5. Kapitel. Drittes rabbinisches Zeitalter. Epoche des Joseph Ibn-Migasch und des Jehuda Halevi, Ibn-Esras und R. Tams. Höhepunkt der jüdisch-spanischen Kultur.1105-1140.

[99] Lage der Juden unter den Almoraviden. Die jüdischen Wesire Ibn-Almuallem, Ibn-Kamnial, Ibn-Mohaǵar. Der Polizeiminister und Astronom Abraham ben Chija. Die Rabbinen Joseph Ibn-Sahal, Baruch Ibn-Albalia, Joseph Ibn-Zadik, Joseph Ibn-Migasch. Die Dichter Ibn-Tabbén, Ibn-Sakbél und Ibn-Esra.


In Südspanien, wo die Kultur heimisch war, herrschten in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts die Almoraviden (Morabethen). Unter diesen lebten die Juden in gesicherter Ruhe; denn sie waren keine Fanatiker. Nur ein einziges Mal setzte sich der almoravische Fürst der Gläubigen Jussuff Ibn-Teschufin in den Kopf, die Juden seines Gebietes zur Annahme des Islams zu zwingen. Als er nämlich durch Lucena reiste und die reichbevölkerte jüdische Gemeinde wahrnahm, welche durch Alfâßi die tonangebende in Spanien geworden war, ließ er deren Vertreter zusammenrufen und verkündete ihnen folgendes. Er habe in einem Buche eines mohammedanischen Theologen gelesen, Mohammed habe den Juden nur Religionsfreiheit bewilligt unter der Bedingung, daß der von ihnen erwartete Messias innerhalb eines halben Jahrtausends eintreffen werde. Sollte derselbe bis zum Jahre 500 der Heǵira nicht erscheinen, dann müßten die Juden ohne Widerrede Mohammed als den letzten Propheten anerkennen und den Islam annehmen. Die Juden seien damals diese Bedingung eingegangen. Da nun diese Frist beinahe abgelaufen sei, so verlange er, der Fürst der Gläubigen, daß sie diese Bedingung erfüllen sollten, sonst würde er ihnen den bis dahin eingeräumten Schutz entziehen und sie für vogelfrei erklären (1105). Indessen brachten ihn die von den Juden Lucenas zusammengebrachten Summen und der kluge Wesir Abdallah Ibn-Ali von diesem Vorhaben ab1.

[99] Unter dem zweiten almoravidischen Herrscher Ali (1106-1143) lebten die Juden nicht nur unangefochten, sondern einige von ihnen wurden mit der Einnahme der Kopfsteuer von der jüdischen und christlichen Bevölkerung betraut2, andere ausgezeichnete Männer erhielten eine Ehrenstellung an seinem Hofe. Wissenschaft und Poesie waren auch unter ihm die Beförderungsmittel zu hohen Ämtern. Ein jüdischer Arzt und Dichter, Abu-Ajub Salomon Ibn-Almuallem aus Sevilla, war Leibarzt des Kalifen Ali und führte den Titel Fürst und Wesir3. Von seinen Dichtungen urteilt ein Kunstrichter, daß sie die Lippen der Stummen beredt und das Auge der Blinden hellsehend machten4. Eine hohe Stellung am Hofe Alis nahm auch der Arzt Abulhassan Abraham ben Meïr Ibn-Kamnial aus Saragossa5 ein, der ebenfalls den Titel Wesir führte. Die größten Dichter der Zeit verherrlichten ihn wegen seines Gesinnungsadels, seiner Freigebigkeit und seiner Teilnahme an dem Schicksal seiner Glaubensgenossen in schwungvollen Versen. »Ein Fürst, der zwar auf Erden wandelt, aber sein Ziel in den Sternen hat. Er eilt dem Blitze gleich, Milde zu üben, während die andern schleichen. Die Türen seiner Spenden sind Heimischen und Fremden geöffnet. Durch sein Vermögen rettete er die dem Tode Geweihten und gab Leben den dem Untergange Verfallenen.« – »Der Fürst (Ibn-Kamnial) ist für sein Volk Schutz und Wehr; er weilt in Spanien, seine Liebe aber reicht bis Babylonien und bis zum Ägypterland«6. Den Titel Wesir führte auch Abu-Ischak Ibn-Mohaǵar7, den dieselben Dichter durch Verse verewigten. Hochgerühmt von Zeitgenossen wird der Fürst Salomo Ibn-Farußal. Er stand vermutlich im Dienste eines christlichen Fürsten und wurde mit einer Sendung an den Hof von Murcia betraut. Kurz vor der Schlacht bei Ucles, wo die mohammedanischen Waffen über die christlichen abermals [100] einen entscheidenden Sieg errangen, wurde Ibn-Farußal ermordet (1108, 20. Ijar = 2. Mai)8. Der junge Dichter Jehuda Halevi war gerade mit einem übersprudelnden Lobgedichte zu seinem feierlichen Empfange von seiner wichtigen Reise beschäftigt, als die Trauerbotschaft von der Ermordung des Besungenen eintraf. Darauf wandelte der Dichter das Jubellied in eine kunstvolle Elegie um.

Eine hohe Stellung unter einem andern mohammedanischen Fürsten nahm auch der astronomische Schriftsteller Abraham ben Chija Albarǵeloni (geb. 1065 st. 1136) ein; er war eine Art Polizeiminister (Zachib as-Schorta) und führte ebenfalls den Titel »Fürst«. Er hielt sich eine Zeitlang in Soria (in Altkastilien) auf und im Alter in der katalonischen Hauptstadt Barcelona9. Wegen seiner astronomischen Kenntnisse stand er bei Fürsten in hohem Ansehen10, disputierte mit gelehrten Geistlichen, bewies ihnen die Richtigkeit des jüdischen Kalendersystems und widerlegte den Einwurf, daß die Juden im neunzehnjährigen Zyklus zwei mal das Passahfest um einen Monat zu frühe feierten11. Vier Schriften verfaßte Abraham ben Chija über Astronomie und theoretische und praktische Kalenderberechnung, wobei er auch auf die Zeitrechnung der Christen, Mohammedaner, Syrer, Perser und Ägypter Rücksicht nahm. Auch über Moraltheologie schrieb er ein kleines Werk, das keine besondere Bedeutung hat12. Er huldigte aber auch der Afterwissenschaft der Astrologie und stellte das Horoskop für günstige und ungünstige Tageszeiten. Einst wollte er einen Bräutigam hindern, sich zur Trauung zu begeben, weil gerade die dazu bestimmte Stunde von dem Unheil bringenden Sternbilde Mars beherrscht sei13, wurde aber dafür von den Frommen getadelt, weil das Horoskopstellen nach dem Talmud verboten sei. Das hinderte ihn aber nicht, nach astrologischem Verfahren zu berechnen, daß der Messias im Jahre 5118 der Welt (1358) erscheinen werde14.

