Dritter Abschnitt
Angriffe der Sozialphilosophie auf die Grundlagen der wirtschaftlichen Rechtsordnung

[447] Der Widerspruch zwischen dem von der philosophischen Staatslehre aufgestellten Ideal der sittlichen und geistigen Entfaltung der Persönlichkeit und der durch den Besitz und seine Verteilung bedingten, zu den schwersten Versuchungen führenden Ungleichheit der Lebenslagen, die Unvereinbarkeit des die Gesellschaft beherrschenden Egoismus der materiellen Interessen mit den sittlichen Ideen, die nach den Forderungen derselben Staatslehre in Staat und Recht zur Verwirklichung gelangen sollen, all das hätte keinen schärferen Ausdruck finden können, als in dem Nachtgemälde, welches hier Plato von der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung seines Volkes entworfen hat.

Allerdings treten in diesem sozialpolitischen Zeitbild eben nur die [447] Mißstände der kapitalistischen Geldwirtschaft und diese in grellster Beleuchtung hervor; auch fehlt es nicht an tendenziösen Übertreibungen. Aber man wird solche Einseitigkeit nur zu begreiflich finden, wenn man sich angesichts der tatsächlichen Übelstände der Zeit in die Empfindungen hineinversetzt, welche den philosophischen Denker auf der reinen Höhe sozial-ethischer Weltanschauung gegenüber dem materialistischen Egoismus und staatsfeindlichen Individualismus der Zeit erfüllte.

Die hellenische Staatslehre hat wahrlich des Großen genug für alle Zeiten geleistet, indem sie diesem extremen Individualismus eine wahrhaft soziale Auffassung entgegenstellte, welche die Freiheits- und Eigentumsfragen aus den Bedingungen des Gemeinschaftslebens heraus zu entscheiden suchte und damit ein Ziel aufstellte, zu dem wir selbst uns nur mühselig durchzuringen vermochten. Das 4. Jahrhundert v. Chr. hat uns den Kampf vorgekämpft, in welchem wir selbst mitteninnestehen.122 Es hat einen guten Teil der Geisteswaffen geschmiedet, deren wir uns heute noch wie damals in diesem Kampfe bedienen.

Wenn die hellenische Sozialphilosophie in dem großen Prinzipienstreit zwischen Individualismus und Sozialismus das rechte Mittelmaß zwischen den Extremen nicht zu finden vermochte und teilweise selbst wieder zu extremen und utopischen Forderungen gekommen ist, so hat gewiß das Jahrhundert, in welchem Sozialismus und Kommunismus eine »konstante Erscheinung« geworden sind,123 ohne daß eine Ausgleichung gefunden wäre, keine Veranlassung, auf das Zeitalter Platos und Aristoteles' geringschätzig herabzusehen, deren sozialpolitische Spekulationen um nichts utopischer sind, als die des modernen Sozialismus. So wie die Dinge lagen, konnte es eben auch damals nicht ausbleiben, daß der unvermeidliche heftige Rückschlag gegen die Einseitigkeiten einer hochgesteigerten materiellen Kultur, gegen die sozialen Disharmonien einer kapitalistischen Wirtschaftsepoche zu prinzipiellen Angriffen auf die Grundlagen dieser kapitalistischen Volkswirtschaft führte.

[448] Man empfand es in den Kreisen aller tiefer Denkenden auf das schmerzlichste, daß gerade der durch die Entwicklung der kapitalistischen Geldwirtschaft herbeigeführte materielle Fortschritt für die idealen, ethischen Interessen vielfach Rückschritt und Verfall bedeutete. Was lag da näher, als der Gedanke, daß eben in diesem materiellen Fortschritt und in der Entwicklung des Reichtums an und für sich schon die Ursache aller sozialen Krankheitserscheinungen zu suchen sei? Unter dem übermächtigen Eindruck, den die Erkenntnis des unleugbaren Zusammenhanges zwischen diesen Erscheinungen einerseits und dem Kapitalismus und dem Pauperismus anderseits auf die Gemüter hervorbrachte, traten andere, für die Beurteilung der Dinge nicht minder bedeutsame Momente unwillkürlich in den Hintergrund. Man übersah, daß die Wurzeln des Guten und Bösen unendlich viel tiefer liegen, als in irgendeiner Verfassung der Volkswirtschaft, daß die Quellen des physischen und moralischen Elends unerschöpflich sind. Und so machte man denn für die Schattenseiten des sozialen Lebens der Zeit allzu einseitig jenes wirtschaftliche Moment verantwortlich, welches so viele moralisch und materiell in Fesseln schlug, d.h. eben das Kapital.

