Entstehung der Einzelstämme

[217] Die Israeliten sind in Palaestina eingedrungen als ein kriegerischer Wanderstamm mit fester militärischer Organisation, gegliedert in Fünfzigerschaften und von da weiter ansteigend in Hundertschaften und Tausendschaften497, die wohl immer zugleich [217] Blutsverbände oder Sippschaften bildeten. Die Anschauung, daß die eigentliche Heimat des Israeliten das Zelt sei, ist noch lange lebendig geblieben; sie tritt uns noch bei den Aufständen gegen David und sein Haus in dem Kriegsruf »Zu Deinen Zelten, Israel!« entgegen. Indessen die viehzüchtenden Beduinen sind alsbald seßhafte Bauern geworden, die auf ihrem Erbgut oder »Los« sitzen; und die Tausendschaften und Clans werden zugleich lokale Bezirke oder Gaue mit städtischem Mittelpunkt. Dadurch lockert sich, zumal wenn das Gebiet größer wird, der ursprüngliche Zusammenhang; an Stelle des einen Stammes Israel treten zahlreiche kleinere Stämme lokalen Ursprungs, die dann als Söhne Israels und in der Urzeit von ihm gezeugt gelten, so deutlich oft schon ihre Namen bezeugen, daß sie erst auf dem Boden Palaestinas entstanden sind.

Den Kern Israels bildet der Gebirgsrücken Ephraim498, der sich in Fortsetzung des Gebirges Juda nordwärts bis zum Rande der Ebene Jezre'-el hinzieht, nebst den Tälern zu beiden Seiten. Dies Gebiet, mit einem Hauptheiligtum Jahwes in Bet-el oben auf dem Kamm, ist der Sitz des Stammes Joseph. Bis dahin wird es ein Waldgebirge gewesen sein, mit spärlicher Bevölkerung; weder in den ägyptischen Ortslisten noch in den Amarnabriefen kommt ein hier gelegener Ort vor, mit Ausnahme von Sichem (Šakmi), das einmal erwähnt wird, wie es scheint in Verbindung mit den Chabiri499. Eben dadurch wurde es den Israeliten möglich, sich hier auszubreiten; sie haben den Wald gerodet500 und den Kamm dicht besiedelt. Vielfach werden dabei Reste der älteren Bevölkerung mit ihnen verschmolzen sein; denn so brutal auch [218] damals die Kriegführung der Israeliten gewesen sein wird, so kann doch von einer Ausrottung der Kana'anaeer keine Rede sein. In Sichem, der größten Stadt dieses ganzen Gebiets, sitzen die Geschlechter des kana'anaeischen (choritischen) Clans Chamôr mit Israeliten zusammen und zwischen beiden besteht Ehegemeinschaft501, was natürlich Rivalitäten nicht ausschließt. Die weitere Ausbreitung Josephs hat dann zur Auflösung der Stammeseinheit geführt. Der Kern bildet jetzt den Stamm Ephraim; im Norden, in dem flachen Berglande bis zum Karmel, sitzt der Stamm, der im Deboraliede Makîr, später Manasse heißt, beides wahrscheinlich nach Häuptlingen; im Süden haben »die Leute zur Rechten« – îš- oder bne-ha-Jemini, davon der Eponymus Benjamin –, die von den Höhen nach dem Jordan hinab vordrangen, sich als ein besonderer Stamm, als Brüder Josephs, organisiert. Als »räuberischen Wolf« charakterisiert ihn der Segen Jakobs; »am Morgen verzehrt er den Raub, abends verteilt er die Beute«. In diesen Kämpfen mögen 'Ai und Jericho erobert und zerstört sein; unterhalb des letzteren bildete ein großer Steinkreis (Gilgal), bei dem mehrere Schnitzbilder standen (Jud. 3, 19. 26), das Hauptheiligtum des Stammes. Auch nach Westen drang der Stamm erfolgreich vor. Ein altes Lied berichtet von einer Schlacht bei Gibe'on, bei der Sonne und Mond stillstanden »bis das Volk sich an seinen Feinden gerächt hatte«502. Auch in Gibe'on und seinen Nachbarorten wurde die einheimische Bevölkerung nicht verdrängt, aber untertänig und zu Frondiensten verpflichtet503, in der Folgezeit ist Gibe'on eine Hauptstätte des Jahwekults. Weiter südlich dagegen hat der kleine Stamm Dan – die Erzählung Jud. 18 nennt ihn mišpacha (Clan) und läßt ihn aus 600 Kriegern bestehn – vergeblich versucht, in die Täler nach der Küste zu vorzudringen, vielmehr wurden [219] sie ins Gebirge zurückgedrängt; dabei mag der kana'anaeische Clan Jebûs, der oben auf dem Kamm in Jerusalem saß, eingewirkt haben. So haben die Daniten schließlich dies Gebiet geräumt und auf einem Raubzug nach Norden die Phoenikerstadt Laiš an den Jordanquellen überfallen und sich hier angesiedelt als ein selbständiger kleiner Räuberstamm, »eine Schlange am Wege«, wie es im Segen Jakobs heißt, »eine Viper an der Heerstraße, die das Roß in die Hufe beißt, daß der Reiter rückwärts abstürzt«. Die göttliche Hilfe, auf die dieser Spruch hofft, ist nicht ausgeblieben; als »jungen Löwen, der aus Bašan hervorspringt«, schildert ihn der Segen Moses504.