[101] Obwohl es solchergestalt nicht an einflußreichen, wissensfördernden, freigebigen Männern in diesem Zeitabschnitt auf der pyrenäischen Halbinsel gefehlt hat, so bildete doch keiner von ihnen einen Einigungspunkt gleich Chasdaï Ibn-Schaprut und Samuel Ibn-Nagrela, die schlummernden Kräfte zur Entfaltung zu wecken oder der literarischen Tätigkeit die Richtung vorzuzeichnen. Es gab keinen festen Mittelpunkt, dem sich die Geister wie einer belebenden Sonne zuwenden konnten; aber die Zeit bedurfte dessen nicht mehr. Der Wetteifer für sämtliche Fächer göttlichen und menschlichen Wissens war so mächtig, daß er nicht mehr von oben, von einer hochgestellten Persönlichkeit, angeregt zu werden brauchte. Die erste Hälfte des zwölften Jahrhunderts hat ein wahres Füllhorn genialer Männer im jüdischen Kreise ausgeschüttet, Dichter, Philosophen, Talmudisten, und ihre Erzeugnissetragen fast sämtlich den Stempel der Vollendung Das jüdische Kulturleben in dieser Zeit glich einem veredelten Garten, reich an duftenden Blüten und saftigen Früchten, dessen Erzeugnisse, wie verschieden auch an Farbe und Geschmack, doch gleich an Pracht und Wert, in demselben Boden wurzeln. Der kleinliche Neid, über den sich Menahem ben Saruk und Ibn-G'ebirol zu beklagen hatten, die feindliche Stimmung, die zwischen Ibn-G'anach und Samuel Ibn-Nagrela, zwischen Alfâßi und Ibn-Albalia herrschte, waren aus dem Kreise der Kulturträger dieser Zeit verbannt. Die Dichter besangen einander und priesen die Männer, welche andern Wissenszweigen zugewendet waren, aus voller Seele. Sie nahmen den innigsten Anteil an den gegenseitigen glücklichen Ereignissen, trösteten einander und betrachteten einander in Wahrheit als Glieder einer einzigen Familie. Die Seeleneinigkeit, welche unter den Trägern der jüdischen Wissenschaft und Poesie in dieser Zeit herrschte, legt das vollgültige Zeugnis für deren Gesinnungsadel und reiche Begabung ab.

Die Geschichte hat Mühe, die Fülle der genialen Persönlichkeiten aus dieser Zeit in Spanien aufzuzählen und sie würdig zu schildern. Ausgezeichnete Rabbinen hat dieser Zeitabschnitt sieben aufgestellt, meistens Jünger Alfâßis, die neben dem Talmudstudium tiefen Sinn für Poesie und Wissenschaft bekundeten oder sie selbst pflegten. Ein Bruder des genannten Wesirs Abu-Ischak Ibn-Mohaǵar), mit Namen Abu-Sulaiman David Ibn-Mohaǵar15 war Rabbiner (Dajan) in Granada. Jünger Alfâßis, verfaßte David ein systematisches Werk über die talmudischen Bestimmungen der Ehescheidung: ein Sohn spanischer Kultur, beschäftigte er sich mit der hebräischen Grammatik, [102] schrieb ein Werk darüber (Sefer ha-Melachim) und brachte seine Huldigung dem Dichtergenius dieser Zeit dar.

Ein anderer Jünger Alfâßis, Abulfatach Eleasar ben Nachman Ibn-Ashar16, war Rabbiner von Sevilla. Es ist nur wenig von ihm bekannt und eigentlich nur das, was die Muse von ihm verewigt hat. Ibn-Ashar war reich, angesehen, dichterisch begabt und stand mit den beiden größten Dichtern der Zeit, mit Mose Ibn-Esra und Jehuda Halevi in freundschaftlichem Verkehr. Übertreibend sang der erstere von ihm:

»Wenn die Sterblichen der Gerechtigkeit entblößt sind, so bekleidest du sie, o Fürst, mit deiner Tugend Gewand. Sind sie von tierischer Unreinheit besudelt, so weihst du sie wieder mit deines Herzens Lauterkeit. In deiner Linken ist Reichtum und mit deiner Rechten befruchtest du die Dürre. Gott hat dir Vorzug vor den Sterblichen verliehen, wie er den Mann über das Weib gestellt. Singst du ein Leid, so schweigen die Dichter, öffnest du den Mund, so verstummen die Hörer bescheiden.«


Bei seinem Tode verfaßte derselbe Dichter eine Elegie, von der der Anfang lautet:


»Die Sonne ging unter, er sank in den Staub,

Darob verdunkelt sich der Himmel und die Sterne erblassen«17.


In Cordova fungierte als Rabbiner der als Weiser und Dichter gerühmte Abu-Amr Joseph ben Jakob Ibn-Sahal (geb. um 1070, fungierte 1103, st. 1124)18, ein Jünger des Ibn-Giat. Er scheint im beginnenden Mannesalter mit Ungemach gekämpft zu haben und klagte in seinen Versen über persönliche Verkennung und Mißachtung der Poesie. An Mose Ibn-Esra, mit dem er einen Herzensbund geschlossen hatte, schrieb er einen Brief in Versen19, worin die Klage vorkommt:


»O, daß ich bei Tieren, bei Schafherden weilen muß!

Wende ich mich rechts, kennt mich niemand, und links, werde ich nicht beachtet.

Klage ich über Unrecht, finde ich kein Gehör,

Finde keine Ruhe, schwanke wie Binsenrohr.«


[103] Darauf tröstete ihn der Freund, der selbst des Trostes bedurfte, mit einem Gedichte in demselben Versmaß und Reim gehalten20:


»Womit soll ich dem Meister der Wissenschaft danken

Für die Auszeichnung, die er mir gewährt?

Die Zeit vergeht wie Moder, aber die Liebe ist ewig.«


Die Verse des Joseph Ibn-Sahal sind leicht, fließend, glatt, wenn auch ohne Pracht und Reichtum. Seinen innig religiösen Sinn bekundet er in demselben Gedicht an seinen Freund21:


»Wenn das Verhängnis dich peinigt, so besiege es mit starker Seele. Türmen Meereswogen sich über dein Haupt, so setze ihnen ein starkes Herz als Damm entgegen. Vertraue auf Gott, dessen Gnadenspende gleich dem Sternenheer unermeßlich ist. Die Zeit kann dir nichts geben, nichts nehmen. Auf ihn allein vertraue, verfolgt dich der Feind und umschwirren dich die Pfeile.«


Als eine bedeutende talmudische Autorität galt seinerzeit Baruch ben Isaak Ibn-Albalia aus Cordova, (geb. 1077, st. 1124)22. Im siebzehnten Lebensjahr wurde er Jünger und Adoptivsohn von seines Vaters ehemaligem Gegner Alfâßi (o. S. 77f.) und eignete sich von demselben die gründliche Behandlung des Talmuds an. Philosophisch gebildet, reich und durch alten Adel hervorragend, wurde Baruch Albalia bei jedem Anlasse von den Dichtern seiner Zeit aus voller Seele gefeiert:


»Dem Verschmachtenden ist er frischer Quell,

Licht dem im Dunkel Tastenden.

