1. Einleitung.

[1] Mit dem Zerfall des polnischen Reiches, welches 1795 von seinen Nachbarstaaten vollends aufgelöst und aufgeteilt worden, tritt für die zahlreiche Judenschaft in jenen Gebieten, welche unter preußische und österreichische Herrschaft kamen, die entscheidende Wendung ein, durch welche dieselbe in den Kreis des modernen Kulturlebens hineingezogen wird, und welche man füglich als den Übergang aus dem Mittelalter in die Neuzeit bezeichnen kann. Preußen war es vornehmlich, das sofort nach vollzogener Okkupation daran ging, die neuen Erwerbungen zu organisieren und sie als die Provinzen »Südpreußen« und »Neuostpreußen« seinem Staatswesen anzugliedern. Von diesem Landzuwachs war jedoch endgültig nach 1815 nur dasjenige Stück, welches ehemals den Grundstock des alten Großpolens bildete, als Großherzogtum und später als Provinz Posen der preußischen Krone verblieben; aber gerade dieser Landesteil hatte für die Juden erhöhte Wichtigkeit, da auf seinem Boden zahlreiche alte und angesehene Gemeinden sich befanden, und da er überdies von der preußischen Hauptstadt nicht weit entfernt lag und derselben durch die neugewonnene Staatszusammengehörigkeit noch näher gerückt erschien. Einerseits durfte man erwarten, daß infolgedessen die wirtschaftlichen Beziehungen zu Berlin, die bis dahin schon lebhaft bestanden hatten, sich noch inniger und reger gestalten und geschäftliche Vorteile bieten würden, anderseits mißtraute man der preußischen Hauptstadt, weil die von Mendelssohn und seiner Schule ausgegangene Bewegung, welche über die Einseitigkeit des bisherigen Talmudstudiums hinausstrebend, die modernen Bildungsmittel und[1] Wissensgebiete der Jugend zu erschließen sich bemühte, dort ihren Mittelpunkt hatte.

Durch die straffe Organisation, welche die polnischen Gebietsteile auf preußischen Fuß stellte, hatten sämtliche Verhältnisse eine so grundstürzende Umwandlung erfahren, daß die Juden in den neuen Zuständen sich anfangs gar nicht zurecht zu finden vermochten. Gegen die staatlichen und wirtschaftlichen Mächte war nicht anzukämpfen, ihnen mußte man sich ohne weiteres anzuschmiegen suchen. Dagegen war man mit aller Kraft bestrebt, die religiöse Observanz und die überkommene Sitte im altgewohnten Geleis, rein und unberührt von fremden und verdächtigen Einflüssen, zu erhalten. Das talmudische Schrifttum sollte auch ferner Ausgangsund Zielpunkt alles Lernens und Wissens bleiben, die religiösen Formen oder die als religiös angesehenen Lebensgewohnheiten sollten von ihrer rigorosen Strenge und Geltung nichts einbüßen. Dem Drängen und Mahnen der preußischen Regierung, durch Errichtung geeigneter Schulen für eine zeitgemäße Erziehung und Ausbildung der Jugend zu sorgen, wußte man bald durch Ausflüchte, bald durch Versprechungen auszuweichen. Auf die Dauer waren jene Einflüsse trotzdem nicht fern zu halten, Funken von dem Berliner Aufklärungsherd flogen nach der Provinz herüber und traten bald in einer Großgemeinde sichtbar zutage, und zwar in Posen, das über den talmudischen Ruhm und die altersgraue Frömmigkeit seines Ghettos stolz und eifersüchtig wachte.

