Der Angriffskrieg gegen die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken.

[237] Am 23. August 1939 unterzeichnete Deutschland den Nichtangriffspakt mit der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken.

[237] Das Beweismaterial hat unzweideutig ergeben, daß die Sowjetunion sich ihrerseits an die Bestimmungen dieses Paktes gehalten hat; sogar die deutsche Regierung selbst hat insoweit von höchsten deutschen Quellen Versicherungen erhalten.

So informierte der deutsche Botschafter in Moskau seine Regierung, daß die Sowjetunion nur dann zum Kriege schreiten werde, wenn sie von Deutschland angegriffen wird; diese Erklärung steht im deutschen Kriegstagebuch unter dem Datum vom 6. Juni 1941.

Dennoch und trotz des Nichtangriffspaktes begann Deutschland schon im Spätsommer 1940 Vorbereitungen für einen Angriff auf die USSR zu treffen. Diese Operation wurde unter dem Decknamen »Fall Barbarossa« heimlich geplant; der frühere Feldmarschall Paulus sagte aus, daß er am 3. September 1940, als er in den deutschen Generalstab eintrat, fortfuhr, den »Fall Barbarossa« bis zu seiner Fertigstellung Anfang November 1940 weiterzubearbeiten; sogar bis zu jenem Zeitpunkt hatte der deutsche Generalstab keinerlei Informationen, daß die Sowjetunion sich für einen Krieg vorbereitete.

Am 18. Dezember 1940 gab Hitler die Weisung Nr. 21 heraus, die auch von Keitel und Jodl signiert war und in der die Vollendung aller Vorbereitungen im Zusammenhang mit der Durchführung des »Falles Barbarossa« für den 15. Mai 1941 gefordert wurde. Diese Weisung lautete:

»Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England, Sowjet-Rußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen... Entscheidender Wert ist jedoch darauf zu legen, daß die Absicht eines Angriffes nicht erkennbar wird.«

Vor dieser Weisung vom 18. Dezember hatte der Angeklagte Göring den General Thomas, den Chef des Kriegswirtschaftsamtes des OKW, von diesem Plan in Kenntnis gesetzt; General Thomas stellte eine Uebersicht über die wirtschaftlichen Möglichkeiten der USSR auf, einschließlich ihrer Rohmaterialien, ihres Energie- und Transportsystems und ihrer Leistungsfähigkeit zur Waffenherstellung. Auf Grund dieser Uebersicht wurde unter Leitung des Angeklagten Göring ein wirtschaftlicher Stab für die Ostgebiete mit vielen militärisch-wirtschaftlichen Einheiten (Inspektionen, Kommandos, Gruppen) geschaffen. In Verbindung mit den militärischen Kommandostellen sollten diese Einheiten die vollständigste und gründlichste wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Gebiete im Interesse Deutschlands betreiben.

Die Umrisse für die zukünftige politische und wirtschaftliche Organisation der besetzten Gebiete wurden vom Angeklagten Rosenberg während einer dreimonatigen Zeitspanne ausgearbeitet, nachdem er sich mit den Angeklagten Keitel, Jodl, Raeder, Funk, Göring, [238] Ribbentrop und Frick, oder deren Vertreter, besprochen und deren Unterstützung gefunden hatte. Sie wurden nach der Invasion in einem bis ins Einzelne gehenden Bericht sofort niedergelegt.

Diese Pläne sahen die Zerstörung und Aufteilung der Sowjetunion als unabhängigen Staat, sowie die Gründung sogenannter Reichskommissariate und die Umwandlung Estlands, Lettlands, Weiß-Rußlands und anderer Gebiete in deutsche Kolonien vor.

Gleichzeitig wurden Ungarn, Rumänien und Finnland in den Krieg gegen die Sowjetunion von Deutschland hineingezogen. Im Dezember 1940 erklärte sich Ungarn zur Teilnahme bereit, nachdem ihm von Deutschland gewisse Gebiete auf Kosten Jugoslawiens versprochen worden waren.

Im Mai 1941 wurde ein Schlußabkommen mit Antonescu, dem Ministerpräsidenten Rumäniens, abgeschlossen, das sich auf den Angriff gegen die USSR bezog und in dem Deutschland Rumänien sowohl Bessarabien, die nördliche Bukowina, als auch das Recht versprach, Sowjetgebiete bis zum Dnjepr zu besetzen.

Am 22. Juni 1941 in Ausführung der schon lange vorbereiteten Pläne fiel Deutschland ohne jede Kriegserklärung ins Sowjetgebiet ein.

Das Beweismaterial, das dem Gerichtshof vorgelegt wurde, hat ergeben, daß Deutschland den sorgfältig ausgearbeiteten Plan hegte, die USSR als politische und militärische Macht zu zerstören, um sich nach Belieben nach dem Osten ausdehnen zu können. Hitler schrieb in »Mein Kampf«:

»Falls neue Gebiete in Europa zu erobern sind, so könnte dies in der Hauptsache nur auf Kosten Rußlands geschehen, und das neue deutsche Reich sollte seinen Vormarsch auf demselben Wege beginnen, den in früheren Zeiten die deutschen Ordensritter entlangritten, diesmal jedoch, um durch das deutsche Schwert Boden für den deutschen Pflug zu gewinnen und so der Nation ihr tägliches Brot zu geben.«

Aber es gab noch ein näherliegendes Ziel. In einer der Denkschriften des OKW wird dieses Ziel dahin angegeben, die deutschen Armeen hätten sich im dritten Jahre des Krieges aus der Sowjetunion zu verpflegen, selbst wenn, wie Rosenberg sagte: »Als Ergebnis viele Millionen Menschen verhungern müssen, wenn wir die für uns notwendigen Dinge aus dem Land fortnehmen.«

Die Endziele des Angriffes auf die Sowjetunion wurden am 16. Juli 1941 bei einer Konferenz mit Hitler festgelegt, an der die Angeklagten Göring, Keitel, Rosenberg und Bormann teilnahmen:

»Die Bildung einer militärischen Macht westlich des Ural darf nie wieder in Frage kommen und wenn wir hundert Jahre darüber Krieg führen müßten... Das gesamte Baltenland müsse Reichsgebiet werden. Ebenso müßte die Krim mit einem erheblichen [239] Hinterland (Gebiet nördlich der Krim) Reichsgebiet werden... Die Wolgakolonie müsse deutsches Reichsgebiet werden.... ebenso das Gebiet um Baku. Die Finnen wollen Ost-Karelien. Doch soll wegen der großen Nickel-Vorkommen die Halbinsel Kola zu Deutschland kommen.«

Zur Entlastung der Angeklagten wurde vorgebracht, daß der Angriff auf die USSR gerechtfertigt gewesen sei, weil die Sowjetunion einen Angriff auf Deutschland plante und Vorbereitungen zu diesem Zweck getroffen habe. Man kann unmöglich glauben, daß diese Ansicht jemals aufrichtig gehegt wurde.

Die Pläne für die wirtschaftliche Ausbeutung der USSR für die Wegführung großer Bevölkerungsteile, für die Ermordung von Kommissaren und politischen Führern, all dies war ein Teil des sorgfältig vorbereiteten Plans, der am 22. Juni ohne irgendwelche Warnung und ohne den Schatten einer rechtlichen Entschuldigung in die Tat umgesetzt wurde. Es war eine reine Angriffshandlung.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 237-240.
Lizenz:
Kategorien: