stahlhelm mitgewirkt.


RA. BÖHM: Welche Gründe waren für Ihre Berufung in die SA-Führung maßgebend?


JÜTTNER: Meine Berufung in die SA-Führung hing zusammen mit der Überführung des Stahlhelms in die SA.

Der mitteldeutsche Stahlhelm genoß einen guten Ruf auch bei politischen Gegnern. Mein besonderes Vertrauensverhältnis zur Bergarbeiterschaft und auch zu den Gewerkschaften war Röhm bekannt. Besondere Erfolge hatte der mitteldeutsche Stahlhelm auf sozialem Gebiete. Das mag alles zu meiner Berufung beigetragen haben.

Ich schied freiwillig aus dem Bergbau aus und wurde hauptamtlicher SA-Führer.

In die Partei wurde ich im Sommer 1934 aufgenommen.


RA. BÖHM: Sie sind also aus dem Stahlhelm in die SA gekommen?


JÜTTNER: Jawohl.


[143] RA. BÖHM: Sind neben Ihnen noch andere Stahlhelm-Führer in maßgebende Stellungen der SA ge kommen?


JÜTTNER: Erschöpfende Zahlen hierüber kann ich ohne statistische Unterlagen nicht geben. Ich habe aber aus dem Gedächtnis mir vor einiger Zeit allein 60 höhere und mittlere SA-Führer namentlich zusammengestellt, die früher dem Stahlhelm angehört haben.

Es sind also viele ehemalige Stahlhelmer in die SA in führende Stellen eingebaut worden. Im Laufe der Zeit waren alle Schlüsselstellungen im Stahlhelm, das Führungsamt, Chef der Adjutantur des Stabschefs...


RA. BÖHM: Im Stahlhelm oder in der SA?


JÜTTNER: In der SA. Alle Schlüsselstellungen in der SA waren im Laufe der Zeit jeweils mit Stahlhelmern besetzt, Führungsamt, maßgebende Mitarbeiter im Personalamt, Chef der Adjutantur des Stabschefs, Leiter der Ausbildungsabteilung, auch in den Gruppenstäben und als Führer von Einheiten waren zahlreiche Stahlhelmer zu finden.


RA. BÖHM: Kann man sagen, daß die Positionen, die hier von Stahlhelmern in der SA eingenommen worden sind, so waren, daß sie von unbedeutendem Einfluß für die große Masse der SA waren?


JÜTTNER: Das kann man nicht sagen. Diese SA-Führer, die aus dem Stahlhelm in diesen Stellungen waren, hatten erheblichen Einfluß auf die Erziehung, Ausbildung und den Einsatz der SA.


RA. BÖHM: Vor ungefähr einer halben Stunde ist hier ein Zeuge Gruß vernommen worden, der zwar nie in der SA war, der die SA-Verhältnisse persönlich nie kennengelernt hat, der sich aber zu einer Reihe von Fragen geäußert hat, zu denen nach meiner Auffassung überhaupt nur ein SA-Angehöriger Stellung nehmen kann. Haben Sie während Ihrer Zugehörigkeit zur SA vom Jahre 1934 bis zur Auflösung dieser Organisation jemals die Wahrnehmung gemacht, daß von Seiten derjenigen SA-Angehörigen, die aus dem Stahlhelm gekommen sind, in der SA eine Opposition getrieben worden ist?


JÜTTNER: Diese Frage kann ich ganz klar und eindeutig mit einem Nein beantworten. Es sind zahlreiche SA-Männer in der ersten Zeit zu mir gekommen, die früher dem Stahlhelm angehört haben. Die haben wie ich auch ein Bedauern in sich getragen, daß ihre alte schöne Organisation nicht mehr bestehe, sie haben aber mit mir freudig zum Ausdruck gebracht, in dieser großen Gemeinschaft der SA nunmehr mitwirken zu können.


RA. BÖHM: Ist Ihnen jemals von irgendeiner Seite eine Opposition von diesen Leuten, die aus dem Stahlhelm gekommen sind, zu [144] Ohren gekommen? Sind darüber von anderen SA-Leuten Klagen eingelaufen?


JÜTTNER: Wenn ich recht verstanden habe, soll es sich dabei handeln um Männer, die in der SA schon waren?


RA. BÖHM: Gewiß, um Leute, die aus dem Stahlhelm im Jahre 1033 und 1934 in die SA überführt worden sind oder übergetreten sind.


JÜTTNER: Diese Männer haben, soweit ich unterrichtet bin, gegen die SA keine Opposition getrieben. Mir ist eine solche Opposition nicht bekanntgeworden.