Indem man aber so von einer einseitig ökonomischen Beurteilung der sozialen Zustände ausging und daher nicht minder einseitige Hoffnungen für Menschenglück und Menschenwohl an die heilende Kraft einer Umgestaltung der Wirtschaftsordnung knüpfte, schritt die Theorie zuletzt bis zu einem radikalen Bruch mit dem Bestehenden fort. War die letzte Ursache aller sozialen Übelstände der Gegensatz von arm und reich, so ergab sich für eine idealistische Gesellschaftsphilosophie die Forderung ganz von selbst, daß die bestehenden Formen des Kapitalerwerbes und die Grundlagen der Kapitalbildung, aus denen sich dieser Gegensatz täglich neu erzeugte, zu beseitigen und durch andere zu ersetzen seien. Und so erhob sie grundsätzlich Widerspruch gegen die herrschende Auffassung des Institutes des Privateigentums und das ganze Eigentums- und Verkehrsrecht. Ein Widerspruch, der im einzelnen ja vielfach das Richtige traf, aber doch – bei der Einseitigkeit des Ausgangspunktes – in der Verfolgung einer an sich berechtigten Tendenz viel zu weit führte.

War durch die entwickelte Geldwirtschaft das Privateigentum an beweglichen und unbeweglichen Gütern auf das schärfste ausgebildet und der menschlichen Selbstsucht reichste Gelegenheit geschaffen worden, sich zur Geltung zu bringen, so führte jetzt der Rückschlag gegen die[449] auflösenden Wirkungen dieser individualistischen Tendenzen zu einer Überspannung des Sozialprinzipes, zu dem Verlangen nach einer Fesselung des Privateigentums und des Einzelwillens, welche nicht nur einem unsittlichen Egoismus, sondern auch dem legitimen Erwerbstrieb und damit der Kapitalbildung überhaupt die weitgehendsten Schranken auferlegt hätte. Und wenn sich insbesondere als das Resultat des entfesselten Interessenkampfes eine starke Ungleichheit der Vermögensverteilung ergeben hatte, so trat man jetzt den auf dem Boden dieser Ungleichheit entstandenen Disharmonien nicht nur mit der Forderung einer gerechteren, der harmonischen Ausgestaltung des Volks- und Staatslebens günstigeren Vermögensverteilung entgegen, sondern man ging in der Überspannung dieser an sich ja tiefberechtigten Forderung so weit, eine möglichste Nivellierung der wirtschaftlichen Unterschiede überhaupt zu verlangen.

So, meinte man, würde das Privateigentum seiner antisozialen Wirkungen entledigt und der Widerstreit der individuellen Interessen gegen die der Allgemeinheit in die engsten Grenzen gebannt werden.

Wie hätte man aber hoffen dürfen, das genannte Ziel vollkommener zu erreichen als dadurch, daß man die letzten Konsequenzen jenes ganzen Ideenganges zog und bis zur Negation des Privateigentums selbst fortschritt?

Solange ein Privateigentum an den wirtschaftlichen Gütern besteht, solange wird ja immer demjenigen Teile der Gesellschaft, dem ein solches Eigentum zufällt, ein anderer gegenüberstehen, der sich von demselben ausgeschlossen sieht. Wer daher schon den bloßen Nichtbesitz ebenso als ein soziales Krankheitssymptom ansah,124 wie die Konzentrierung des Besitzes, wer die Entartung des Erwerbstriebes und des Selbstinteresses schon im Keime verhindern wollte, der mußte dem Urgrund aller Besitzlosigkeit, dem Besitze selbst den Krieg erklären; sein Ideal mußte ein Zustand der Dinge sein, in welchem es ein persönliches Eigentum überhaupt nicht mehr gibt.