Segen ist er, wie sein Name lautet« (Baruch),


so sang von ihm der Dichterkönig seiner Zeit23. Er erzog einen Kreis von Jüngern, unter ihnen den später berühmt bewordenen Geschichtsschreiber Abraham Ibn-Daud.

In Nordspanien war Jehuda ben Barsilaï aus Barcelona eine talmudische Autorität dieser Zeit, Jünger des Isaak ben Rëuben. Von seinen Lebensumständen ist weiter nichts bekannt, als daß er mit dem Astronomen Abraham ben Chija (o. S. 101) befreundet war24. Jehuda Albarǵeloni verfaßte mehrere talmudische Werke über Ehegesetze und Festeszeiten (Sefer ha-Ittim), die sehr geschätzt waren25. Obwohl [104] philosophisch gebildet und Verfasser eines Kommentars zum »Buche der Schöpfung«, hatte dieser Rabbiner von Barcelona bereits Mißtrauen gegen die freie philosophische Forschung. Man dürfe nicht, meinte er, philosophische Sätze vom ersten besten aufnehmen, sondern sich nur den Ergebnissen der als fromme Rabbaniten bewährten Denker anvertrauen, wie Saadia, Samuel ben Chofni und allenfalls David Almokammez, weil man sonst Gefahr liefe, dem Unglauben zu verfallen26.

Berühmter als diese war der Rabbiner von Cordova, Abu-Amr Joseph ben Zadik-Ibn-Zadik (geb. um 1080, st. 1148-49)27, Nachfolger des Joseph Ibn-Sahal im Rabbinate. Obwohl Ibn-Zadik als ein tiefer Kenner des Talmuds gerühmt wird, so verfaßte er doch kein talmudisches Werk, sondern lediglich philosophische in arabischer Sprache, eine Logik und eine religionsphilosophische Schrift (Olam Katon)28 Mikrokosmos), und obwohl als ein höchst frommer Rabbiner geschildert, war er nicht nur mit Plato und Aristoteles vertraut, sondern hatte auch die Schrift eines Karäers, des Joseph Albaßir, benutzt29 – sicherlich der erste Rabbanite, der dem Karäertum ein solches, wenn auch geringes Zugeständnis machte. Das religionsphilosophische Werk verfaßte Ibn-Zadik für seine Zeitgenossen, die er als das niedrigste der vorangegangenen Geschlechter, versunken in Begierden, Unwissenheit und Blindheit, schildert30, um sie durch eine leichte Methode zur Erkenntnis der höchsten Wahrheiten zu erheben. Er widmete es einem Jünger, der ihn nach der Natur des höchsten Gutes, das der Mensch zu erstreben berufen sei, fragte31. Seine Methode besteht darin: während die Religionsphilosophen die höchste Erkenntnis auf dem langen Wege der Mathematik, der Musik, der Astronomie und der Dialektik erreichen lassen, macht sich diese anheischig nachzuweisen, daß der vernunftbegabte Mensch sie ohne diese mühsame Vorbereitung aus sich selbst schöpfen könne. Der Mensch ist eine Welt im kleinen; in ihm spiegeln sich zwei Welten ab, die endliche und unendliche. Durch Selbsterkenntnis vermöge der Mensch zur Wahrheit zu gelangen, ohne welche das Leben ein verfehltes sei.

[105] Neu sind nun die Gedanken keineswegs, die Ibn-Zadik aufgestellt, es sind vielmehr die gangbaren der arabischen Zeitphilosophie; er wendete sie nur auf das Judentum an. Die Selbsterkenntnis führe zu Gotteserkenntnis, zum lauteren Gottesbegriffe und zur Annahme einer Weltschöpfung aus nichts durch den göttlichen Willen. Das höchste Gut sei eben diese Gotteserkenntnis und die Vollstreckung seines heiligen Willens. Dieser Wille ist in der Offenbarung, der Thora, enthalten. Diesen seinen Willen offenbarte Gott nicht um seiner selbst willen – da er reich, bedürfnislos und selbstgenügsam ist – sondern lediglich um die Glückseligkeit der Menschen jenseits zu fördern32. Die erste Pflicht des Menschen, des Juden, des Gottesdieners sei, seinen Geist zu pflegen, sich Weisheit und Einsicht anzueignen; denn nur dadurch vermöge er seinen Gott auf eine würdige, geistige Weise zu verehren und sich die Freuden des jenseitigen Glückes zu erringen. Nebenher bemerkt Ibn-Zadik, daß auch die rituellen Pflichten des Judentums, wie der Sabbat, vernunftgemäß seien und göttliche Weisheit verkündeten33. Da der Mensch Willensfreiheit habe, so sei es in der Ordnung, daß die Gottheit Lohn und Strafe für seine Handlungen bestimmt hat. Lohn und Strafe seien aber nicht leiblicher Art zu verstehen. So wie die Belohnung der Seele nur darin bestehen könne, daß sie mit ihrem Urquell, dem Allgeiste vereint werde, so dürfe die Strafe auch nur so gedacht werden, daß die durch Verbrechen und Sünde befleckte Seele ihr Ziel nicht erreichen könne. Jedes Wesen strebe seinem Grunde zu, um die Vereinigung mit ihm wiederherzustellen. Der der Erde enthobene Steinfalle wieder der Erde zu, wenn er sich frei bewegen kann; die von der allgemeinen Atmosphäre getrennten Luftteilchen beeilen sich, sich wieder mit ihrem Elemente zu vereinigen. Eben so erstrebe der den körperlichen Banden entronnene, freie Geist die Vereinigung mit seinem Ursprung. Hingegen vermöge die mit irdischen Schlacken behaftete und gebundene Seele des Sünders nicht den Himmelsflug anzutreten, flattere vielmehr im Weltall ruhelos umher und das eben sei ihre Strafe. Das Eintreten der Messiaszeit und die Auferstehung, die Ibn-Zadik als gewiß eintreffend voraussetzt, vermochte er nicht gedankenmäßig darzustellen. Da er kein tiefer Denker war, so war er nicht imstande, den gewaltigen Widerspruch, welcher zwischen der Annahme einer ewigen Glückseligkeit für die dem Leibe entrückte Seele in Vereinigung mit Gott, und dem Glauben an die Rückkehr [106] der Seele in ihr leibliches Gefäß liegt, zu bewältigen; er eilt daher über diesen Punkt hinweg. Ibn-Zadiks philosophisches Werk ist wegen seiner Mittelmäßigkeit von den Zeitgenossen und der Nachwelt wenig beachtet worden. Auch sein Dichterruhm ist nicht bedeutend, obwohl seine liturgischen und weltlichen Verse leicht und gefällig sind; aber sie entströmten nicht dem Drange eines übervollen Dichtergemüts, sondern sind gewissermaßen nur ein Zoll an die Mode.