RA. BÖHM: Wie stark war die SA im Jahre 1933?


JÜTTNER: Die SA zählte 1933 300000 Mann.


RA. BÖHM: Und wie viele SA-Angehörige sind in die SA im Jahre 1933 und 1934 übergetreten?


JÜTTNER: Stahlhelm-Angehörige?


RA. BÖHM: Ja, Stahlhelm-Angehörige.


JÜTTNER: Bei der Überführung des Stahlhelms in die SA zählte der Stahlhelm rund eine Million, vielleicht auch etwas mehr Mitglieder. Von diesen wurde die größere Hälfte in die SA überführt, rund 550000 Männer. Diese Zahl deckt sich auch mit der, die der ehemalige Bundesführer Seldte im Gedächtnis hat.


RA. BÖHM: Unterscheiden Sie da zwischen dem Kern-Stahlhelm und einer weiteren Gliederung des Stahlhelms? Können Sie sagen, daß die Gesamtheit der aus dem Stahlhelm kommenden Leute, die in die SA übergetreten sind, rund eine Million war?


JÜTTNER: Nachdem der Stahlhelm aufgelöst war – das ist, glaube ich, 1935 geschehen – ist es durchaus möglich, daß insgesamt eine Million Männer, aus dem Stahlhelm gekommen, in der SA waren.


RA. BÖHM: Es war also das Verhältnis in den Jahren 1933 und 1934 so, daß die SA bestand aus zwei Dritteln Stahlhelmern und einem Drittel SA-Leuten?


JÜTTNER: Es kam im Jahre 1933/1934 außerdem noch hinzu die SA-Reserve II; das war der Kyffhäuserbund. Infolgedessen kann man diese eben dargelegte Drittelung nicht ganz anwenden. Aber wenn man die ursprüngliche Zahl, die ursprüngliche Stärke der SA vom Januar 1933 zugrunde legt, dann trifft das zu, was Sie eben, Herr Doktor, gesagt haben.


RA. BÖHM: Die SA hat dann kurz nach 1933 einen ungeheuren Aufstieg mitgemacht, und zwar von der ursprünglichen Zahl von 300000 auf rund viereinhalb Millionen Menschen bis 1935; ist das richtig?


[145] JÜTTNER: Bis 1934; das stimmt.


RA. BÖHM: Man hat dann von der Seite der Obersten SA-Führung aus danach getrachtet, die SA, in die eine Reihe von Menschen hineingekommen waren, die an sich dort nichts zu suchen hatten, zu reduzieren, und es wurden aus der SA bis zum Jahre 1939 rund wieder drei Millionen Menschen ausgeschieden, so daß die SA im Jahre 1939 rund eineinhalb Millionen Menschen betrug; ist das richtig?


JÜTTNER: Jawohl, das ist richtig. Die Zahl eineinhalb Millionen wurde allerdings schon einige Jahre früher erreicht. Diese Reduzierung der SA wurde dadurch bewerkstelligt, daß ausgeschieden wurden:

  • 1. die SA-Reserve II – Kyffhäuserbund – mit etwa eineinhalb Millionen,

  • 2. nach dem Tode Röhms das NSKK,

  • 3. sehr viele SA-Männer, die in der Politischen Leitung sich betätigten als Blockleiter, Zellenleiter und dergleichen,

  • 4. schied der Stabschef Lutze alle die SA-Männer aus, die aus beruflichen oder sonstigen Gründen sich am Dienst nicht beteiligen konnten oder auch nicht wollten.

RA. BÖHM: Ist nun bei der Verminderung der Zahl von viereinhalb Millionen auf eineinhalb Millionen Ihnen aufgefallen, daß besonders viele Stahlhelm-An gehörige oder einstige Stahlhelm-Angehörige aus der SA ausgeschieden sind?

JÜTTNER: Vielleicht darf ich hierzu auf den mitteldeutschen Stahlhelm, den ich selbst geführt habe, eingehen. Dort war – das war das große Industriegebiet um Halle – eigentlich nach 1935 der Kern der SA mein alter Stahlhelm, es waren also sehr viele Stahlhelmer in der SA verblieben.


RA. BÖHM: Und das waren diejenigen Stahlhelmer, die zum Schluß noch bis zur Auflösung der Organisation SA in der SA geblieben sind?


JÜTTNER: Jawohl, und zwar nicht die schlechtesten.


