Elemente der politischen Organisation

[58] 25. In jedem Verbande besteht das unabweisbare Bedürfnis nach einer Zusammenfassung und gleichmäßigen Richtung des Gesamtwillens und daher nach fester und einheitlicher Leitung, vor allem aber in dem wichtigsten und allumfassenden Verband, dem Stamm oder dem Staat. Am stärksten macht es sich im Kriege geltend, wo die Gesamtheit unmittelbar durch éinen Willen zu einer einheitlichen Aktion zusammengefaßt werden muß. Aber auch sonst tritt es bei jedem wichtigen Anlaß hervor, um so stärker, je größer der Machtbereich eines Staats und je komplizierter seine äußeren Beziehungen und inneren Aufgaben werden, und je empfindlicher daher ein Schwanken in der Stetigkeit des leitenden Willens auf die Interessen der Gesamtheit zurückwirkt. Diese Einheit des Staatswillens kann von der Stammversammlung der Vollfreien und dem Rat der Alten aufrecht erhalten werden, wenn die sozialen Verhältnisse homogen und sie selbst von einem starken Gemeingefühl beseelt sind, so daß ein lebendiges Bewußtsein der gemeinsamen Aufgaben die individuellen Interessen in Unterordnung hält – das ist namentlich bei kriegerischen Stämmen der Fall. Sie kann auch durch einen Adel oder durch den Rat allein geschaffen werden, wenn dessen Mitglieder an der Spitze einheitlicher Gruppen stehen, seien es Blutsverbände, seien es Interessenverbände (Faktionen), die ihrem Willen folgen, so daß die soziale Ordnung entweder als eine natürliche, von beiden Seiten als unverbrüchlich anerkannte Interessengemeinschaft der leitenden und der abhängigen Klassen erscheint, oder aber das Übergewicht des herrschenden Standes so fest begründet ist, daß eine Opposition [58] der Beherrschten ohnmächtig sein würde. Wenn dann in den führenden Männern das Gemeingefühl durch den Kulturzustand und die äußere Lage des Staats und die daraus erwachsenden Anschauungen lebendig erhalten wird, wenn sie bei Konflikten ihre persönlichen Interessen zurückstellen, da sie wissen, daß diese bei einseitiger Betonung zu Grunde gehen würden, wenn sie durch Verhandlungen und Konzessionen die Herstellung eines einheitlichen Willens zu schaffen verstehen, kann bei solcher Organisation ein Gemeinwesen durch lange Zeiträume sich in wohlgeordneten Zuständen erhalten. Sie findet sich nicht nur in fortgeschrittenen Verhältnissen, wie in den griechischen Aristokratien oder in Rom, oder in den Kaufmannsaristokratien von Korinth, Karthago, Massalia u.a., sondern oft genug auch in weit primitiveren Zuständen, z.B. bei vielen semitischen und keltischen Stämmen.

26. Diese Organisationen, seien sie nun demokratisch auf der Gemeinfreiheit beruhend, oder aristokratisch, entweder unter Herrschaft eines geschlossenen erblichen Adels oder in lockererer Form unter Leitung der Männer, welchen durch persönliches Ansehen und Besitz der Zutritt in die regierenden Kreise offensteht, bilden den »freien« Staat. In ihm wird die ausführende Tätigkeit, welche eine Einzelpersönlichkeit erfordert – in erster Linie der Oberbefehl im Kriege –, durch zeitweise oder dauernd damit beauftragte Beamte besorgt, die nur Exekutivorgane der Regierung sind und der Gesamtheit gegenüber kein selbständiges, ihrer Person inhärierendes Recht besitzen, sondern nur diejenigen Rechte, welche der Staat dem Amte zur Erfüllung seiner Aufgaben zugewiesen hat. Weitaus das Gewöhnlichste ist aber (abgesehen von sehr durchgebildeten Verfassungen), daß wenigstens die militärische Leitung dauernd einer Einzelpersönlichkeit, einem Häuptling (König), übertragen ist, der dadurch aus der Masse der Stammgenossen ausgeschieden wird. Meist übt er auch die Gerichtsbarkeit, sei es allein, sei es in Übereinstimmung oder in Konkurrenz mit dem Rat der Alten, dem Volksgericht, oder dazu bestellten [59] Richtern. Andere Rechte, vor allem die Leitung des Rats, schließen sich daran an. In ihm konzentriert sich alsdann wenn nicht die ganze, so doch ein Teil der Zwangsgewalt des Verbandes; und diese Gewalt ist mit dem Recht des Befehlens und des Anspruchs auf unbedingten Gehorsam ausgestattet, das zunächst allerdings nur im Kriege zur Geltung kommt, dann aber, namentlich wenn die Entwicklung weiter fortschreitet, vielfach auch in die Verhältnisse des Friedens eingreift, zumal auch in diesem eine Vorbereitung auf den Krieg unerläßlich ist. Wie es