Sämtliche Zeitgenossen der spanischen Schule übertraf an tiefer Talmudkunde Joseph ben Meïr Ibn-Migasch Halevi (geb. Adar 1077, st. Ijar 1141)34. Enkel eines am Hofe der Abbadiden zu Sevilla angesehenen Mannes und Sohn eines gelehrten, geachteten Vaters, der mit Isaak Ibn-Albalia befreundet war, genoß Ibn-Migasch zuerst den Unterricht seines Vaters und wurde im zwölften Jahre Jünger der Alfâßischen Schule, die er vierzehn Jahre ununterbrochen besuchte. Sein Meister war stolz auf ihn, und die Zeit genossen betrachteten ihn als dessen natürlichen Nachfolger. Als Ibn-Migasch während seiner Jüngerschaft heiratete (um 1100), dichtete der junge Jehuda Halevi ein feuriges Hochzeitslied, worin er das junge Ehepaar besang; er drückte sich überschwenglich über ihn aus:


»Das Levitentum erhebt sich durch ihn über der Aaroniden Geschlecht

und spricht: ›Ich bin das Haupt und Joseph ist meines Hauptes Krone‹«35.


Alfâßi selbst, der ihn ordinierte, sagte von ihm, seinesgleichen habe sich in Moses Zeitalter nicht gefunden36. Noch vor seinem Tode ernannte er Ibn-Migasch zu seinem Nachfolger im Rabbinate der Hauptgemeinde Lucena und darin zeigte sich abermals Alfâßis edler Charakter. Denn obwohl er einen gelehrten Sohn hinterließ, so zog er doch seinen begabten Jünger vor und empfahl ihn zum Rabbinen37 Die Wahl des Sechsundzwanzigjährigen zu einem so bedeutenden Amte scheint von einigen Mitgliedern angefochten worden zu sein, und die Bestätigung derselben (Siwan = Mai 1103) besang derselbe Dichter als einen über Gegner errungenen Sieg:


»Heute hat die Wahrheit gesiegt,

Das Recht ist in sein Amt gesetzt,

Die Lehre hat ihre Würde erlangt –

Deine Feinde sind mit Schmach bedeckt«38.


[107] Joseph Ibn-Migasch verdiente auch das Lob, das ihm der Dichter spendete, wegen seines Geistes und seiner edlen Gesinnung. Seine Abkunft aus altem, edlem Geschlechte, seine hohe Stellung als Oberhaupt der angesehensten Gemeinde raubten ihm nicht die Bescheidenheit, der Ernst des wichtigen Amtes nicht die Sanftmut. Vor seinem zahlreichen Jüngerkreise legte er in der Weise seines Lehrers Alfâßi aus, tiefeingehend, scharfsinnig, kritisch, und in diesem Sinne arbeitete er seine Kommentarien zu mehreren talmudischen Traktaten unter dem Titel »Geheimrolle«39 aus. Schon während seines Lebens genoß Ibn-Migasch einen ausgebreiteten Ruf als talmudische Autorität und als Mann von Gesinnung. Von nah und fern ergingen Aufragen an ihn, und er beantwortete sie gutachtlich mit ebenso viel Klarheit wie Gründlichkeit. Mit einer bei Gelehrten seltenen Wahrheitsliebe gestand er ein, sich geirrt zu haben und widerrief seine irrtümliche Ansicht40. So milde aber auch sein Charakter war, so verfuhr er doch mit äußerster Strenge, wenn es galt, das Wohl der Judenheit zu wahren.

Spanien war nämlich damals in hohem Grade aufgeregt und in Parteiungen gespalten. In Andalusien standen die Nationalaraber den siegenden almoravidischen Berbern gegenüber und führten miteinander einen bald heimlichen, bald offenen Krieg. Die in der Gegend von Granada angesiedelten Christen (die Mozarabi) zettelten eine Verschwörung gegen ihre mohammedanischen Zinsherren an, riefen den Eroberer Saragossas, Alfonso von Aragonien, herbei und versprachen ihm Granada zu überliefern. Das christliche Spanien war nicht minder zersplittert. Obwohl Kastilien und Aragonien mit ihren Nebenländern durch die Ehe zwischen Alfonso von Aragonien und Urraca, Königin von Kastilien, der Tochter Alfonsos VI. vereint sein sollten, so hat gerade diese unglückliche Ehe sie mehr denn je getrennt. Eine Partei hielt es mit dem König, eine andere mit der Königin und eine dritte gar mit dem jungen Infanten Alfonso VII., dessen Erzieher ihn gegen Mutter und Stiefvater zugleich aufstachelten. Öfter sah man Christen und Mohammedaner unter einer Fahne kämpfen, bald gegen einen christlichen Fürsten, bald gegen einen mohammedanischen Emir. Bündnisse und Bundesbrüche folgten schnell aufeinander. Falschheit und Verrat kamen täglich vor, und selbst hochgestellte Geistliche wechselten die Partei, bekämpften ihre ehemaligen Bundesgenossen und standen ihren [108] früheren Feinden bei. Die Juden Spaniens blieben bei dieser anarchischen Bewegung sicherlich nicht unbeteiligt und freiwillig oder gezwungen hielten die einen zu dieser, die anderen zu jener Partei, je nachdem das Interesse oder die politische Gesinnung es erheischten. Aber wenn Christen oder Mohammedaner Verschwörungen anzettelten, so konnten sie im Falle des Verrates bei ihren mächtigen Glaubensgenossen Schutz finden. Die Juden aber entbehrten dieses Schutzes und konnten ihn nur in der eigenen Mitte, in dem festen Zusammenhalten untereinander haben. Verräterei aus der eigenen Mitte war um so verderblicher für sie, als die Strafe eines erzürnten Fürsten nicht bloß die Verschwörer oder die Gemeinde, sondern die Judenheit des Landes überhaupt betroffen hätte. Als daher in der Gemeinde Lucena einst ein Verräter seine Glaubensgenossen anzugeben gedachte, vollzog der Rabbiner und Richter Joseph Ibn-Migasch eine exemplarische Strafe an demselben. Er ließ den Angeber am Versöhnungstage, der damals auf einen Sonnabend fiel, in der Dämmerungsstunde durch Steinigung hinrichten41. Sicherlich stand das Wohl der ganzen Gemeinde damals auf dem Spiele, sonst würde der milde Rabbiner nicht eine so harte Strafe über den Verräter verhängt haben.