RA. BÖHM: Wenn nun in den Jahren 1935 und später der einzelne SA-Mann, der aus dem Stahlhelm gekommen ist, das Bedürfnis in sich gefühlt hätte, aus der SA auszutreten, hätte er das gekonnt?


JÜTTNER: Das hätte er ohne weiteres gekonnt.


RA. BÖHM: Wären ihm dadurch besondere Schwierigkeiten entstanden?


JÜTTNER: Von SA-Seite unter gar keinen Umständen.


[146] RA. BÖHM: Der Zeuge Gruß hat vorhin unter anderem behauptet, in diesem Falle wäre es ihm unmöglich gewesen, zum Beispiel als Offizier zum Heer zu kommen, weil in diesem Fall in seinen Papieren der Vermerk gestanden hätte »Aus der SA ausgeschieden«; ist das richtig?


JÜTTNER: Da scheint der Herr Zeuge Gruß etwas verwechselt zu haben. Wer strafweise aus der SA entlassen wurde, der wurde allerdings, weil er sich irgendwie vergangen hatte, in seinen Papieren mit einem Vermerk versehen, und das wirkte sich aus genau wie eine Vorstrafe im gewöhnlichen Leben.


RA. BÖHM: Sie können also sagen – um das kurz zusammenzufassen –, daß der weitaus größte Teil der Stahlhelmer, die im Jahre 1933 und spätestens 1934 in die SA gekommen sind, Ihnen gegenüber treue SA-Kameraden waren und auch geblieben sind; stimmt das?


JÜTTNER: Das waren meine besten Kameraden und sind es auch geblieben.


RA. BÖHM: Wie war die Stellung des Stabschefs zu der Parteiführung und zur Staatsführung?


JÜTTNER: Stabschef Röhm war eine starke Persönlichkeit, sein Wort galt in der Parteiführung viel. Als Reichsminister...


VORSITZENDER: Dr. Böhm! Der Gerichtshof möchte gern wissen, ob Sie damit sagen wollen, daß die SA nach der Einverleibung des Stahlhelms eine freiwillige Organisation war oder, soweit es den Stahlhelm betrifft, eine unfreiwillige.


RA. BÖHM: Wenn ich die Frage recht verstanden habe, kann ich antworten, daß der Stahlhelm eine freiwillige Organisation war und daß er auf Grund Befehls in die SA gekommen ist.


VORSITZENDER: Es scheint zwischen Ihren beiden Zeugen eine gewisse Meinungsverschiedenheit zu bestehen. Der Gerichtshof möchte wissen, was Sie beweisen wollen. Wollen Sie beweisen, daß die SA nach Eingliederung des Stahlhelms eine freiwillige Organisation war?


RA. BÖHM: Nachdem der Stahlhelm in die SA übernommen war, war er seiner Freiwilligkeit als Stahlhelm selbstverständlich enthoben, und zwar wurde dann die Organisation sowohl wie jedes Einzelmitglied Mitglied der SA.


VORSITZENDER: Sie meinen freiwillig oder unfreiwillig?


RA. BÖHM: Der Stahlhelm ist auf Grund Befehls in die SA übernommen worden; nach der Übernahme hat seine Eigenschaft als selbständige Organisation aufgehört, er ist dann SA geworden, und jedes einzelne frühere Mitglied des Stahlhelms ist Mitglied der SA geworden.


[147] VORSITZENDER: Was ich wissen möchte ist, ob Sie behaupten, daß die Stahlhelmer, nachdem sie SA-Mitglieder geworden waren, freiwillig oder unfreiwillig der SA angehörten?


RA. BÖHM: Das ist nach meinem Dafürhalten im Zusammenhang mit dem Paragraphen 6 des Beschlusses vom 13. März 1946 eine Rechtsfrage. Ich behaupte, daß er auf Grund Befehls in die SA gekommen ist, in der letzten Auswirkung nicht freiwillig, sondern auf Grund Befehls.


VORSITZENDER: Sie erklären also, sie seien unfreiwillig in die SA aufgenommen worden?


RA. BÖHM: So ist es nicht ganz, Herr Präsident! Ich sage, sie sind auf Grund Befehls, sicher zum größten Teil unfreiwillig, zunächst in die SA gegangen.


VORSITZENDER: Dr. Böhm! Ich bezweifle nicht, was der Zeuge sagte. Das habe ich gehört, und ich hörte auch, was der letzte Zeuge gesagt hat. Herr Biddle möchte wissen, ob Sie behaupten wollen, daß die Mitglieder des Stahlhelms, nachdem er in die SA eingegliedert worden war, freiwillige oder unfreiwillige Mitglieder waren? Sie müssen sich schon entschließen, was Sie beweisen wollen. Vielleicht wird Ihnen klarer, was ich meine, wenn ich sage: Konnten sie aus der SA austreten, oder konnten sie nicht austreten?