Als der erste Theoretiker, welcher sich grundsätzlich gegen die wirtschaftliche Ungleichheit aussprach, erscheint für uns Phaleas von Chalcedon. Er gehörte nach Aristoteles zu denjenigen, welche in dieser Ungleichheit die eigentliche Ursache aller bürgerlichen Zwietracht sahen125[450] und von ihrer Beseitigung126 zugleich eine durchgreifende Hebung der Volkssittlichkeit erwarteten,127 wenigstens eine Beseitigung der Eigentumsfrevel, die in der bestehenden Gesellschaft durch »Frost und Hunger« hervorgerufen werden.128

An Phaleas reiht sich unmittelbar Plato an. Er sagt: »Niemand ist freiwillig schlecht. Die Sünde ist das Produkt schlechter physischer Beschaffenheit oder mangelhafter Erziehung und Bildung.«129 D. h. sie ist für ihn, da beides mit der Lebenslage eng zusammenhängt, eine Krankheitserscheinung, die ganz wesentlich sozial und wirtschaftlich verursacht ist. Daher charakterisiert sich sein philosophischer Standpunkt vor allem durch die Energie, mit der er der vulgären Auffassung entgegentritt, als bestände eine der wichtigsten Aufgaben der Politik in der Fürsorge für die möglichste Steigerung des Reichtums.130 Die wahre Staatskunst erstrebt nach seiner Ansicht das Glück und, da wirkliches Glück nicht ohne Tugend erreichbar ist, die Sittlichkeit der Bürger.131 Steigerung des Reichtums bedeutet also an sich noch keine Steigerung des Glückes, wenn die, welche ihn besitzen, nicht zugleich sittliche Menschen sind. Ist das aber gerade von dem Reichen zu erwarten? Plato glaubt diese Frage überall da verneinen zu müssen, wo der in einer Hand vereinigte Besitz ein gewisses Maß überschreitet. Nach seiner Meinung kann der Besitzer außerordentlichen Reichtums kaum ein wahrhaft sittlicher Mensch sein.132 Denn wer einerseits alle unsittlichen und unehrenhaften Wege der Bereicherung strenge meidet und anderseits der dem Besitz obliegenden Pflicht zu Opfern für »edle und gute« Zwecke (καλὰ ἀναλώματα)133 gerecht wird, bei dem[451] wird es schwerlich zur Aufhäufung übermäßiger Schätze kommen.134 Überhaupt besteht zwischen Reichtum und Sittlichkeit von Natur ein solcher Antagonismus, als lägen beide in den Schalen einer Wage und zögen stets nach entgegengesetzten Richtungen.135

Der Reichtum wirkt nachteilig durch die Begünstigung von Schwelgerei, Müßiggang und Neuerungssucht, er vernichtet den Geist der sittlichen Selbstbeschränkung;136 seine unvermeidliche Kehrseite dagegen, die Dürftigkeit, erzeugt Umsturzbegierden, Gemeinheit der Gesinnung (ἀνελευϑερία)137 und treibt die Seelen der Menschen durch das Elend zur Schamlosigkeit138 oder zu sklavischer Unterwürfigkeit.139 Selbst die wirtschaftlichen Interessen des Volkes leiden unter beiden Extremen. Denn der reich gewordene Gewerbsmann will nicht mehr arbeiten und der in Arbeit verkommende kann es nicht in entsprechender Weise, weil ihm die unentbehrlichen Voraussetzungen für den genügenden Betrieb seines Handwerkes fehlen.140 Das Schlimmste aber ist der Klassenhaß und der Bürgerkrieg, welcher das letzte Ergebnis des Gegensatzes von arm und reich zu sein pflegt.141

Die Gesellschaft fällt schließlich in zwei feindliche Hälften auseinander, oder, um mit Plato zu reden, der Staat in zwei Staaten, den der Armen und der Reichen, die sich gegenseitig nicht mehr verstehen und mit unversöhnlichem Hasse verfolgen.142 Es erwächst, wie wir sagen würden, in dem Proletariat eine eigne soziale Gruppe, die dem Interesse des Ganzen ihr besonderes Klasseninteresse und ihre besonderen Klassenforderungen gegenüberstellt. Das Ziel dieser Forderungen aber ist nichts Geringeres, als der Besitz der politischen Macht, um die Gesamtheit zugunsten der »Bettler und Hungerleider« zu plündern. Die öffentliche Gewalt wird so Gegenstand eines unaufhörlichen Kampfes, der zuletzt die Kämpfenden selbst und mit ihnen den Staat zugrunde richtet.143