In Posen wurde nämlich das Rabbinat erledigt, und man hatte im Jahre 1802 für dessen Besetzung den Bruder des verstorbenen Rabbiners, einen Stocktalmudisten alten Schlages aus dem fernen Tarnopol, Samuel ben Moses Pinchas Falkenfeld, Verfasser des ןורהא לאומש תיב, in Aussicht genommen. Da wagten es einige jüngere Männer, allerdings unter fingierten Namen, bei der Regierung gegen die Wahl eines »rohen Polack« Protest einzulegen, für welchen die Menge »durch die kabbalistische Fabel« eingenommen werde, »daß nach einer angeblichen Genealogie dieser Podolier zu demjenigen Stamme gehöret, aus welchem der jüdische Erlöser zu erwarten sei u. dgl. m.« Die Regierung berücksichtigte den Protest und beschied die Beschwerdeführer in einem ihnen günstigen Sinne. Wegen der fingierten Namen [2] mißglückte die Behändigung des Bescheides an die Urheber, derselbe verfehlte die eigentliche Adresse und fiel in die Hände des Vorstandes und der sogenannten Vizerabbiner, B'ne jeschibah. »Sie versammelten sogleich alle sogenannten Gelehrten und talmudischen Studenten nach Art der ehemaligen Sanhedrin, zogen sämtliche Eltern und Schwiegereltern und Verwandte derjenigen Personen herbei, von denen eine andere Denkungsart zu präsumieren war, dann forderten sie einen jeden von uns im einzelnen vor, schlossen ihn in einen fürchterlichen Zirkel der rohen Studenten ein, und schrieen ihn unter Begleitung der schrecklichsten Flüche wie folgend an: Du teuflische Seele! die du dich dem Satan anvertraut hast. Deine Gestalt zeuget auf deine Abneigung gegen unsere Gebote; dein barbierter Bart, deine Tracht (deine jüdische Tracht trägst du nur zum Schein), alles beweiset, daß du Gottloser! ein Verräter der jüdischen Geheimnisse bei Christen bist. Du liesest die deutschen Bücher; du hast auf deiner Bodenkammer Landkarten versteckt, Zeitungen und andere christliche Schriften statt heiliger Talmudbücher, bekenne also deine Sünden, daß du Mit-Konzipient der verdammten Vorstellung warst! Befolge die Buße, die wir dir auferlegen werden, liefere uns deine unreinen Bücher sogleich aus; unterzeichne dich sofort auf dieser heiligen Rabbinerwahl oder sonst usw.«1 Die heißumstrittene Wahl jenes streng talmudischen, dabei milden Rabbiners wurde zwar durchgesetzt, aber der neue Geist war trotz aller Anstrengungen nicht mehr einzudämmen, drang zwar langsam, aber stetig vor, bis es 1816 glückte, eine höhere jüdische Privatschule in Posen zustande zu bringen. Wohlhabende und unabhängige Väter fanden vereinzelt den Mut, ihre Kinder den Gymnasien oder höheren christlichen Schulen zuzuführen, deren es übrigens damals in der Provinz nur sehr wenige gab. 1824 griff die Regierung ein und verordnete, daß in allen existenzfähigen Judengemeinden deutsche Elementarschulen eingerichtet werden.

Die Verhältnisse gestalteten sich nun eigentümlich dahin, daß man allgemeine Bildung, die Kenntnis deutscher, französischer und englischer Klassiker als einen Vorzug und Schmuck [3] der Persönlichkeit zu schätzen begann und dennoch das heranwachsende Geschlecht über Lesen, Schreiben und Rechnen hinaus in der Aneignung derartiger Kenntnisse nicht förderte, dasselbe vielmehr auf die Beschäftigung mit dem rabbinischen und hebräischen Schrifttum zu beschränken wünschte, daß man ferner in den Großgemeinden, wie Posen und Lissa, den Zentren des Tal mudstudiums, die jungen Leute, insonders die Talmudschüler, von der Erlernung profanen Wissens geradezu abzuschrecken suchte, während häufig in den kleinen Gemeinden diesem Bildungsstreben, soweit es möglich war, Vorschub geleistet wurde. So schwer und mühsam also gerade die besseren, die aufstrebenden Kräfte jener Generation in der Provinz sich durchzuringen hatten, um ihren Weg zu finden, so wurde doch dies wiederum durch den Vorteil aufgewogen, daß dadurch ihre geistige Energie und Selbständigkeit gestählt wurde, daß sie fast durchwegs von dem Geist des Talmuds durchtränkt, mit seinem Wesen innig vertraut waren, und daß sie, von Enthusiasmus für die rabbinischen Heroen erfüllt, die Begeisterung für die Ideen des Judentums in sich einsogen und durch das Leben trugen.

Das war der Boden, auf dem Heinrich Graetz heranwuchs; derartig waren die Verhältnisse und Faktoren, von denen der Bildungsgang eines Mannes bestimmt wurde, der dazu berufen war, ein Geschichtswerk zu schaffen, monumental und volkstümlich zugleich, welches Tausende von Jahren, die entlegensten Himmelsstriche, die verschiedenartigsten Kulturgebiete umspannt, welches die geschichtliche Entwickelung des Judentums wie eine magische, verblichene und unsichtbar gewordene Schrift mit allen Hilfsmitteln der Gelehrsamkeit und des Scharfsinnes in hellem, zauberhaftem Glanz wieder hervortreten läßt und durch den begeisterten Ausdruck seiner geschichtlichen Darlegungen zu einem Erbauungsbuch im besten Sinne des Wortes für seine Glaubensgenossen geworden ist.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1908], Band 1, S. 1-5.
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