RA. BÖHM: Das soll nicht das Thema meiner Beweisführung sein, Herr Präsident! Das Thema meiner Beweisführung sollte sein, zuerst zu zeigen, daß der Stahlhelm auf Grund Befehls, also unfreiwillig, in die SA überführt worden ist. Das wird wohl die weitaus größere Meinung der Stahlhelm-Angehörigen gewesen sein. Ob und inwieweit sie dann austreten konnten oder nicht, das wollte ich jetzt durch diesen Zeugen aufklären.


VORSITZENDER: Gut, fahren Sie fort, Dr. Böhm! Sie werden uns später sicher sagen können, auf welchen Zeugen Sie sich stützen wollen.


RA. BÖHM: Herr Zeuge! Ich möchte Sie bitten, dann mit Ihren Ausführungen weiterzufahren zu der Frage, wie war die Stellung des Stabschefs zur Staatsführung und zur Parteiführung. Sie haben erzählt, daß der Stabschef Röhm eine starke Persönlichkeit gewesen ist und daß demzufolge sein Wort in der Parteiführung sehr viel gegolten hat. Und nun bitte ich Sie, doch weiterzufahren.


JÜTTNER: Röhm war Reichsminister; als solcher suchte er auch auf die Staatsführung Einfluß zu neh men, um seine Ziele zu verfolgen. Stabschef Lutze war nur noch Reichsleiter in der Partei. Trotzdem hatte er auf die Parteiführung keinen Einfluß. In den letzten Jahren, auch vor dem Kriege schon, mied er Gau- und Reichsleitertagungen. Reichsminister ist Lutze nicht mehr gewesen. Er hatte daher auf die Staatsführung keinerlei Einfluß. Stabschef [148] Schepmann war weder Reichsleiter noch Reichsminister. Als nach dem 30. Juni 1934 die SA zur Bedeutungslosigkeit herabsank, war auch die Einflußnahme des Stabschefs auf Partei- und Staatsführung verschwunden.


RA. BÖHM: Und wie standen die Stabschefs zum Führerkorps der SA? Wurden die letzteren dauernd von allem, was beabsichtigt worden war und erreicht werden sollte, unterrichtet?


JÜTTNER: Auf Führertagungen und bei Lehrgängen in den SA-Schulen haben die Stabschefs ihr Führerkorps laufend unterrichtet über ihre Ziele, über die Aufgaben, besonders die Erziehungsaufgaben der SA. Bei den Führertagungen fand jeweils freie Aussprache statt.


RA. BÖHM: Wie beurteilen Sie das Führerkorps vor und nach dem Tode Röhms?


JÜTTNER: Ich kenne die Führung der SA, ihre Ziele und die SA-Führer, besonders die höheren SA-Führer, ganz genau. Es liegt mir fern, irgend etwas zu beschönigen. Ein geringer Bruchteil der SA-Führer, die sich als Landsknechte erwiesen hatten, wurde ausgeschaltet. Auch diese SA-Führer haben sich früher, im vorigen Weltkrieg, als tapfere Soldaten oder später als Freikorps-Männer unter der Regierung Ebert-Noske Verdienste erworben. Ihre Haltung und ihre Lebensführung widersprach aber den Grundsätzen der SA. Deshalb mußten sie ausscheiden. Im übrigen aber, also die Masse des SA-Führerkorps, war anständig und sauber und in seiner Rechts- und Pflichtauffassung untadelig.


RA. BÖHM: Äußern Sie sich auch zu dem hauptamtlichen Führerkorps.


JÜTTNER: Von den hauptamtlichen Führern, Obergruppen- und Gruppenführern, da kenne ich Werdegang, Lebensführung und politische und sittliche Haltung. Abgesehen von den verschwindend wenigen Ausgeschiedenen waren diese SA-Führer unbescholten. Kein einziger war vorbestraft, keiner war eine sogenannte gescheiterte Existenz, alle hatten sie einen Zivilberuf bevor sie in das hauptamtliche SA-Führerkorps eintraten. Ihre Lebensführung war schlicht und bescheiden. Sie wurden jedoch im Verhältnis zu vergleichbaren Beamten oder Vertretern der Wirtschaft äußerst gering bezahlt. Alle Nebenbezüge wurden ihnen angerechnet, Doppelverdiener gab es in der SA nicht. Nicht einer konnte sich auf Grund seiner Dienststellung persönlich bereichern, gesellschaftlichen Aufwand konnte sich nur der leisten, der Privatvermögen besaß, und von den Gruppen- und Obergruppenführern, welche 1939 in der SA-Führung oder bei den Gruppen tätig waren, sind die Hälfte gefallen. Sie gaben ihr Leben im Glauben, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Sie waren Patrioten und haben kein Unrecht und keine [149] Gottlosigkeit begangen. Und ich bekenne heute noch mit Stolz, einem solch lauteren Führerkorps angehört zu haben.


