Die Denkmäler

[759] 503. Das Aegaeische Meer ist keine Völkerscheide. Das westliche Kleinasien streckt seine Halbinseln den Landzungen Griechenlands entgegen, die Inseln bilden die Brücke; nirgends im Meer gibt es eine Stelle, wo der Schiffer nicht ringsum aufragende Berggipfel erblickt. So fluten die Volksstämme hinüber und herüber, und wenn die Politik zeitweilig, wie in der Gegenwart, eine Grenzlinie hindurchgezogen hat, so bleibt dieselbe immer künstlich und ephemer und vermag weder dem Verkehr und dem Austausch der Kultur noch den Expansionsbestrebungen der Völker und Staaten Schranken zu setzen. Gerade in den ältesten geschichtlicher Forschung erkennbaren Epochen tritt diese Einheit der Inseln und Küsten des Aegaeischen Meers besonders anschaulich hervor. In einer Zeit, wo die Elemente der Kultur sich erst ausbilden, hat das Meer hier dieselbe Bedeutung besessen wie am Nil und Euphrat das fruchtbare Ackerland des Überschwemmungsgebiets: es lockt zur Seefahrt, zum Vordringen nach unbekannten Küsten, es schafft einen regen Verkehr und in demselben eine ständige Weiterentwicklung der materiellen und der geistigen Errungenschaften. Dadurch gewinnen die Inseln eine zentrale Stellung; auf ihnen schreitet die Kultur ständig weiter fort, von hier aus dringt sie nach den Küsten der Festländer. Erst als auf den Inseln ein Höhepunkt erreicht ist, gelangen die Festlandsstämme, ausgerüstet mit den Kulturerrungenschaften, die sie von den Inseln übernommen haben, dank ihrem ausgedehnten Hinterland und der weit größeren Volkszahl zu gesteigerter Bedeutung [759] und können die Inselwelt niederwerfen, sei es, daß sie deren ältere Kultur zerstören, sei es, daß sie an sie anknüpfen und sie weiterbilden.

504. Diese Entwicklung, welche im dritten Jahrtausend v. Chr. beginnt und sich bis gegen das Ende des zweiten Jahrtausends fortsetzt, ist in der Überlieferung der späteren Zeit so gut wie verschollen. Nur eine dunkle Kunde von alten Völkerbewegungen, von der ehemaligen Seemacht der Könige von Kreta, von dem Glanz von Mykene und dem Krieg gegen Ilion hat die griechische Sage bewahrt und im Epos gestaltet, und vereinzelte Trümmer mächtiger Bauten, die offen zu Tage lagen, legten Zeugnis ab von der Macht und dem reichen Leben einer fernen Vorzeit, doch ohne daß eine geschichtliche Deutung und eine Verknüpfung mit der späteren Kultur möglich gewesen wäre. Auch hier haben erst die Ausgrabungen Aufklärung geschaffen; sie haben das der geschichtlichen Erkenntnis zugängliche Gebiet um mehr als ein Jahrtausend erweitert. Der Bahnbrecher ist auch hier H. SCHLIEMANN gewesen. Nachdem er die älteste trojanische Kultur entdeckt hatte, hat er 1876 Mykene, 1884 Tiryns und damit die reiche Kultur des zweiten Jahrtausends erschlossen, die wir nach der Stätte, wo sie uns zuerst entgegengetreten ist, die mykenische nennen. Seitdem hat sich unsere Kenntnis durch ununterbrochene weitere Ausgrabungen und durch die wissenschaftliche Verarbeitung der Ergebnisse stetig vermehrt. Eine neue gewaltige Erweiterung unseres Wissens haben seit anderthalb Jahrzehnten die Ausgrabungen auf Kreta gebracht, welche nicht nur die Vorstufen der mykenischen Kultur in weit reicherer Fülle als bisher erkennen ließen, sondern zugleich lehrten, daß diese selbst nur der Ausläufer einer älteren, weit lebensvolleren Kultur gewesen ist, deren Mittelpunkt die Insel Kreta gebildet hat. Die Möglichkeit, die einzelnen Perioden dieser langen Entwicklung nicht nur nach der Folge der Fundschichten abzuschätzen, sondern chronologisch mit ausreichender Genauigkeit zu bestimmen, hat Aegypten gewährt, wo datierte Funde aus allen Hauptepochen derselben erhalten sind. Im übrigen ist die Forschung [760] auf diesem Gebiet noch in ständigem Fluß; nur die ersten Umrisse der Entwicklung sind erkannt und einigermaßen sicher gedeutet. Dagegen bieten vor allem die ethnographischen Fragen noch die schwierigsten Probleme; hier gehen die Meinungen weit auseinander und eine definitive Lösung wird erst die Zukunft bringen.