[452] Will daher der Staat dieser »schlimmsten Krankheit« (μέγιστον νόσημα) entgehen, so wird er weder die Entstehung großen Reichtums, noch drückender Armut (πενία χαλεπή) zulassen.144 Überhaupt erscheint der »Kampf gegen Armut und Reichtum« als eine der wichtigsten Aufgaben aller Gesetzgebung.145 Dieser Kampf gilt insbesondere dem vom Kapitalismus unzertrennlichen Drohnentum, welches »überall, wo es auftaucht, zerrüttend wirkt wie Galle und Schleim im Körper«. – »Gegen diese Drohnen muß der Arzt oder Gesetzgeber des Staates ebensogut wie der verständige Zeidler frühzeitig sich vorsehen, am besten damit sie sich nicht einnisten, nisten sie sich aber ein, damit sie schleunigst zusamt den Waben herausgeschnitten werden.«146

In allen wesentlichen Punkten stimmt mit der entwickelten Grundanschauung Platos der Standpunkt seines größten Schülers überein. Sowenig Aristoteles die Ansicht teilt, als sei in dem wirtschaftlichen Güterleben und in dem Eigentumsrecht die alleinige Ursache des sittlichen und materiellen Elends der Gesellschaft zu suchen, so ist doch auch er hinter den genannten wirtschaftspolitischen Forderungen der älteren Theorie nicht zurückgeblieben. Auch er will der Vermehrung der Gütererzeugung prinzipiell eine Grenze gesetzt wissen. Er unterscheidet den »wahren« Reichtum, der nur die für die staatliche und häusliche Gemeinschaft »notwendigen und nützlichen« Güter umfaßt, von dem vulgären Begriff des Reichtums, dem »kein Ziel, erkennbar den Menschen, gesteckt ist«.147 Jene Verschönerung und Vervollkommnung des Lebens, in der er das Wesen des Glückes erblickt, bedarf nur eines bescheidenen Maßes äußerer Güter und sinnlicher Genüsse, und eine Überschreitung dieses Maßes kann nach seiner Ansicht das wahre Glück des Menschen nur gefährden. Aristoteles verwirft daher von vorneherein jene kapitalistische Spekulation, jene Chrematistik, welche die Schuld trägt, daß es für Reichtum und Erwerb nicht Maß und[453] Ziel zu geben scheint.148 Und er bleibt bei dieser prinzipiellen Negation nicht stehen!

Da eine freiwillige Selbstbeschränkung der einzelnen – zumal auf dem Gebiete der Geldspekulation – nicht zu erwarten ist, so verlangt er, daß die Gesetzgebung im Sinne wirtschaftlicher Ausgleichung dem Erwerbstrieb die entsprechenden Schranken setze. Der Staat darf das »unverhältnismäßige Emporkommen« einzelner149 nicht dulden; er muß durch seine Gesetzgebung präventiv dahin wirken, daß es überhaupt zur Ansammlung übermäßigen Reichtums in einzelnen Händen (zu einer ὑπεροχὴ πλούτου) nicht komme,150 ebenso dahin, daß auch das entgegengesetzte Extrem, unverhältnismäßige Armut, verhütet werde. Es darf keinen Besitz geben, der so groß ist, daß er Üppigkeit erzeugt, oder so klein, daß er zum Darben führt.151 Denn »die Armut erzeugt Aufruhr und Verbrechen«.152 Ja vom Standpunkt des besten Staates hat Aristoteles wenigstens in Beziehung auf das Eigentum an Grund und Boden geradezu das Prinzip völliger Besitzes gleichheit als eine Forderung der Gerechtigkeit aufgestellt.153

Am schärfsten hat endlich den prinzipiellen Gegensatz gegen den Kapitalismus die Ethik der cynischen Schule formuliert. »In einem reichen Staat, wie in einem reichen Haus«, sagt Diogenes, »kann die Tugend nicht wohnen.«154 Die Liebe zum Besitz ist für ihn »die Mutterstadt aller Übel«.155 Von Natur, sagt ein späterer Anhänger dieser Ethik, sind die Menschen zur Tugend geschaffen, die meiste Unsittlichkeit stammt aus dem Reichtum; zahllose Übel wären nicht, wenn der Reichtum nicht wäre.156

[454] Ebenso ist es nur die Wiederholung von Ideen aus der Gedankenwelt dieser Epoche, wenn in Plutarchs Biographie des Lykurg157 und des Königs Kleomenes158 Reichtum und Armut schlechthin – nicht bloß ein Übermaß – als Grundübel und schlimmste Krankheitsformen der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet werden, deren Heilung als das höchste Problem für den wahrhaft großen Staatsmann erscheint.