RA. BÖHM: Wurden die SA-Führer besoldet?


JÜTTNER: Bis 1933 gab es keine besoldeten SA-Führer. Lediglich die Führer der sogenannten Untergruppe – bei jedem Gau eine – erhielten eine Aufwandsentschädigung von 300 Reichsmark monatlich etwa. Nach 1933 wurde eine Besoldungsordnung eingeführt. Sie erfuhr 1940 eine geringe Aufbesserung. Das Höchstgrundgehalt für einen Obergruppenführer war 1200 Reichsmark monatlich. Vom Scharführer bis zum Obersturmbannführer einschließlich waren alle SA-Führer – mit Ausnahme von Hilfskräften – ehrenamtlich tätig. Von der Gesamtheit des Führerkorps wurden rund zwei Prozent besoldet, einschließlich der nebenamtlichen Führer.


RA. BÖHM: Wie war das SA-Führerkorps eingeteilt?


JÜTTNER: Wir haben in der SA unterschieden:

SA-Führer,

SA-Verwaltungsführer,

SA-Sanitätsführer.

Die SA-Führer bildeten die Führungsstäbe und führten die Einheiten. Die SA-Verwaltungsführer bearbeiteten den Etat, die Geldverwaltung und Revision. Sie bildeten zusammen mit den Verwaltungsführern der anderen Gliederungen und der Partei einen besonderen Körper, Führungskörper, und hatten den Weisungen des Reichsschatzmeisters zu folgen. Die Sanitätsführer waren Ärzte und Apotheker. Ihnen oblag die gesundheitliche Betreuung der SA. Sowohl Verwaltungs- wie Sanitätsführer hatten auf die Führung der SA nicht den geringsten Einfluß. Sie besaßen auch kein Recht dazu.

Außerdem hatte die SA noch Führer zur besonderen Verwendung, sogenannte z.V.-Führer und Ehrenführer, von denen einige den Hauptangeklagten angehören.

RA. BÖHM: Ist einer von den Hauptangeklagten nicht Ehrenführer gewesen?

JÜTTNER: Ja, ich glaube verschiedene. Ehrenführer waren die Herren Göring, Frank, Sauckel, von Schirach, Streicher und meines Wissens vielleicht auch Heß und Bormann.

Ich darf dazu sagen, daß die Ehrenführer über den Dienstbetrieb in der SA überhaupt nicht unterrichtet worden sind. Sie hatten weder die Möglichkeit noch die Befugnis, auf Ausbildung, Führung und Einsatz der SA irgendwelchen Einfluß auszuüben. Sie hatten lediglich das Recht, den SA-Dienstanzug zu tragen und bei Veranstaltungen in den Reihen des SA-Führerkorps Aufstellung zu [150] nehmen. Auch Hermann Göring, der im Jahre 1923 die SA vorübergehend geführt hat, als sie nur wenige tausend Mann zählte, nahm nach dieser Zeit keinerlei Einfluß mehr auf die SA. Dazu hatte er auch gar keine Zeit. Seine Ernennung zum Chef der »Standarte Feldherrnhalle« War eine äußere Ehrung, ähnlich wie sie in der kaiserlichen Zeit verdienten Heerführern oder Angehörigen, selbst weiblichen Angehörigen von Fürstenhäusern zuteil wurde.

Herr Frank wurde vom Stabschef Lutze zum Führer der SA des ehemaligen Generalgouvernements ernannt. Auch das war und blieb nur eine äußere Ehrung, denn die Führung selbst hat ein besonderer Führungsstab ausgeübt unter dem Brigadeführer Peltz und später Kühnemund. Irgendwelche Befehle über die Führung der SA in dem dortigen Gebiet hat er vom Stabschef nicht erhalten. Solche Befehle gingen an den genannten Führungsstab, und dieser war der Obersten SA-Führung verantwortlich.