In derselben Weise haben sich die Kana'anaeer505 in der Senkung behauptet, die sich nördlich vom Karmel durch das Qîšontal und die Ebene Jezre'-el bis zum Jordan hinzieht, mit [220] den in der Ägypterzeit oft genannten Festungen Megiddo, Ta'anak, Jibl'am, Betše'an, deren kriegsgeübte, mit Streitwagen ausgerüstete Mannschaften zu bewältigen Kraft und Organisation der Israeliten nicht ausreichten. In dem in zahlreiche Kuppen aufgelösten bewaldeten Berglande im Norden dieser Ebene treffen wir wieder israelitische Ansiedler. Der Stamm, der hier in der Ebene und um den Berg Tabor saß, trägt den seltsamen Namen Išsakar506 »Lohnmann« (Dienstknecht); das erklärt sich durch den Spruch im Segen Jakobs: »Išsakar ist ein knochiger Esel, der zwischen den Pferchen lagert; und da er sah, daß die Ruhe gut und das Land angenehm war, beugte er seinen Rücken zum Lasttragen und wurde zum Fronarbeiter«. Da wird der Hergang völlig deutlich: es sind Leute, die sich, da ihnen die Heimat kein Auskommen bot, auf dem Boden der kana'anaeischen Städte als Knechte verdingt haben; danach hat der Verband, in dem sie sich unter der fremden Oberhoheit organisierten, seinen Namen erhalten. In dieser Weise mag die Entstehung und Ausbreitung der israelitischen Stämme garnicht selten verlaufen sein.

An Išsakar schließen weiter nördlich die Stämme Zebûlon (wohl nach einem Häuptling benannt) sowie Naphtali und Ašer, beides Landschaftsnamen. Ašer, der Name des Hinterlandes der phoenikischen Küste bis nach Tyros hinauf, ist schon in vorisraelitischer Zeit nachweisbar507. Auch hier gab es nicht wenige Städte, in denen die Kana'anaeer sich unabhängig behaupteten; von Ašer und Naphtali heißt es daher mit Umkehrung der sonst gebrauchten Wendung, daß sie »inmitten der das Land bewohnenden Kana'anaeer saßen«. Eine Sage erzählt von einem König Jabîn von Chaṣor, der aus den Amarnabriefen bekannten Bergfeste in Obergalilaea, der von Naphtali und Zebûlon besiegt [221] wird508; derartige Kämpfe mögen öfter vorgekommen sein. Von den phoenikischen Seestädten dagegen war das Hinterland wirtschaftlich völlig abhängig; vielfach wird die junge Mannschaft, wie im Deboralied den Daniten vorgeworfen wird, in die Fremde auf die Schiffe gegangen sein, sich also als Ruderknechte verdingt haben. So kam vom Gewinn des Seehandels manches auch in diese Bergstämme; in den Segensprüchen werden sie daher als gesegnet und üppig gepriesen.