Als dieser hochangesehene Rabbiner von Lucena starb (Ende Ijar = Mai 1141), hauchte ein Dichter Mar-Jekutiel eine rührende Elegie auf ihn aus:

»Das Wehklagen dringt bis Babel, es weinet bitter lich Ägypten, da sie hörten, daß das Lehrhaus verwaist ist. Schmerzlich fragen sie einander: wo ist die Bundeslade? Die Gesetztafeln sind nun zum zweiten Male zerbrochen. Die Thora ist ihres Schmuckes entkleidet am Todestag des Gaon. Die Himmlischen beneideten die Sterblichen um jenes Geisteslicht und versetzten es von der Erde in den Himmel. Zu Gott stieg seine Seele auf, und die Himmelschar kam ihr jubelnd entgegen«42.


Joseph Ibn-Migasch hinterließ einen gelehrten Sohn Meïr und einen großen Kreis von Jüngern, darunter auch Maimun aus Cordova, dessen Sohn einen Wendepunkt in der jüdischen Geschichte herbeiführen sollte.

In dem Maße, als das Talmudstudium in Spanien einen Aufschwung nahm, trat in Bibelerklärung und Pflege der hebräischen Grammatik in diesem Zeitabschnitte eine Erschlaffung ein. Diese Fächer wurden nicht weiter fortgeführt. Nur zwei hebräische Sprachforscher nennt die Erinnerung dieser Zeit, Abulfihm Levi ben Joseph [109] Ibn-Tabbén (oder Altabben)43 aus Saragossa und Jakob ben Eleasar aus Toledo. Der erstere, ein Freund des Dichters Jehuda Halevi, verfaßte eine hebräische Grammatik in arabischer Sprache unter dem Titel »der Schlüssel« (Mafteach), deren Wert unbekannt ist; aus einem seiner Verse zu schließen, war er kein Meister darin. Auch seine Poesie scheint nicht sehr wohlklingend gewesen zu sein; denn ein unparteiischer Kunstrichter beurteilte seine Leistung und die seines Bruders folgendermaßen: »Levi und Jakob, die Söhne Tabbén, dreschen Verse gleich Stroh«44. Sein Freund rühmte zwar Ibn-Tabbéns Muse außerordentlich und sang von ihm: »Wie sollte der Gesang nicht dein Wirken sein, bist du doch König des Liedes«45. Indessen sind solche Überschwenglichkeiten auf Rechnung der Freundschaft zu setzen, die gern den Mund vollnimmt. Man kennt indes nur liturgische Gebetstücke von Ibn-al-Tabbén, von denen eines die innige Sehnsucht der Seele nach ihrer himmlischen Heimat ausdrückt.

In einem Stücke schildert Ibn-al-Tabbén die Leiden der Gemeinde, die sie wahrscheinlich während der Kriege Alfonsos von Aragonien um Saragossa bis zu dessen Eroberung (1118) erduldet hat: »In die Gewalt von Herrschern, die wie Schlangen beißen, sind sie geliefert; es kamen Männer und raubten Frauen, wie es ihnen gefiel. Wehrlos werden die Starken weggeführt, ruhelos irren sie als Flüchtlinge umher«46.

Abulhassan Esra (?) Jakob ben Eleasar verfaßte ein grammatisches Werk »die Vollendung« (ha-Schalem) genannt, worin er, nach einigen Bruchstücken zu urteilen, gute syntaktische Bemerkungen machte. Um die Lesart des Bibeltextes festzustellen, benutzte er den aus Hilla stammenden Bibelkodex (Sefer Hillali), der als alt und korrekt galt. Ben Eleasar wollte aber auch als Ritter für die hebräische Sprache auftreten, die, wie er klagt, von Arabern und arabisierenden Juden wegen ihrer Armut und Ungelenkigkeit verachtet und der arabischen [110] nachgesetzt werde. Er wollte daher nachweisen, daß sie mit der arabischen einen Wettlauf anzustellen vermöge, und dichtete (1133) zu diesem Zwecke Sprüche und Epigramme. Aber seine Verse sind nicht imstande die hebräische Muse zu Ehren zu bringen, sie sind lahm und aller Anmut bar. Der Dichter Mose Ibn-Esra, dem der Verfasser seine Verse zugesendet, spöttelte darüber in einem Gedichte, das wie Lob klingt47.

Wenn diese Zeitepoche ziemlich arm an Forschern der heiligen Schrift und der Sprachkunde war, so war sie desto reicher an Dichtern. Die hebräische Sprache war seit den zwei Jahrhunderten von ben Labrat an so biegsam und geschmeidig geworden, daß wenig Kunst dazu erforderlich war, Verse zu machen und Reim und Maß zu handhaben. Die Kunstformen, welche namentlich Salomon Ibn-G'ebirol erweitert hatte, fanden mehr oder weniger glückliche Nachahmung. Die Mode der Araber, den Inhalt eines Briefes an Freunde zu versifizieren, welcher die spanischen Juden huldigten, machte die Dichtkunst zu einem Bedürfnis; wer nicht als ungebildet erscheinen wollte, mußte reimen lernen. Die Zahl der Gedichte, welche gerade in dieser Zeitepoche zutage gefördert wurden, ist Legion. Doch nur wenige enthalten wahre Poesie. Zu den nennenswerten Dichtern gehören außer den schon genannten, die sich auch mit andern Fächern beschäftigt haben, Juda Ibn-Giat, Juda Ibn-Abbas, Salomon Ibn-Sakbél und die Gebrüder Ibn-Esra. Sie alle überragt der Dichterfürst Jehuda Halevi, welcher schon von seinen Zeitgenossen als Meister des Sanges begrüßt und anerkannt wurde.

Abu Zacharia Juda Ibn-Giat erbte von seinem Vater, dem Rabbinen und liturgischen Dichter Isaak Ibn-Giat, die Dichtergabe, und seine poetischen Ergüsse weltlichen und religiösen Inhalts wurden von den Zeitgenossen und der noch strengeren Nachwelt sehr gerühmt. Juda Halevi sang von ihm:


Judas Lieder ragen

Gar stolz und kühn hervor,

Mit Cherubsflügeln steigen

Zum Himmel sie empor.


Die einen sanfte Tropfen,

Ein Balsam, stillend Schmerz,

Die andern Feuerfunken

Entflammen wild das Herz.


[111] O hätt' ich Adlerflügel,

Ich flöge bald zu dir,

Zu dir nach weiter Ferne,

Zu dir, der nahe mir –

Bist nahe meinem Herzen

In Liebe eng verwebt48.


Abul Baka Jehuda (Jachja) ben Abbun Ibn-Abbas, Rabbiner von Fez (geb. 1080, st. 1163), dichtete meistens liturgische Hymnen, denen indes nur bedingtes Lob erteilt wird. Er stand mit dem Dichterfürsten von Kastilien in freundschaftlichem Verkehr und huldigte in überschwenglicher Weise dessen Talent.