Die von mir erwähnten z.V.-Führer konnten zur Dienstleistung vorübergehend herangezogen werden, wenn sie dazu bereit waren. Das waren beratende Dienstleistungen, zum Beispiel in Rechts- und Sozialfragen.


RA. BÖHM: Aus welchem Menschenmaterial setzte sich im allgemeinen die SA zusammen?


JÜTTNER: Die SA war von Anbeginn an zusammengesetzt aus ehemaligen Soldaten des vorigen Krieges und aus jungen Idealisten, die ihr Vaterland über alles geliebt haben. Die SA war nicht, wie der Herr Zeuge Gisevius behauptet hat, eine Verbrecher- oder Gangsterbande, sie war vielmehr das, was Sinclair Lewis einmal geschrieben haben soll, reine Idealisten. Zahlreiche amtierende Geistliche, viele Theologiestudenten gehörten der SA an als aktive Mitglieder, zum Teil bis zuletzt. Jeder einzelne SA-Mann wird bestätigen können, daß von ihm niemals verbrecherische Handlungen gefordert wurden, daß die SA-Führung niemals verbrecherische Ziele verfolgt hat.


RA. BÖHM: Sind Sie in der Lage, Zahlenangaben zu machen über diejenigen SA-Angehörigen, die mit den bestehenden Gesetzen in Konflikt gekommen sind?

JÜTTNER: In den Internierungslagern, wo Tausende ehemalige SA-Angehörige aus allen Teilen des Reiches interniert sind, wurden teilweise Erhebungen angestellt, und das dort gewonnene Ergebnis darf wohl ohne weiteres auf die Gesamt-SA übertragen werden. Dabei hat sich herausgestellt, daß von den internierten SA-Männern noch nicht 1 Prozent, nämlich 0,65 Prozent, kriminell vorbestraft waren. Demgegenüber steht der vom Statistischen Reichsamt ermittelte Stand von 1,67 Prozent der gesamten Bevölkerung des ehemaligen Reiches an kriminell Vorbestraften.


[151] RA. BÖHM: Ja! Wie aber erklären Sie sich dann, daß zum Beispiel in den Jahren 1933/1934 Übergriffe und Ausschreitungen von SA-Angehörigen begangen wurden, wie sie in der Anklageschrift behauptet sind?


JÜTTNER: Diese Übergriffe kann und darf man nicht entschuldigen. Es sind Übergriffe, wie sie bei jedem revolutionären Umbruch vorkommen, zum Beispiel bei der Revolution in Deutschland im Jahre 1918 oder bei gleichgearteten Geschehnissen der Vergangenheit in anderen Ländern. Diese Übergriffe sind revolutionäre Handlungen unbefriedigt gewesener politischer Kämpfer.


RA. BÖHM: Gibt es vielleicht nicht noch andere Erklärungen über diese Ausschreitungen?


JÜTTNER: Da kann man noch eine ganze Reihe von Umständen anführen, die solche Ausschreitungen nicht entschuldigen, sie aber etwa erklären:

1. Vor 1933, besonders unter der Regierung Schleichers, ging erwiesenermaßen die Polizei besonders scharf und einseitig gegen die SA vor. Die Folge war ein Mißtrauen gegen die Polizei. Es kam dazu, daß im Jahre 1933 im Innern des Landes Bürgerkrieg und Aufruhr drohte. Da ist es verständlich, wenn auch nicht entschuldbar, daß mancher sich an Stelle der für unzuverlässig gehaltenen Polizei zum Schutze seines neuen Staates berufen fühlte und sich dadurch zu Übergriffen hinreißen ließ.

2. Vor 1933 fand eine wüste Hetze gegen die SA statt. An dieser Hetze beteiligten sich nahezu alle anders gearteten Parteirichtungen. Aufforderungen zu Tätlichkeiten, Transparente mit der Aufschrift »Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft«, Sprechchöre mit dem Ruf »Nieder mit der SA«, Schikanen an SA-Männern bei der Arbeitsstätte, Drangsalierungen der Kinder von SA-Männern in der Schule, Boykotte von Geschäften, deren Inhaber SA-Männer waren, Überfälle auf einzelne SA-Männer und auch auf Stahlhelmleute. Ich zum Beispiel in meiner Hallischen Gegend, wo ich damals noch war, habe in meinem Bezirk allein 43 Tote zu beklagen, Stahlhelmer und SA-Männer.

Alle diese Umstände hatten einen verständlichen Ingrimm zur Folge, und mancher glaubte nun nach 1933, alte Rechnungen politischen Gegnern gegenüber begleichen zu können.