Östlich vom Jordan saß der Stamm R'uben, der einmal größere Bedeutung gehabt haben muß, da er im Stammbaum als der älteste der Söhne Israels gilt. Aber er ist früh verkümmert und hat sich in der Königszeit schließlich aufgelöst509; ob er in der späteren Überlieferung mit Recht auf die Hochfläche östlich vom Toten Meer bis zum Arnon gesetzt wird, die dann zwischen Moab und Israel streitig ist, läßt sich nicht entscheiden. Neben R'uben nennt das Deboralied jenseits des Jordan den Stamm Gil'ad; sonst ist dies der Name der Landschaft, während der Stamm Gad heißt510, so auch bei Meša'. Aus diesem Gebiet stammen, soweit wir sehn können, die mit den Kultstätten von Machanaim und Pnu'el verbundenen Sagen vom Heros Jakob und seinem Bruder Esau, die die Israeliten übernommen haben; [222] den Jakob haben sie ihrem Ahnherrn Israel gleichgesetzt. Das weist auf alte und enge Beziehungen, wenn auch die Annahme, daß sie von hier aus ins Westjordanland eingedrungen seien, immer problematisch bleibt. In geschichtlicher Zeit stehn die Israeliten im Ostjordanlande im Kampf mit den von Osten und Süden gegen sie andrängenden Stämmen der 'Ammoniter und Moabiter511. Weiter im Norden dagegen hat sich der Stamm Makîr oder Manasse weithin über den Jordan nach Bašan und dem Ḥaurângebirge ausgebreitet; dazu gehörte vor allem der große Clan Ja'îr, viehzüchtende Halbnomaden, für die als charakteristisch angeführt wird, daß sie in Zeltdörfern wohnen. Eine Schranke setzte ihnen dann das Vordringen der Aramaeer.

Die durch die Ausbreitung der Israeliten veranlaßte Entstehung dieser Stämme wird ins 13. und spätestens in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts fallen, also in eine Zeit, wo Palaestina noch zum ägyptischen Reich gehörte; dabei ist indessen zu beachten, daß die ägyptische Herrschaft in den wirren Jahren nach Merneptaḥ, als sich zeitweilig der Choriter Arsu des Reichs bemächtigte, längere Zeit hindurch tatsächlich völlig unterbrochen gewesen sein muß.

Die Gestaltung der Stämme512 ist, den Verhältnissen eines Bauernvolks entsprechend, durchaus aristokratisch. Der Stamm besteht aus den wehrhaften Grundbesitzern, den gibborê chail, die das Aufgebot und die Stammversammlung bilden; die Besitzlosen, Tagelöhner und Knechte, gelten, auch wenn sie persönlich frei sind, nicht als Stammgenossen, sondern nur als Beisassen oder Klienten (gêrîm). Bei den Oberhäuptern der großen Familien oder Geschlechter, den »Gewaltigen« (addîrîm) liegt in [223] Krieg und Frieden die Leitung; aus ihnen gehn die Richter und Heer führer hervor, sie tragen den Stab und gehn nicht zu Fuß, sondern reiten auf hellfarbigen Eselinnen, in ihrem Hausrat finden sich einzelne Prunkstücke wie etwa eine kostbare Trinkschale. Nach außen tritt der Stamm als Einheit auf, er berät und beschließt in Versammlungen, er übt die Gerichtsbarkeit über seine Angehörigen aus, er kann sich ein Oberhaupt bestellen – daher wird die Bezeichnung des Stammes als »Stab, Szepter« stammen. Aber dauernd oder gar erblich, wie in dem Königtum der kana'anaeischen Städte, ist dies Amt nicht; und oft genug wird es vorgekommen sein, daß ein Geschlechtshaupt an der Spitze seiner Sippen oder seiner Tausendschaft auf eigene Faust in den Kampf zog.

Trotz der Bildung der einzelnen Stämme blieb der Zusammenhang des Gesamtvolks im Bewußtsein lebendig; er lebte fort in dem Namen des Volks und seines Gottes und auch in dem Gegensatz gegen die entweder unterjochte oder feindliche ältere Bevölkerung. Man fühlte auch die Verpflichtung, den Brüdern in der Not Hilfe zu leisten. Aber es fehlte jedes Organ, um eine Gesamtaktion hervorzurufen und zu leiten; jede Gruppe handelte für sich nach ihren Sonderinteressen, und so mochte das Volk in arge Bedrängnis geraten, wenn die kana'anaeischen Städte sich zusammenschlossen: die Frage, ob die Israeliten oder die Kana'anaeer die Herren des Landes werden würden, war noch nicht entschieden.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 217-224.
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