21. Die Sendboten und die Patriarchensteuer.

[441] Die Kirchenväter Eusebius und Epiphanius referieren noch aus ihrer Zeit, daß die judäischen Patriarchen aus ihrem Kreise Sendboten (Apostel) mit einer Art enzyklischer Schreiben in die auswärtigen Gemeinden zu schicken pflegten. Eusebius in Catena zu Jesaias: Ἀποστόλους δὲ καὶ εἰσέτι καὶ νῠν ἔϑος ἐστὶν Ἰουδαίοις τοὺς ἐγκύκλια γράμματα παρὰ τῶν ἀρχόντων αὐτῶν ἐπικομιζομένους. Noch ausführlicher Epiphanius adversus Haereses I. 2. 4. p. 128, bei der Erzählung von jenem Josephus, welcher zuerst Synhedrist war und dann Apostat wurde. Epiphanius referiert: Die Sendboten haben dem Range nach den Patriarchen am nächsten gestanden, ihren Sitz (im Synhedrion) neben diesen eingenommen und wären zugleich Gesetzeslehrer gewesen: Οὗτος γὰρ ὁ Ἰώσƞπος τῶν παρ᾽ αὐτοῖς ἀξιωματικῶν ἀνδρῶν ἐνάριϑμος ἦν: εἰσὶ δὲ οὗτοι μετὰ τὸν Πατριάρχƞν Ἀπόστολοι καλούμενοι προσεδρεύουσι δὲ τῷ Πατριάρχς καὶ σὺν αὐτῷ πολλάκις καὶ ἐν νυκτὶ καὶ ἡμέρᾳ συνεχῶς διάγουσι, διὰ τοῠ συμβουλεύειν καὶ ἀναφέρειν αὐτῷ τὰ κατὰ τὸν νόμον. Da diese beiden Kirchenväter meistens in Palästina lebten, und der letztere früher gar Jude war, so muß man ihrem [441] Berichte vollen Glauben schenken. Aus Julianus Sendschreiben an die jüdischen Gemeinden erfahren wir, daß eine gewisse Beisteuer in der Mitte des vierten Jahrhunderts ἀποστολὴ »Sendbotensteuer« genannt wurde (S. Note 34): καὶ τὴν λεγομένƞν παῤ ὑμῖν ἀποστολἠν. Näheres über diese Steuer erfahren wir aus einem Gesetze des Kaisers Honorius, (Codex Theodosianus XVI. T. 8, § 14.) vom Jahre 399, daß sie durch die Sendboten von den Gemeinden eingetrieben und den Patriarchen abgeliefert wurde: Superstitionis indigae est, quod Archisynagogi sive presbyteri, vel quos ipsi Apostolos vocaut qui ad exigendum aurum atque argentum a Patriarcha certo tempore diriguntur, a singulis Synagogis exactam summam atque susceptam ad eundem reportent. ... quod si qui ab illo depopulatore Judaeorum (Patriarcha) ad hoc officium exactionis fuerint directi, judicibus offerantur, ita ut tamquam in legum nostrarum violatores sententia proferatur. Es ist wohl dieselbe Steuer, welche in demselben Kodex § 29 laut einem Gesetze von Theodosius II. 429 unter dem Namen »Krongeld« vorkommt und jährlich für den Patriarchen erhoben wurde. Diese Steuer sollte nach dem Aussterben der Patriarchen noch weiter erhoben, aber an den Fiskus abgeliefert werden: Judaeorum Primates, qui in utriusque Palaestinae synedriis nominantur vel in aliis provinciis degunt, quacunque post excessum Patriarcharum pensionis nomine suscepere, cogantur exsolvere. In futurum vero ... anniversarius canon de synagogis omnibus, Palatinis compellentibus exigatur ad eam formam, quam Patriarchae quondam Coronarii auri nomine postulabant.