H. SCHLIEMANN, Mykenae 1878. Orchomenos 1881. Tiryns 1886. Für das Verständnis der Kultur sind grundlegend FURTWÄNGLER und LÖSCHCKE, Myken. Tongefäße 1879, und vor allem Myken. Vasen 1886. Weitere Förderung haben vor allem die sorgfältigen Arbeiten von TZUNTAS gebracht (meist in der Ἐφημερὶς ἀρχαιολογική publiziert). Zusammenfassung der Ergebnisse: SCHUCHHARDT, Schliemanns Ausgrabungen im Lichte der heutigen Wissenschaft 1890. TSOUNTAS and MANATT, The Mycenaean age 1896. HALL, The Oldest Civilization of Greece 1901. – Dann folgten seit 1899 die Ausgrabungen auf Kreta, die italienischen in Phaestos (vorläufige Publikationen meist in den Monumenti antichi dei Lincei), und vor allem die von ARTHUR EVANS in Knossos, an die sich die Erforschung zahlreicher anderer Stätten im Osten der Insel angeschlossen hat. Diese Ausgrabungen sind noch nicht abgeschlossen; eingehende vorläufige Berichte und Untersuchungen meist im Annual of the British School at Athens seit vol. VI 1899 und im Journal of Hellenic Studies. Für den Osten ferner HARRIET BOYD HAWES, Gournia, Vasiliki and other prehistoric sites on the Isthmus of Hierapytna 1909, und R. SEAGER, Explor. in the Island of Mochlos 1912. Von einer zusammenfassenden Publikation der wichtigsten Denkmäler: Antiquités Crétoises, von G. MARAGHIANNIS, mit Text von PERNIER und KARO, sind 1907 und 1911 zwei Serien (100 Tafeln) erschienen. Aber vieles ist noch unpubliziert, und ein einigermaßen sicheres Urteil läßt sich ohne Autopsie nicht gewinnen. Umsomehr muß ich mich auf ein kurzes Referat beschränken; nur die chronologischen Fragen glaube ich selbständig beurteilen zu können. EVANS hat auf Kreta die Schichten nach der neolithischen Zeit in drei Epochen geteilt, die er als Early Minoan, Middle Minoan und Late Minoan bezeichnet, und deren jede er wieder in drei Unterabteilungen zerlegt: EVANS, Essai de classification des époques de la civilisation minoenne 1906. Diese von Zahlenspielerei beeinflußte Einteilung ist sehr unglücklich und hat mich in der vorigen Auflage zu dem Fehler verführt, Middle Minoan III von der spätminoischen Periode zu trennen und unmittelbar an die Kamareszeit = Middle Minoan II anzuschließen. Die richtige Einteilung ist vielmehr:

Ältere Kultur der Bronzezeit = Early Minoan I-III und Middle Minoan I, [761] Kamareszeit, erste Paläste = Middle Minoan II,

Blütezeit der kretischen Kultur = Middle Minoan III und Late Minoan I. II, woran sich dann das Nachleben im Late Minoan III, der eigentlich mykenischen Epoche, anschließt. Eine gute und sehr konzise Übersicht der wichtigsten Ergebnisse gibt BURROWS, The discoveries in Crete, 2 ed. 1907 [vorher: S. REINACH, La Crète avant l'histoire, in l'Anthropologie 1902. KARO im Archiv für Religionswissenschaft VII. VIII 1904. 1905]; ferner LAGRANGE, La Crète ancienne, 1908, und die populäre Schrift von A. MOSSO, Escursione nel Mediterraneo e gli scavi di Creta, 1909. Ferner R. DUSSAUD, Les civilisations préhelleniques, 1910. Inzwischen hat D. FIMMEN, Zeit und Dauer der kretisch-mykenischen Kultur, 1909 eine gute, übersichtliche Durcharbeitung des gesamten Materials gegeben. Dann hat E. REISINGER, Kretische Vasenmalerei vom Kamares- bis zum Palaststil, Diss. München 1911 die Vasen sorgfältig und umsichtig behandelt und FIMMENS Chronologie der festländischen und Inselkultur sowie meine Darstellung in der vorigen Auflage mehrfach berichtigt, wenn auch manchmal seine Kritik in unberechtigten Skeptizismus ausartet, so bei der Behandlung der Funde aus Aegypten. Den natürlich auch von anderen erkannten scharfen Einschnitt zwischen Middle Minoan II und der folgenden Epoche hat er besonders energisch hervorgehoben. Middle Minoan I ist eine Übergangsepoche, die man ebensogut zum vorhergehenden wie zum folgenden rechnen kann. – Zu den Ausgrabungen auf Kreta bilden die auf den Kykladen (§ 510ff.) die Ergänzung.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 759-762.
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