Während die Muse der genannten beiden Dichter nur ernsten Schöpfungen zugewendet war, gebraucht Salomon ben Sakbél49 von Cordova, ein Verwandter des Rabbiners Joseph Ibn-Sahal, die hebräische Sprache für erotische Tändeleien. Die neue Dichtungsform des arabischen Makamendichters Hariri aus Basra, dessen Ruhm nach Spanien gedrungen war, regte Ibn-Sakbél an, etwas Ähnliches in der hebräischen Sprache zu versuchen. Er schrieb eine Art satirischen Romans unter dem Titel Tachkemoni, dessen Held, Ascher ben Jehuda, Wandlungen und Täuschungen durchmacht. Der Held erzählt selbst seine Abenteuer in gereimter Prosa, von Versen unterbrochen, wie er früher längere Zeit in Waldeinsamkeit, nur von der Geliebten begleitet, zugebracht, dann aber des einförmigen Lebens überdrüssig, sich nach Geselligkeit gesehnt, im Kreise von Freunden an vollen Tafeln zu zechen. Von einer unbekannten, verführerischen Schönen durch ein rätselhaftes Briefchen verlockt, habe er sie lange gesucht, sich in Liebesgram verzehrt, sei dann in einen Harem eingeführt worden, wo ihm der Herr desselben »mit Berbermiene« den Tod angedroht. Es war aber nur eine Maske, die eine Schöne vorgenommen, um ihn zu schrecken, und diese, welche nicht seine Herzenskönigin, sondern nur deren Dienerin war, habe ihm die Erfüllung seiner Wünsche versprochen. Endlich glaubte er dem Ziele nahe zu sein; er kommt mit der Geliebten zusammen, aber es war nur eine Mummerei, die einer seiner Freunde veranstaltet hatte. So wird Ascher ben Jehuda von Täuschung zu Täuschung geführt. – Die Kunstform hat keinen allgemein gültigen poetischen Wert und ist nur eine Nachahmung des arabischen Musters. Zu bewundern ist nur die Leichtigkeit. [112] mit der Ibn-Sakbél die hebräische Sprache handhabt und wie er das Tiefernste zu leichten Tändeleien verwendete.

Reichbegabte Persönlichkeiten waren die vier Brüder Ibn-Esra aus Granada, begütert, edel, gelehrt und kunstgeübt, Abu-Ibrahim Isaak der älteste50, Abu Harun Mose, Abulhassan Jehuda und Abuhaǵaǵ Joseph der jüngste. Ihr Vater Jakob hatte unter dem König Habus oder richtiger unter Samuel Ibn-Nagrela ein Amt bekleidet. »Man erkannte,« sagte ein zeitgenössischer Geschichtsschreiber, »an dem Edelmut dieser vier fürstlichen Söhne Ibn-Esra, daß sie von davidischem Blute und von altem Adel abstammen«51. Der bedeutendste unter ihnen war Abu Harun Mose (geb. um 1070, st. um 1139), der sich rühmte, der Schüler seines ältesten Bruders zu sein. Er hatte auch die Vorträge des Isaak Ibn-Giat von Lucena gehört52. Er war der fruchtbarste Dichter dieser Zeit. Ein Mißgeschick scheint seine Muse geweckt zu haben. Er verliebte sich nämlich in seine Nichte, wahrscheinlich die Tochter des Isaak, und erhielt Gegenliebe. Der Bruder versagte ihm jedoch die Hand der Tochter, und die jüngeren Brüder scheinen den Entschluß des älteren gebilligt zu haben; er war deswegen mit allen dreien zerfallen53. Mose floh darauf das Vaterhaus und seine Brüder und wanderte nach Portugal und Kastilien aus (um 1100). Liebesgram verzehrte ihn, und die balsamspendende Zeit vermochte seine Wunden nicht zu heilen. Einige Zeit nach der Selbstverbannung trug er sich mit der Hoffnung, seine Wünsche gekrönt zu sehen. In diesem Sinne dichtete er schwärmerische Verse an einen Freund in der Heimat, worin er seiner Nichte Liebesworte zuflüstert54. Falsche Freunde scheinen indessen den Bruch zwischen ihm und den Brüdern erweitert zu haben55. Seine Geliebte wurde einem jüngeren Bruder zuteil und kam nach Cordova, hatte aber ebensowenig wie Mose die Jugendliebe vergessen56. Er aber scheint unverheiratet geblieben zu sein und brachte sein Leben in der Fremde zu.

[113] Der Liebesschmerz hatte seinem Gemüte Verse entlockt, und die Muse blieb seine Trösterin. Er suchte seinen Schmerz durch ernste Studien zu betäuben, die Wissenschaft sollte ihm Geliebte und Brüder ersetzen57. Er erwarb sich Freunde und Bewunderer, die ihm bis in den Tod treu blieben. Ein hochgestellter Mann, namens Salomon (vielleicht Salomon ben Krispin), im christlichen Spanien, der als edler Wohltäter und Gönner seiner Glaubensgenossen geschildert wird, nahm sich des unglücklichen Mose an und wendete ihm treue Freundschaft zu, obwohl Neider sie zu untergraben suchten. Mose Ibn-Esra verherrlichte seinen Gönner in einem schönen Gedicht von dreißig Versen58.