Was nun die in solchen Anschauungen wurzelnde Kritik der Institutionen betrifft, aus denen sich Mammonismus und Pauperismus, das sittliche und materielle Elend immer wieder von neuem erzeugt, so richten sich die Angriffe des Sozialismus hauptsächlich auf drei Einrichtungen der bestehenden Gesellschaft: das Institut des Privateigentums, den Gebrauch des Geldes und den Handel.

Plato erhoffte noch in der Zeit, als er den »Staat« schrieb, von einer Rechtsordnung, welche mit dem Privateigentum gebrochen, eine vollkommene Verwirklichung des sozialen Friedens. Er bezeichnet es als ein »Auseinanderreißen der bürgerlichen Gemeinschaft« (διασπᾶν τὴν πόλιν), wenn der eine das, der andere jenes sein Eigen nennt, wenn jeder sich in dem ausschließlichen Besitz einer Behausung befindet, in welcher er alles zusammenraffen kann, was er irgend vor den anderen zu erwerben vermag: ein Erwerb, der das Individuum isoliert, weil sein Ergebnis, der Alleinbesitz, nur solche Empfindungen, sei es der Lust oder des Leides, erregt, die von dem einzelnen allein empfunden werden. Gegenüber dieser Isolierung durch das Privateigentum ist Platos Ideal ein Zustand völliger Gemeinschaft der Güter, damit alle »möglichst denselben Schmerz und dieselbe Freude teilen«.159 Ein solcher Zustand, wo niemand etwas für sich besitzt, würde nach Platos Ansicht die Befreiung von all dem Kampf und Streit bedeuten, der um des Besitzes irdischer Güter willen geführt wird.160

Allerdings war Plato von Anfang an überzeugt, daß so, wie die große[455] Mehrzahl der Menschen nun einmal ist, dieser ideale Kommunismus nur annähernd zu verwirklichen sei; und später hat er bekanntlich auch diese Hoffnung wesentlich herabgestimmt.161 Allein die Art und Weise, wie er auch da noch in den unvermeidlichen Konsequenzen des Privateigentums, in der zunehmenden wirtschaftlichen Differenzierung der Gesellschaft die Erklärung für den Verfall der Sittlichkeit suchte, beweist zur Genüge, daß er sich innerlich niemals mit dem Institute ausgesöhnt hat.

Überaus bezeichnend ist in dieser Hinsicht seine Lehre von dem sozialen Frieden und der sittlichen Reinheit des primitiven Naturzustandes, die er – wie wir sahen – noch in seinem letzten Werke vertrat.162

Diese sozialistische Lehre vom Naturzustand ist die völlige Umkehrung der früher erwähnten rein individualistischen Auffassung des Naturzustandes als des rücksichtslosen Gewalt- und Überlistungskrieges der Starken gegen die Schwachen. Doch stimmt sie mit dieser letzteren insoferne überein, als auch sie aus ihrer Anschauung über das wahrhaft Naturgemäße unmittelbar praktische Konsequenzen für die Gestaltung der gegenwärtigen Gesellschaft zieht. Freilich in durchaus entgegengesetztem Sinn! Während der Individualismus den freien Konkurrenzkampf als eine Forderung des Naturrechtes proklamierte, will der naturrechtliche Sozialismus Platos im Gegenteil die möglichste Beseitigung der Rivalität, des Wettstreites um die wirtschaftlichen Güter, in welchem er nur eine Quelle sittlichen Elends und sozialen Unfriedens zu erblicken vermochte.