Als dritten Grund oder Umstand, der zu diesen Übergriffen geführt hat, muß ich angeben, daß nach 1933 ein Massenzulauf zur SA stattfand. Die Prüfung der Anständigkeit des einzelnen litt zwangsläufig darunter, und erwiesenermaßen haben sich hierbei auch dunkle Elemente und Provokateure eingeschlichen mit der Absicht, den Ruf der SA zu schädigen.

[152] Die Übergriffe waren also nicht nur ein Nachklingen der politischen Auseinandersetzungen vor 1933, sondern sie waren erwiesenermaßen sehr oft auch begangen von solchen Provokateuren. Die Organisation als solche hat sich hierbei nicht schuldig gemacht, sondern ist von den Übeltätern abgerückt, und die Führung hat solche Kräfte, wenn sie ihr gemeldet wurden, schärfstens verurteilt.


RA. BÖHM: Und nun sagen Sie, was hat die SA-Führung unternommen, um solche Ausschreitungen, wie sie nun einmal im Laufe des Jahres 1933 vorgekommen sind, zu unterbinden?


JÜTTNER: Die SA-Führung hat zunächst in Preußen mit dem preußischen Innenminister und seinen Beauftragten ständig aufs engste zusammengearbeitet, um solche Übergriffe zu unterbinden. Der Stabschef Röhm hat Leute abgestellt für die Hilfspolizei und ausgesuchte Männer aus der SA für das in Preußen zuerst geschaffene Feldjägerkorps, das sich ganz besonders bewährt hat.

Zweitens hat die SA-Führung, um Vertrauen zu gewinnen und zu rechtfertigen, laufend an der Säuberung ihrer eigenen Reihen von Provokateuren gearbeitet. Bei der Polizei, Hilfspolizei abqualifizierte Kräfte wurden gleichzeitig auch aus der SA entfernt. Bei Übergriffen als schuldig erwiesene Kräfte wurden bestraft. Die SA-Führung hat von sich aus weiter einen SA-Streifendienst eingerichtet, um die Haltung ihrer Männer auf der Straße und im öffentlichen Leben zu überwachen, und schließlich war es immer Hauptsorge der SA-Führung, die vielen Arbeitslosen von der Straße weg in angemessene Berufe in Arbeit zu bringen. Dem dienten auch die zahlreichen sozialen Maßnahmen der SA-Führung, wie zum Beispiel die vielen Hilfswerklager für berufliche Umschulung, Siedlungen, die Moorkulturarbeiten und anderes mehr.


RA. BÖHM: War die Zahl der festgestellten Vorkommnisse oder Untaten, insoweit sie von SA-Angehörigen zu verantworten waren, groß?


JÜTTNER: Im Vergleich zur Stärke der SA waren die festgestellten Untaten zahlenmäßig verschwindend gering. Dazu darf ein Weiteres nicht außer acht gelassen werden. Bei all diesen Übergriffen wurde immer die SA beschuldigt, weil damals jeder Mann im Braunhemd als SA-Mann bezeichnet wurde, ganz gleich ob er SA-Angehöriger war oder nicht. Hierdurch mußte zwangsläufig in der Weltmeinung von der SA ein verzerrtes Bild entstehen. Es mußte zu Vorurteilen führen zum Schaden der SA, weil man der SA vieles in die Schuhe schob, obwohl SA-Angehörige bei Übergriffen überhaupt nicht beteiligt waren.


RA. BÖHM: Ist Ihnen bekannt, daß Schritte unternommen wurden, um Verfahren vor den staatlichen Gerichten gegen SA-Angehörige wegen solcher Ausschreitungen niederzuschlagen?


[153] JÜTTNER: Meines Wissens sind solche Schritte, um Verfahren vor staatlichen Gerichten niederzuschlagen, seitens der SA-Führung nicht unternommen worden. Bei allgemeinen Amnestien hat die SA-Führung die Begnadigung ihrer Angehörigen selbstverständlich auch verlangt.


RA. BÖHM: Nach der Aktion gegen die Juden im November 1938 hat sich aber das Oberste Parteigericht gegen die Aburteilung von SA-Angehörigen eingesetzt, die an der Erschießung von Juden beteiligt waren. Kennen Sie diese Eingabe?


JÜTTNER: Ich kenne diese Eingabe nicht, habe hier in der Gefangenschaft aber davon gehört.


RA. BÖHM: Und wie nehmen Sie zu dieser Eingabe Stellung?


JÜTTNER: Wenn ich ihren Inhalt recht in Erinnerung habe, hat das Oberste Parteigericht verlangt, daß in erster Linie der für diese Aktion verantwortliche Mann zur Rechenschaft gezogen wird.