Mose Ibn-Esra hatte viel Ähnlichkeit mit Salomon Ibn-G'ebirol. Gleich ihm klagt er über Verrat und Neid, über der Zeit Härte und Treulosigkeit. In seinen Gedichten spiegelt sich ebenso wie in denen des Dichters von Malaga das Selbstische ab; auch er hatte kein großes Ziel für seinen dichterischen Drang. Aber Mose Ibn-Esra war nicht so zart besaitet, nicht so weich und empfindsam wie jener, er hatte eine derbere Natur und auch weniger poetische Zerflossenheit. Er war darum auch nicht so schwermütig und grämlich wie Ibn-G'ebirol, sondern sang zuzeiten heitere Lieder und konnte auch mit der Muse tändeln. Als Dichter steht er Ibn-G'ebirol um vieles nach. Seine Poesie trägt den Stempel der Künstelei und Geschraubtheit, seine Bilder sind überladen, seine Verse oft hart und schwülstig und entbehren des Wohlklangs und Ebenmaßes, der Lieblichkeit und Frische. Es ist zu viel Gesuchtheit und Berechnung in seinen Versen. Mose Ibn-Esra liebte es besonders, Wörter von demselben Klange und verschiedener, oft entgegengesetzter Bedeutung zu gebrauchen, eine Manier, die er den arabischen Dichtern abgesehen hatte (Teǵnis). Zu bewundern ist nur an ihm die Herrschaft, die er über die hebräische Sprache hat, die sich ihm schmiegt und fügt, die Fruchtbarkeit seiner dichterischen Leistung und die Mannigfaltigkeit des Versmaßes, mit der er die hebräische Poesie bereichert hat. Er dichtete einen Liederkranz, den er Perlenschnur (Arnak, Tarschisch) nannte, von 1210 Versen in zehn Abteilungen; sie waren seinem Gönner Ibn-Kamnial (o. S. 100) gewidmet. Diese Verse sind ebenso mannigfaltig an Maß wie an Inhalt. Der Dichter verherrlicht in der Liedersammlung seinen Gönner, singt von Wein, Liebe und Freude, preist das schwelgerische Leben unter Laubbaldachinen und Vogelgesang, klagt [114] dann wieder über die Trennung von Freunden und über Treulosigkeit, jammert über das herannahende Greisenalter, ermahnt auch gelegentlich zu Gottvertrauen und verherrlicht zuletzt die Dichtkunst59. Neben diesem Kranze dichtete Mose Ibn-Esra dreihundert Gelegenheitsgedichte von mehr als 10000 Versen (in einen Divan gesammelt) und endlich nahe an zweihundert Gebetstücke für das Neujahr und den Versöhnungstag, welche Bestandteile des Kultus in vielen Gemeinden wurden (der Gemeinden Spaniens, Montpelliers, Avignons und der Romagnolen)60. Von seiner Fruchtbarkeit als Bußgebetdichter erhielt er den Namen Salach. Aber nur wenige seiner religiösen Gedichte haben einen wahrhaft poetischen, seelenerhebenden oder herzzerknirschenden Hauch61. Sie zeigen mehr Wortschwall als Schwung62, sind sämtlich nach den Regeln der Kunst gebaut, aber es fehlt ihnen der Duft. Die Kunstregeln verstand niemand besser als eben Mose Ibn-Esra. Er schrieb eine Abhandlung über Rede und Dichtkunst unter dem Namen Unterredung und Erinnerung63, welche zugleich eine Art Literaturgeschichte über die poetischen Leistungen der spanischjüdischen Poesie seit ihren ersten Anfängen bildet64. Sie ist an einen gelehrten Jünger gerichtet, der ihm die Frage über Poesie und Dichter vorgelegt, die der Verfasser gründlich beantwortet hat. Mose Ibn-Esra spricht in der Poetik auch von arabischer und kastilischer Poesie und liefert damit einen Schatz für die Literaturgeschichte Spaniens. Die schwächste Leistung des Mose Ibn-Esra ist sein philosophisch sein sollendes Werk (Arugat ha-Bôssem) in hebräischer Sprache, worin er die dürre Zeitphilosophie nach arabischen Mustern auseinandergesetzt hat. So viel aus den vorhandenen Bruchstücken zu schließen ist, hat der Verfasser keinen einzigen selbständigen Gedanken erzeugt, er entwickelt nur die Ideen der griechischen und arabischen Denker; von den jüdischen führt er noch Saadia und Ibn-G'ebirol an65.

Trotz seiner Unbedeutendheit als Philosoph und seiner Mittelmäßigkeit als Dichter stand Mose Ibn-Esra wegen seiner Leichtigkeit zu schreiben [115] bei seinen Zeitgenossen hoch in Ehren. Mit allen hervorragenden Persönlichkeiten stand er in freundschaftlichem Verkehr, und sie verherrlichten ihn in Prosa und Versen, wie er sie seinerseits hochpries. Mit seinen Brüdern scheint er lange Zeit die Verbindung abgebrochen zu haben. Als er einst die Gräber seiner Eltern besuchte, entrang ihm der Schmerz folgende Verse:

»Mich treibt es, die Gräber aufzusuchen, die meine Eltern, meine Freunde bergen. Ich grüßte sie, mein Gruß blieb unerwidert. Wie, haben auch die Eltern mir die Treue gebrochen? Da vernahm ich ihre lautlose Mahnung; sie wiesen mir zur Seite meinen Platz an66.


Er versöhnte sich erst mit den Brüdern, als seine Jugendgeliebte an der Geburt eines Knaben starb (1114). Auf dem Totenbette hatte sie seiner in Liebe gedacht, und ihre Worte, die ihm eine heilige Erinnerung waren, brachte er in elegische Verse, die, weil wirklich empfunden, poetischer sind als seine übrigen Dichtungen:


Schreib' meinem Oheim auch, der um mich gelitten,

Verzehrt von heißer Liebesschmerzen Gluten.

Ein Fremdling wandert er irr umher,

Daß tief ihm der Drangsal Wunden bluten,

Er sucht des Trostes Kelch, nun muß des Leidens

Zum Rand gefüllter Kelch ihn überfluten«67.


Diese Elegie schickte Mose Ibn-Esra seinem älteren Bruder zu, und das war der erste Schritt zu ihrer Versöhnung. Als seine Brüder nach und nach von der Erde schieden, zuerst Abulhassan Jehuda, dann der älteste Isaak und endlich der jüngste Abulhaǵaǵ (nach 1120), konnte sich der Überlebende vor Schmerz nicht fassen und weihte ihrem Andenken tief empfundene Verse68. Mose Ibn-Esra behielt seine Dichterkraft bis ins hohe Alter und noch kurz vor seinem Tode (1138) dichtete er ein poetisches Trostschreiben an seine Freunde Abu-Amr und Abu-Ibrahim Ibn-Maschkahan, denen der Tod die Mutter entrissen69. Jehuda Halevi widmete ihm einen seelenvollen Nachruf70.


Fußnoten

1 Conde. de la dominación etc. II, c. 23, p. 408.


2 Conde, de la dominación etc. II. c. 25. S. 414.


3 Divan des Jehuda Halevi bei Geiger, S. 120; Maimunis Aphorismen, bei Munk in Archives israélites 1851, S. 326, Note. Das Gedicht (Ginse Oxford, S. 18) stammt nach einer Überschrift von Ibn-Almuallem.


4 Alcharisi, Tachkemoni, Pforte III.


5 Edelmann hat richtig kombiniert, daß der Abraham ben Meïr, dem Mose Ibn-Esra seinen Tarschisch gewidmet hat, identisch ist mit Abulhassan Ibn-Kamnial, Ginse Oxford XIV. 1. Ihm widmete auch Jehuda Halevi sieben Gedichte, Luzzatto, Betulat bat-Jehuda, S. 19. Vgl. über ihn als Arzt Munk a.a.O. aus Maimunis Aphorismen.


6 Mose Ibn-Esra, Tarschisch, bei Luzzatto. Kerem Chemed IV, S. 69, 70.


7 Desselben Divan das. S. 92 und Betulat, S. 20.


8 Gedicht von Jehuda Halevi, mitgeteilt von Schorr in Chaluz I. p. 151f. Graetz, Blumenlese 83, 15: תוחא ןב הלידס bedeutet vielleicht Schwestersohn des Cidellus (o. S. 72). Statt 1105 ist das Datum richtiger 1108. Die Schlacht von Ucles fand statt am 29. Mai 1108.


9 Sefer ha-Ibbur ed. Filipowski (London 1851) p. 4. Tabellen das. S. 119. תפרצ ץרא bedeutet auch hier Katalonien: vgl. o. S. 69, Anmerk. 5, vgl. Kerem Chemed VII, 77f., woraus das Todesjahr hervorgeht; auch Rapaports Einleitung zu Hegion ha-Nefesch.