Es ist sehr auffallend, daß in der talmudischen Literatur gar nichts davon, weder von den Aposteln, noch von der Apostelsteuer, vorkommt. Ich habe früher vermutet, daß diese Sendboten im Talmud unter dem Namen ןויצ חילש erwähnt worden (b. Jom-Tob 25. b.): ליזו ףיקא םתה תקלס יכ ןויצ חילש אדא דב אמחל ןמחנ 'ר לא הינמ יעבו ידיא רב בקעי 'ר יבג ליזו רוצד אמלוסא. Indessen ist diese Stelle ohne Parallele und außerdem scheint dieser mit dem Titel ןויצ חילש bezeichnete אמח eher ein Babylonier gewesen zu sein. – Aber auf eine andere Betrachtung führt die von den Kirchenvätern mit solcher Bestimmtheit referierte Tatsache. Wir haben im Talmud zweifellose Nachrichten, daß der Patriarch die Einschaltung eines Monats den entferntesten Gemeinden in Babylonien, Medien und wohl auch in Kleinasien durch Sendschreiben bekannt zu machen pflegte (Tosifta Synhedrin II., Babli das. 11. b. und auch Jeruschalmi zur Stelle). Auf welche Weise sind diese Sendschreiben übermittelt worden? Doch wohl nicht durch die ersten besten Boten. Denn dann wäre Mystifikation und Täuschung unvermeidlich gewesen. Wie leicht konnte ein Spaßvogel oder ein Böswilliger die Gemeinden irreführen, daß sie die Festtage einen Monat später feiern sollten! Es scheint, daß die Kunde von einem Schaltmonat durch Synhedristen oder bekannte, angesehene Personen als Sendboten des Patriarchen notifiziert wurde. Darauf führt auch eine mischnaitische Notiz, die mißverstanden wurde und Veranlassung zu falschen Folgerungen gegeben hat, Ende Mischna Jebamot heißt es: אביקע 'ר רמא הנשה רובעל אעדרהנל יתדרישכ. Das ist die richtige Lesart im Jeruschalmitexte z. St.: R. Akiba ging nach Nahardea, um das Schaltjahr anzuzeigen. Unmöglich kann diese Notiz, etwa mit der Lesart: רבעל ... יתדרישכ הנשה, bedeuten, er habe in Nahardea einen Schaltmonat eingesetzt, weil eine ganz bestimmte Halacha vorschreibt, die Einschaltung dürfe nur in der Landschaft Judäa vorgenommen werden, in Galiläa habe dieser Akt allenfalls als fait accompli Giltigkeit, außerhalb Palästinas [442] dagegen sei er null und nichtig: ןירבעמ ןיא תרבועמ הניא הורבע םאו, ץראל הצוחב (הנשה תא) (Jeruschal. Synhedrin I. 19. a. Parallelst. Nedarim VII. 40 a.; diese Boraïta ist unvollständig wiedergegeben in Tosifta Synh. II. und Babli das. p. 11.). Der jerusalemische Talmud weiß daher auch gar nichts davon, daß Akiba je die Einschaltung in Nahardea, d.h. im Auslande, vorgenommen hätte. Er bemerkt nämlich daselbst, zur Zeit der Not dürfe man allenfalls diese Funktion auch im Auslande ausüben; so hätten der Prophet Ezechiel und Jeremias Prophetenjünger Baruch die Interkalation im Auslande vollzogen, und ebenso Chananja, Neffe R. Josuas, – allerdings widergesetzlich. R. Akiba wird aber keineswegs als Beispiel angeführt. – Nur der babylonische Talmud deutete die Nachricht: הנשה רבעל ... יתדרישכ in der Art, daß R. Akiba selbst in Babylonien interkaliert hätte, legt es jenem Chananja in den Mund und entschuldigt dieses ungesetzliche Tun damit, weil kein Ebenbürtiger damals in Judäa geblieben wäre, diese Funktion auszuüben (Berachot 63. a.): אלהו (איננח 'ר) םהל רמא ?ץראל הצוחב םישדח עבוקו הנשה רבעמ היה ףסוי ןב אביקע לארשי ץראב והומכ חינה אלש אביקע 'ר חנה ול ורמא. Dieser Passus im Dialoge zwischen Chananja und den Abgeordneten Palästinas, welche gekommen waren, dessen widerrechtliche Festkalenderordnung in Babylonien zu vereiteln, fehlt natürlich im Jeruschalmi.