scheint, ist die Existenz einer, wenn auch durch die entgegenstrebenden Tendenzen und Organisationen vielfach beschränkten Häuptlingsgewalt überall das ältere gewesen, und die »freie« Verfassung da, wo sie existiert, immer erst ein Produkt geschichtlicher Entwicklung – daher finden sich in dieser oft genug noch Überreste der Häuptlings- oder Königsgewalt, etwa ein erbliches Feldherrnamt oder Ehrenrechte des im übrigen den vornehmen Geschlechtern gleichgestellten Fürstengeschlechts. In vielen anderen Fällen hat sich die Häuptlingsmacht in schwankendem Gleichgewicht mit den übrigen Gewalten erhalten; noch häufiger vielleicht ist sie zur allbeherrschenden Macht geworden, vor der jedes andere Recht verschwindet, so daß die Untertanen dem despotischen Herrscher gegenüberstehen wie die Sklaven ihrem Herrn und die Rechtsakte des Staats zu rein persönlichen Willensakten des Herrschers werden. Im allgemeinen gibt die Einheitlichkeit der Leitung und das Vorhandensein einer über den Sonderinteressen und Parteiungen stehenden Gewalt, welche im stande ist, die Rechtsordnung ohne Ansehen der Person aufrecht zu erhalten und durchzuführen (vgl. die medische Sage vom Ursprung des Königtums aus der richterlichen Tätigkeit bei Herodot I, 96ff.), den monarchischen Staatsordnungen ein entschiedenes, gerade in primitiven Verhältnissen lebhaft empfundenes Übergewicht über die freien Verfassungen. Die Kehrseite ist, daß sie ganz auf die Persönlichkeit gestellt sind: und wenn die Monarchie in der Regel von einer kraftvollen, die anderen überragenden [60] Persönlichkeit gegründet ist, die ein lebhaftes Gefühl für die von ihr übernommenen Aufgaben besitzt, so pflegt das Herrscherhaus meist sehr rasch zu degenerieren und das Regiment an Herrscher zu gelangen, die diesen Aufgaben nicht mehr gewachsen sind, ihre Stellung rücksichtslos zur Befriedigung persönlicher Lüste und Launen mißbrauchen und in volle Abhängigkeit von unwürdigen und unfähigen Dienern und Günstlingen gelangen.

27. Der Rechtsordnung nach wird die Häuptlingsgewalt durch einen Willensakt der Gemeinde gewonnen, sei es, daß aus mehreren Gleichstehenden einer durch Wahl erhoben, sei es, daß ein schon bestehendes erbliches Recht anerkannt und durch Huldigung bestätigt wird. Tatsächlich dagegen entspringt sie eben so oft einem Gewaltakt, einer Usurpation, einer Mordtat, einer Unterjochung des Staats durch einen mächtigen Mann, der seine Anhänger um sich geschart hat. Immer aber setzt sich, was einmal besteht, um in ein Rechtsverhältnis, das wie das Eigentum dauernde Anerkennung fordert und sich wie dieses vererbt. Dadurch wird mit dem Häuptling zugleich der Blutsverband, an dessen Spitze er steht, aus der Masse der übrigen herausgehoben: in ihm lebt ein Sonderrecht, das ihn und ihn allein zur Leitung des staatlichen Verbandes beruft; dasselbe ist zwar zur Zeit in dem gegenwärtigen Häuptling oder König verkörpert, aber alle Mitglieder seines Geschlechts haben Anteil daran. Der Erbgang der Herrscherwürde wird beeinflußt von den allgemeinen Bedürfnissen, auf denen sie beruht; daher ist das für das Herrscherhaus geltende Erbrecht oft von dem für die übrigen Stammgenossen geltenden verschieden. Es kann sein – und das ist wohl meist das Ursprüngliche –, daß das Anrecht des Geschlechts ganz im Vordergrund steht, so daß, wenn der Häuptling gestorben ist, von seinen erbberechtigten Verwandten der Tüchtigste sein Nachfolger wird und die ihm erbrechtlich Näherstehenden, wenn sie weniger fähig oder unmündig sind, übergangen werden. Es kann aber auch der in der Person des Herrschers konzentrierte Rechtsanspruch so sehr dominieren, daß [61] selbst ein eben geborenes Kind oder eine Frau als ausschließlich zur Nachfolge berufen anerkannt wird – letzteres nicht nur bei mutterrechtlichen Ordnungen, sondern auch wo die streng patriarchalische Familie besteht, ja die Tochter sonst im Erbrecht zurückgesetzt oder sogar ausgeschlossen ist, wie z.B. in England. So verhängnisvoll die so entstehenden Zustände und die aus ihnen erwachsenden Wirren werden können, so ist doch ihre Grundlage, das anerkannte, mit der Person verwachsene Eigentumsrecht auf die Herrschaft für ihre Sicherheit und ihren Bestand unentbehrlich: nur dadurch gewinnt das einzelne Mitglied des Herrscherhauses die Autorität und die Kraft, die sein Amt erfordert.

