Vorwort zur zweiten Auflage.

Für meine Leser will ich mit diesem Vorworte nur eine erfreuliche Tatsache konstatieren. Als ich vor ungefähr einem Dezennium mit der Geschichte der talmudischen Zeitepoche vor das Publikum trat, mußte ich mein Beginnen, mit einem wenig beachteten und wenig beliebten Stoffe aufzutreten, so ziemlich erst entschuldigen. Seit dieser Zeit ist gerade diese Partie der jüdischen Geschichte, wenigstens ein Teil derselben, fast populär geworden; sie ist von geistvollen Fachmännern nicht bloß aus jüdischen, sondern – was eben erfreulich ist – auch aus christlichem Kreise, einer eingehenden kritischen Untersuchung unterworfen worden. Immer mehr bricht sich die Überzeugung Bahn, daß die Entstehung und der erste Verlauf des Christentums d.h. seine evangelische, epistolarische, apokalyptische und apostelväterliche Literatur, in der Agada der talmudischen Zeitepoche wurzelt und ohne gründliches Verständnis derselben nach allen Seiten hin ein unlösbares Rätsel bleibt. Das Unbefriedigende in den beiden jüngsten Biographien Jesu von Renan und Strauß – worüber unter kompetenten Forschern nur eine Stimme herrscht – liegt eben darin, daß diese beiden sonst genialen Schriftsteller die historische Atmosphäre, aus welcher die galiläische Abstinenzreligion ihre Säfte gesogen und überhaupt ihre Elemente genommen hat, daß sie, sage ich, dieses Medium nicht genügend erkannt oder gar verkannt haben. Ihre Mißachtung der sogenannten rabbinischen Literatur und der tannaitischen Geschichtsepoche hat sich an Renan und Strauß – von Schenkel gar nicht zu sprechen – auf eine empfindliche Weise gerächt, und ihre stilistisch so imposante Darstellung vermag den Mangel an historischer Treue und Tatsächlichkeit nicht zu verhüllen. Hoffentlich wird die Zeit bald kommen, daß derjenige, welcher die jüdisch-geschichtliche und agadische Literatur des ersten und zweiten Jahrhunderts nicht kennt, und nicht weiß, daß die Evangelien, die apostolischen Briefe, die Polemik und Apologetik der apostolischen Väter einen durchweg agadischen Zug und Schnitt haben, ebensowenig an die Urgeschichte des Christentums herangehen wird, so begabt er auch sonst sein mag, wie etwa ein Historiker an die Biographie Sokrates' und der Sokratiker, der das athenische Leben und die philosophische sowie die politische Bewegung innerhalb dieses Kreises nur oberflächlich kennt.

[5] Eine zweite Auflage der Geschichte der talmudischen, d.h. der tannaitischen und amoräischen Geschichtsepoche, dürfte daher gegenwärtig um so mehr die Zeitgemäßkeit für sich haben, als religions-geschichtliche Fragen jetzt mehr denn seit langer Zeit im Vordergrund stehen. Manche Partien, so namentlich die trajanische und hadrianische Epoche, haben in dieser Auflage eine vollständige Umarbeitung und Umgestaltung erfahren mit Berücksichtigung der gediegenen Forschungen, welche im letzten Dezennium auf diesem Gebiete angestellt wurden und bleibende Resultate geliefert haben. Neu hinzugekommen ist die Auseinandersetzung der apokryphischen Schriften Judith und Tobit, welche als literarische Vorgänge dieser Epoche anzugehören scheinen und sie illustrieren. Eine volle Charakteristik der Mischna, als der Grundbasis für die ganze Entwickelung des Judentums in den folgenden Jahrhunderten, glaubte ich hineinziehen zu müssen. Ich bin mir bewußt, Eigenes und Fremdes einer strengen kritischen Prüfung unterworfen und nur das Haltbare aufgenommen zu haben.


Breslau, Juli 1865.

Graetz.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. V5-VI6.
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