Weil die Tossafisten nach dem Vorgange des babylonischen Talmuds die Bezeichnung הנש רבע, als wirkliches Interkalieren und nicht als Bezeugung von der Interkalation aufgefaßt haben, stießen sie auf einige Widersprüche im Talmud, die sie entweder gar nicht oder nur schlecht zu lösen vermochten. Denn es wird tradiert, daß auch R. Meïr dasselbe in Asien, was R. Akiba in Nahardea getan hat: ריאמ 'רב השעמ (איסאב) איסעב הנש רבעל ךלהש (Tosifta Megilla II. b. Megilla 18. b.) Dasselbe wird von Chija bar Sarnuki und Simon ben Jehozadack (III. Jahrh.) erzählt (Synhedrin p. 26. a.): ווה קדצוהי ןב ןועמש 'רו יקונרז רב אייה 'ר איסעב הנש רבעל ילזאק. Dieses »Asia« galt auch im Talmud als Ausland (vergl. Tossafot das. 11. b.). Allein die Schwierigkeit fällt von selbst, wenn man annimmt, daß weder R. Meïr, noch Chija und Simon in Asien, noch Akiba in Nahardea selbst interkaliert haben, sondern daß sie Sendboten, Apostel waren, um den Gemeinden dieser Länder die in jenen Jahren für notwendig erachtete Einschaltung eines Monats anzuzeigen. Wir hätten auf diese Weise im Talmud die Bestätigung der Tradition der beiden Kirchenväter gefunden, daß Synhedristen, angesehene, gelehrte Männer aus dem Kreise der Patriarchen von diesen als Sendboten delegiert worden sind, wenigstens den Festkalender zu notifizieren. Es läßt sich denken, daß viele Sendboten die Gemeinden auch mit den halachischen Beschlüssen des Synhedrions bekannt gemacht und ihnen die Modalitäten für die Praxis auseinandergesetzt haben. Nur dadurch läßt sich auch die Erscheinung erklären, wie die Synedrialbeschlüsse – תורזג ,תונקת – so schnell Gemeingut der außerpalästinensischen Gemeinden werden konnten; sie wurden ihnen durch Sendboten zugebracht. Auch bei dem schismatischen Versuch Chananjas, von Babylonien aus die Festordnung zu bestimmen, finden sich in j. Nedarin VII., 40 a., Synh. I. p. 19 a., Berachot 63. a.b. Sendboten. Die letztere Fassung ist augenscheinlich eine Überarbeitung in Dialogform; doch enthält sie auch sämtliche Hauptumstände. Nur die Namen der Sendboten scheinen fingiert, dagegen die in Jerus. genannten: ןתנ 'רו קחצי 'ר die richtigen; in Jerus. muß aber in dem Satze ןרגא 'ג יבר היל חלש, das 'ר in ןועמש 'ר (לאילמג ןב) emendiert werden, welcher Zeitgenosse Chananjas war.

[443] Gelegentlich sei auch eine mit dem obigen zusammenhängende dunkle Stelle in Jerus. Ketubbot II. 26 c. unten, erläutert, welche beweist, wie sehr die Anordnung des Kalenderwesens im Auslande perhorresziert wurde. Es wird erzählt, zwei Töchter des berühmten Amoräers Samuel seien in Nahardea in Gefangenschaft geraten (von Papa ben Nazar = Odenath) und nach Palästina geführt worden. Dort hätten sie ihre Gefangennehmung so dargestellt, daß ihre jungfräuliche Unschuld nicht verdächtigt werden konnte; infolgedessen hätte der skrupulose Simon ben Aba zuerst die eine, und nach deren Tod die andere geheiratet, die aber auch starb. Darauf wird daselbst die Frage erörtert, woran sich wohl Samuels Töchter versündigt hätten, und die Antwort lautet, weil Chananja, Neffe R. Josuas, die Interkalation widergesetzlich im Auslande vollzogen hätte: ו"ח .ןירקשד ןיגב ?המל הנשה תא רבעש י"ר יחא ןב איננח תאטח ןמ אלא ןירקש אל ץראל הצוחב. Die gezwungene Erklärung dieser rätselhaften Stelle, welche Elia Wilna davon gegeben, mag ich erst gar nicht anführen. – Samuel hat einen fixierten Kalender auf astronomischer Berechnung einführen wollen (b. Rosch ha-Schana 20. b.): לאומש רמא הלוג הלוכל ינוקתל אנליכי. Er sandte an R. Jochanan eine Kalenderberechnung auf 60 Jahre (Chullin 95. b.): ןינש ןיתשד ארובע (ןנחוי 'רל לאומש) היל רדש בתכ. Dieser Versuch, einen immerwährenden Kalender einzuführen und damit dem Patriarchenhause sowie dem judäischen Synhedrin eine wichtige Prärogative zu entreißen, wurde Samuel sehr übel genommen. Und auch in unserer Stelle liegt ein herber Tadel: Samuels Töchter sind hintereinander gestorben, weil ihr Vater dasselbe Vergehen intendiert hat wie Chananja: einen Festkalender außerhalb Judäas einführen zu wollen תאטח ןמ איננחד würde bedeuten: »wegen derselben Sünde«.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 441-444.
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