28. Zwischen den Extremen der voll ausgebildeten freien Verfassung ohne jegliches Sonderrecht einer einzelnen Persönlichkeit oder privilegierter Geschlechter und dem eines absoluten Despotismus stehen zahlreiche Abstufungen und Zwischenformen. In einer jeden kann die Staatsgewalt zu ungeheurer Intensität entwickelt sein, so daß sie alles andere fast absorbiert, oder auch so schwach, daß die wichtigsten Aufgaben des Staats gar nicht oder nur ganz ungenügend erfüllt werden. Auch hängen die Verfassungen nicht notwendig mit einem bestimmten Kulturzustande zusammen: denn wenn z.B. im Orient und bei den Indianern Amerikas die Entwicklung höherer Kultur mit einer (verschieden abgestuften) despotischen Verfassung verbunden ist, während wir bei den semitischen Nomaden und Halbnomaden (aber in Phoenikien auch bei städtischer Organisation) und ebenso bei den nomadischen Indianerstämmen oder bei den noch nicht zur vollen Seßhaftigkeit gelangten europäischen Völkern eine beschränkte Häuptlingsgewalt verbunden mit freieren Ordnungen antreffen oder die letzteren auch ganz dominieren, so herrscht umgekehrt bei den meisten Negerstämmen volle Despotie, und bei den Mongolen, den iranischen Skythen u.a. ist die Königsgewalt sehr kräftig entwickelt; die Griechen und die italischen Stämme haben mit der Erzeugung höherer Kultur die Königsgewalt abgestoßen, die christlich-germanischen Völker umgekehrt [62] sie gesteigert. Nur die Entstehung größerer erobernder Reiche scheint mit Notwendigkeit, wenn nicht eine sehr hohe Kultur erreicht ist, die absolute Monarchie zu erfordern. – Ein Übergang von der einen zur anderen Staatsform ist nicht selten; oft vollzieht er sich, unter bestimmten äußeren Einflüssen, ganz jäh im Verlauf einer einzigen Generation. Aber im allgemeinen gilt jede Staatsform da, wo sie besteht, als selbstverständlich und unabänderlich wie jede Sitte und jede herrschende Anschauung. Am überraschendsten tritt uns das in den starr despotischen Staaten entgegen. Hier treten die Gebrechen der bestehenden Staatsform immer aufs neue sehr drastisch hervor, und so verläuft ihre Geschichte in einer ununterbrochenen Folge von Empörungen, Mordtaten und Usurpationen; die Verfassung aller derartigen Staaten ist in der Tat, nach dem bei der Ermordung des Kaisers Paul von Rußland geprägten Witzwort, le despotisme temperé par l'assassinat. Aber kaum je tritt der Gedanke hervor, durch eine Änderung der Staatsform bessere Zustände zu schaffen. Die Notwendigkeit der Existenz des Staats lebt in dem Bewußtsein eines jeden, in kultivierten so gut wie in ganz barbarischen Völkern; mithin kann er nur so sein, wie er bisher war. Und so sehen wir, daß eben die Männer, die einen unfähigen oder brutalen Herrscher gestürzt oder ermordet haben, einen anderen auf den Thron erheben, der kaum besser ist, und sich ihm unweigerlich unterwerfen, weil sie sich vor der Allmacht der Staatsidee beugen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 58-63.
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