10 Schreiben an Jehuda Albarǵeloni in Kerem Chemed VIII, S. 59.


11 Sefer ha-Ibbur. p. 45.


12 Hegion ha Nefesch ed. Freimann (Leipzig 1860).


13 Schreiben an Jehuda Albarǵeloni a.a.O.


14 Megillat ha-Megalleh bei Filipowski a.a.O.


15 Vgl. über ihn Note 6.


16 Divan des Mose Ibn-Esra Nr. 192. Kerem Chemed IV, 93 und Dukes, Mose Ibn-Esra S. 103, 19. Vgl. über dessen Aufenthaltsort Note 1, I. Der im Divan Jehuda Halevis vorkommende Nachman Ibn-Ashar (Betulat 20) ist entweder derselbe oder dessen Vater.


17 Mose Ibn-Esra, Divan Nr. 10. Kerem Chemed das. 85. Statt תרוגז ןב muß man lesen רהזא ןב.


18 Derselbe, Poetik; vgl. Note 1, I, und Abraham Ibn- Daud.


19 Ders. Divan bei Dukes, Mose Ibn-Esra, S. 101, Nr. 11.


20 Dukes Mose Ibn-Esra, S. 103, Kerem Chemed das. 89.


21 Das. S. 101, Nr. 11.


22 Abraham Ibn-Daud.


23 Bei Luzzatto, Betulat S. 25, vgl. Ginse Oxford XIII.


24 Kerem Chemed VIII, 58.


25 Vgl. Asulaï, Schem ha-Gedolim ed. Ben-Jacob, p. 64, Nr. 22.


26 Luzzatto in Halichot Kedem 60 und 72. Orient. Litbl. 1847, 217f.


27 Abraham Ibn-Daud und Mose Ibn-Esra, Note 1, I.


28 Herausgegeben von Jellinek 1854, mit einer literarhistorischen Einleitung.


29 Das von ihm zitierte Buch Mansuri des Abu-Jakub (p. 43, 46, 70) ist von Joseph Roeh; vgl. darüber Pinsker, Likute Beilagen und Noten p. 196.


30 Olam Katon Eingang S. 1 und S. 74.

31 Das. Eingang.


32 Die für die Auffassung des Judentums wichtigen Punkte sind im vierten Abschnitt von S. 57 an zusammengestellt.


33 Olam Katon S. 61. In Zeile 17 verrät sich eine Lücke.


34 Abraham Ibn-Daud.


35 Luzzatto, Betulat S. 37ff. Graetz, Blumenlese 76, 77.


36 Abraham Ibn-Daud.


37 Saadia Ibn-Danan in Chemda Genusa S. 30 a; Abraham Ibn-Daud.


38 Divan des Jehuda Halevi in Ginse Oxford XIII. f.


39 Serachja Halevi zu Baba Mezia I. Anfang und an anderen Stellen; vgl. Asulaï s.v.


40 Schita Mekubézet zu Baba Mezia ed. Amst. p. 203 a unten.


41 Responsa Jehuda Ascheri p. 55 b.


42 Vgl. über diese Elegie Graetz, Blumenlese S. 112.


43 Vgl. Note 1. II. Die richtige Aussprache des Namens gibt Charisi, der Tabbén mit Matbén reimt, falsch bei Geiger und andern: Thabban, noch sinnloser, den Namen mit Tibbon zu identifizieren. Bei Charisi lautet der Name des Vaters Joseph. Es ist nun die Frage, ob dieser Levi ben Joseph identisch ist mit jenem Levi ben Jakob, von dem liturgische Stücke im Zyklus von Tripolis und Avignon vorkommen (Sachs, religiöse Poesie S. 290). Der Name Abulfihm kommt in der Einleitung zum Divan des Jehuda Halevi (bei Geiger Divan S. 169) vor.


44 Charisi, Tachkemoni Pforte III.


45 Ozar Nechmad redigiert von Blumenfeld II. S. 81-83.


46 Sachs a.a.O.


47 Ozar Nechmad II. S. 159ff. In M. Ibn-Esras Poetik wird ein Name Abulhassan Esra ben Eleasar erwähnt, der wahrscheinlich mit dem Grammatiker identisch ist.


48 Divan von Geiger S. 39, Original Orient. Ltbl. 1850 col. 640. Sachs a.a.O. S. 257.


49 Die Makamen dieses Dichters, welche Charisi zitiert und den seinigen zum Muster genommen hat, Schorr, in Chaluz III. S. 154ff. veröffentlicht.


50 Abraham Ibn-Daud und Edelmann Einl. zu Ginse Oxford. Der erstere gibt ausdrücklich an, daß Isaak der älteste war. Falsch daher bei Geiger (Divan S. 38), daß Juda der älteste gewesen sei. S. auch Luzzattos Betulat p. 18.


51 Abraham Ibn-Daud.


52 M. ben Esras Elegien auf den Tod seines Bruders in Dibre Chachamim p. 82f. und Saadia Ibn-Danan in Chemda Genusa p. 30. Da Isaak Ibn-Giat 1089 starb, so ergibt sich daraus das ungefähre Geburtsjahr des Jüngers.


53 Kerem Chemed IV. S. 83, Ginse Oxford. S. 19. Divan 58.


54 Divan 131.


55 Kerem Chemed a.a.O. S. 98, Dukes Ehrensäulen M. ben Esra 105.


56 Das. 92; Geiger hebräische Dichtungen der spanischen und italienischen Schule. Text S. 5.


57 Ginse Oxford S. 19.


58 Bei Dukes a.a.O. S. 95, über S. ben Krispin Ginse Oxford 13.


59 Kerem Chemed a.a.O. 66-74.


60 Dukes a.a.O. S. 8-11, Note.


61 Zu den besten gehören die von Dutes a.a.O. mitgeteilten S. 62 Nr. 3: 79 Nr. 15: 86 Nr. 23.


62 Seine künstliche Manier veranschaulicht am besten das im Orient. Litbl. 1847 col. 403 mitgeteilte Gedicht.


63 Kitab al Macha'dera w'al-Madsakara vgl. Note 1. I.


64 Handschriftlich in der Bodlejana codex Huntington Nr. 599; vgl. Wolf, Bibliotheca Hebraea III. p. 3f.


65 Ein Auszug daraus in Zion II. 117ff.


66 Sein Divan Nr. 118 in Kerem Chemed das. S. 89.


67 Das. Nr. 177. Geiger, jüdische Dichtungen Text S. 5. Übersetzung S. 13.


68 Ginse Oxford p. VII. Note 7, Dibre Chachamim S. 32f.


69 Das. S. 46. Kerem Chemed a.a.O. 89, 92.


70 Ginse p. XI.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1896], Band 6, S. 117.
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