Ursprung und Ziele der Nazi-Partei.

[193] Am 5. Januar 1919, noch keine zwei Monate nach dem Abschluß des Waffenstillstandes, der den ersten Weltkrieg beendete und sechs Monate vor der Unterzeichnung der Friedensverträge zu Versailles, entstand in Deutschland eine kleine politische Partei, die sich die Deutsche Arbeiterpartei nannte. Am 12. September 1919 wurde Adolf Hitler Mitglied dieser Partei, und auf der ersten am 24. Februar 1920 in München abgehaltenen öffentlichen Versammlung verkündete er das Parteiprogramm. Jenes Programm, das bis zur Auflösung der Partei im Jahre 1945 unverändert beibehalten wurde, bestand aus 25 Punkten, von denen die folgenden fünf wegen des Lichts, das sie auf Angelegenheiten werfen, mit denen der Gerichtshof befaßt ist, von besonderem Interesse sind:

»Punkt 1. Wir fordern den Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu einem Großdeutschland.

Punkt 2. Wir fordern die Gleichberechtigung des deutschen Volkes gegenüber den anderen Nationen, Aufhebung der Friedensverträge von Versailles und Saint-Germain.

Punkt 3. Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses.

Punkt 4. Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist, Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.

Punkt 22. Wir fordern die Abschaffung der Söldnertruppe und die Bildung eines Volksheeres.«

Unter diesen Zielen war dasjenige, das anscheinend als das wichtigste betrachtet und in fast jeder öffentlichen Rede erwähnt wurde, die Beseitigung der »Schmach« des Waffenstillstandes und der Beschränkungen, die durch die Friedensverträge von Versailles und von [193] Saint-Germain auferlegt worden waren. In einer charakteristischen Rede, die Hitler am 13. April 1923 in München hielt, sagte er zum Beispiel vom Vertrage von Versailles:

»Der Vertrag sollte 20 Millionen Deutsche dem Tode weihen und die deutsche Nation zu Grunde richten...

Unsere Bewegung stellte bei ihrer Begründung drei Forderungen auf:

1) Die Beseitigung des Friedensvertrages.

2) Die Einigung aller Deutschen.

3) Grund und Boden zur Ernährung unseres Volkes.«

Das Verlangen nach Vereinigung aller Deutschen in einem Großdeutschland sollte bei den Ereignissen, die der Besitzergreifung Österreichs und der Tschechoslowakei vorangingen, eine große Rolle spielen; die Aufhebung des Versailler Vertrages sollte sich bei den Versuchen, die Politik der deutschen Regierung zu rechtfertigen, als entscheidender Beweggrund herausstellen; die Forderung nach Land sollte die Rechtfertigung für die Beschaffung von »Lebensraum« auf Kosten anderer Völker darstellen; die Ausstoßung der Juden aus der Gemeinschaft der deutschblütigen Rasse sollte Greueltaten gegen das jüdische Volk zur Folge haben; und das Verlangen nach einem nationalen Heere sollte zu Aufrüstungsmaßnahmen im größten Maßstabe, und schließlich zum Kriege führen.

Am 29. Juli 1921 wurde die Partei, die sich umbenannt hatte in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) neu organisiert, und Hitler wurde ihr erster »Vorsitzender«. In diesem Jahr wurde auch die Sturmabteilung – die SA – gegründet, und zwar als private halbmilitärische Streitmacht, mit Hitler an der Spitze, die angeblich dazu dienen sollte, die Führer der NSDAP vor Angriffen durch andere politische Parteien zu schützen und bei Versammlungen der NSDAP Ordnung zu halten; in Wirklichkeit wurde sie dazu gebraucht, politische Gegner auf den Straßen zu bekämpfen. Im März 1923 wurde der Angeklagte Göring zum Führer der SA ernannt.

Die Vorgänge innerhalb der Partei wurden vollkommen vom »Führerprinzip« beherrscht. Nach diesem Prinzip hat jeder Führer das Recht, zu regieren, zu verwalten oder Befehle zu erlassen, unter Ausschaltung jeder irgendwie gearteten Kontrolle und vollständig nach eigenem Ermessen, einzig und allein durch die etwaigen Befehle beschränkt, die er von seinen Vorgesetzten erhält.

Dieses Prinzip galt in erster Linie für Hitler selbst als den Führer der Partei und in geringerem Maße für alle anderen Parteifunktionäre. Alle Mitglieder der Partei leisteten dem Führer den Eid auf »ewige Treue«.

[194] Es gab nur zwei Wege, auf denen Deutschland die oben erwähnten drei Hauptziele erreichen konnte, nämlich durch Verhandlungen oder durch Gewalt. Die 25 Punkte des Programms der NSDAP erwähnen nicht ausdrücklich die Methoden, deren sich die Führer der Partei zu bedienen beabsichtigten, aber die Geschichte des Nazi-Regimes zeigt, daß Hitler und seine Gefolgschaft nur unter der Bedingung zu Verhandlungen bereit waren, daß ihnen die Erfüllung ihrer Forderungen zugesichert, und daß anderenfalls Gewalt angewendet werden würde.

In der Nacht des 8. November 1923 fand in München ein mißglückter Putsch statt. Hitler und einige seiner Anhänger brachen in eine Versammlung im Bürgerbräukeller, wo der bayerische Ministerpräsident Kahr gerade eine Rede hielt, ein, in der Absicht, ihn zum Entschluß zu zwingen, sofort auf Berlin zu marschieren.

Am Morgen des 9. November traf jedoch keine bayerische Unterstützung ein, und Hitlers Demonstration traf auf die bewaffneten Kräfte der Reichswehr und der Polizei. Nur wenige Schüsse fielen, und nachdem ein Dutzend seiner Gefolgsleute getötet worden war, rettete sich Hitler durch die Flucht, und die Demonstration nahm damit ihr Ende. Die Angeklagten Streicher, Frick und Heß haben alle an dem versuchten Aufstand teilgenommen. Hitler ist später wegen Hochverrats angeklagt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Die SA wurde verboten. Hitler wurde 1924 aus der Haft entlassen, und im Jahre 1925 wurde die Schutzstaffel – die SS – gegründet, angeblich um als Hitlers Leibwache zu dienen, in Wirklichkeit jedoch, um politische Gegner zu terrorisieren. Im selben Jahre wurde »Mein Kampf« veröffentlicht, das Buch, in dem die politischen Ansichten und Ziele Hitlers niedergelegt waren, und das in der Folgezeit als die wahre Quelle der Nazi-Lehre betrachtet wurde.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 193-195.
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