RA. BÖHM: Halten Sie diese Stellungnahme des Obersten Parteigerichts für richtig?


JÜTTNER: Diese Forderung, die ist mir aus dem Herzen gesprochen.

Man kann nur bedauern, daß das Oberste Parteigericht sich nicht durchgesetzt hat. Das Weitere aber, daß Männer, die andere erschossen haben, frei ausgehen sollen, also nicht gerichtlich abgeurteilt werden sollen, eine solche Forderung ist unter gar keinen Umständen zu rechtfertigen.


RA. BÖHM: Ja, ist eine solche Forderung jemals von der SA-Führung oder von SA-Angehörigen gestellt worden?


JÜTTNER: Die Grundlinie der SA-Führung war gerade bei diesen Aktionen im November 1938, daß die festgestellten Schuldigen bestraft werden, und zwar nicht nur seitens der SA, sondern auch durch die ordentlichen Gerichte. Und soweit dem Stabschef Lutze Fälle bekanntgeworden sind, hat er sich meines Wissens immer in diesem Sinne eingesetzt und das Nötige veranlaßt. Wir hatten in der SA sogar Festlegungen mit den Justizbehörden, daß, wenn ein SA-Mann sich etwas hatte zuschulden kommen lassen und vor Gericht kommen sollte, die SA-Führung benachrichtigt wird, damit sie diesen Mann sofort vom Dienst suspendieren kann, ihm gegebenenfalls das Tragen des SA-Dienstanzuges verbieten kann und letzten Endes von sich aus auch Strafe einleiten kann. Dieser Grundsatz wurde bei der Aktion vom November 1938 von Stabschef Lutze in gleicher Weise beherzigt.


RA. BÖHM: Welche Auffassung vertrat die SA in der Judenfrage?


JÜTTNER: Die SA vertrat die Forderung, daß der Einfluß der Juden im Staatsleben, in der Wirtschaft, im Kulturleben – ihrer [154] Minderheit in Deutschland entsprechend – eingedämmt wurde. Sie stand auf dem Boden des Numerus Clausus.


RA. BÖHM: Mit welcher Begründung hat man dieses Verlangen oder diese Einstellung gefordert?


JÜTTNER: Dieses Verlangen, das ja nicht nur der SA eigen war, ist in Deutschland eigentlich erst dadurch entstanden, daß nach dem Kriege 1918/1919 eine Masse von jüdischen Kräften aus dem polnischen Raum nach Deutschland zuwanderten und sich dort in lästiger Weise in Wirtschaft und verschiedenen anderen Lebenszweigen breit machte. Die Schiebergeschäfte, bekannt durch große Prozesse, und die zersetzenden Einflüsse hatten einen ausgesprochenen Unwillen und eine Gegenströmung zur Folge. Auch die alteingesessenen Juden in Deutschland und der »Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« nahmen teilweise in scharfer Form gegen diese zugewanderten Kräfte Stellung. Aus diesen Tatsachen heraus ist die Forderung der SA zu verstehen.


RA. BÖHM: Hat die SA zu Gewalttaten gegen Juden jemals aufgefordert?


JÜTTNER: Nein, in keiner Weise. Die Stabschefs Röhm, Lutze, Scheppmann haben die Judenfrage zu keiner Zeit zum Inhalt ihrer Reden oder ihrer Anordnungen gemacht, geschweige denn zu einer Hetze. Der Begriff »Herrenrasse« wurde in der SA niemals gepflegt. Das wäre auch widersinnig gewesen, denn rassenmäßig stellte die SA niemals eine Auslese dar, sie ergänzte sich aus allen Schichten. Der Ausrottung eines Volkes seiner Art wegen hat die SA zu keiner Zeit das Wort geredet. Die gewaltsamen Aktionen gegen die Juden hat die SA nicht propagiert, im Gegenteil, die Führung hat stets gegen solche Aktionen schärfstens Stellung genommen.


VORSITZENDER: Vielleicht wäre jetzt ein passender Zeitpunkt, abzubrechen?

Wie lange, glauben Sie, werden Sie sich noch mit diesem Zeugen zu beschäftigen haben?


RA. BÖHM: Ich glaube, daß ich sicher noch eine Stunde brauche, um den Zeugen zu vernehmen, vielleicht auch eineinhalb Stunden, Herr Präsident.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich nunmehr vertagen.


[Das Gericht vertagt sich bis

14. August 1946, 10.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 21, S. 124-156.
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