Offenbar von diesem Gesichtspunkt aus meint Plato, indem er an die volkstümliche Auffassung des unschuldvollen Naturzustandes als eines goldenen Zeitalters unter der Herrschaft des Kronos anknüpft, daß für die bürgerliche Gesellschaft der einzige Weg aus Unheil und Elend darin besteht, daß sie »auf alle mögliche Art die Lebensweise, wie sie nach der Sage unter Kronos bestanden, nachahme, und dem, was sich Unsterbliches in uns befindet (d.h. der Vernunft) gehorsam das häusliche und öffentliche Leben zu gestalten sucht, als Gesetz vorzeichnend, was die Vernunft festsetzt.«163

[456] Daß die Verwirklichung dieses Vernunftrechtes, welches so zugleich als das wahrhaft naturgemäße Recht erscheint, einen radikalen Bruch mit dem Bestehenden bedeuten würde, wird von Plato selbst an de genannten Stelle unzweideutig ausgesprochen. Im Rahmen der Staats- und Gesellschaftsordnung der Wirklichkeit, über welche nicht das Vernunftsrecht waltet, sondern das »endlose und unersättliche Übel« (ἀνήνυτον καὶ ἄπληστον κακὸν νόσημα) menschlicher Begierden, gibt es nach Plato kein Mittel der Rettung (σωτηρίας μηχανή).164 Der Absolutismus des Naturrechtes und der unverfälschten Natursittlichkeit tritt den vermeintlich künstlichen Ordnungen der verfälschten Wirklichkeit hier ebenso schroff ablehnend gegenüber, wie in der neueren Philosophie. An Stelle des schlechten von der Selbstsucht und der Unwissenheit diktierten positiven Rechtes soll ohne weiteres das durch die Vernunft gefundene Naturrecht zum staatlichen Gesetze werden.

In der Lehre vom Naturzustand hatte der Sozialismus das geistige Rüstzeug gefunden, mit dem er die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu überwinden gedachte. Wurde diese Lehre anerkannt, so hörte die ganze soziale Ordnung und das durch sie legitimierte Institut des Privateigentums auf, als etwas Unantastbares zu gelten. Die Gesellschaft und ihre Organisationsform selbst war als ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung erkannt und damit die Möglichkeit gegeben, den als soziales »Grundübel« proklamierten Gegensatz von arm und reich und alle seine Folgezustände als den Ausfluß der bestehenden sozialen und rechtlichen Verhältnisse hinzustellen, die grundsätzliche Umgestaltung der letzteren im Namen der Geschichte selbst zu fordern. Die große Frage nach der Möglichkeit und Durchführbarkeit einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die auf völlig anderen Grundlagen als die bestehende beruhte, war in bejahendem Sinne beantwortet.

Wenn auch Plato – wie gesagt – auf das Äußerste, auf die Beseitigung des Privateigentums tatsächlich verzichten gelernt hat, so erscheint doch angesichts der ganzen Art und Weise, wie er den Kommunismus wenigstens als Ideal festhielt, wie er noch in seinem letzten sozialpolitischen Werk das Privateigentum durch die möglichste Fesselung des Eigentumsgebrauches und des Erwerbstriebes unschädlich zu machen suchte, der prinzipielle Gegensatz gegen die ganze bisherige geschichtliche Entwicklung nirgends aufgegeben. Eine soziale Theorie,[457] welche den Wettstreit um den Erwerb des Eigentums, die Konkurrenz, in solchem Grade unterdrücken will, setzt sich mit den historischen Grundlagen der Gesellschaft kaum weniger in Widerspruch als der Kommunismus.

Es war ja an sich vollkommen gerechtfertigt, wenn Plato die entsittlichenden Wirkungen der Konkurrenz um den Geldvorteil, den Materialismus des Zeitgeistes und die Verdrängung der edleren Triebe durch die Pleonexie mit flammenden Worten geißelte. Man wird ihm auch zugeben müssen, daß eine Entwicklung der Gesellschaft, welche die Auswüchse dieses Kampfes wirksam beschränkt, in der Tat ein wünschenswertes Ziel ist. Die Bestrebungen der edelsten Geister der Gegenwart drängen ja ebenfalls auf dieses Ziel hin. Ich erinnere an die Idee des Schiedsgerichtes, welches den Antagonismus der wirtschaftlichen Parteien auf friedliche Weise auszugleichen sucht, an die weitergehende Idee der Kooperation, welche eine Interessengemeinschaft zwischen den am Produktionsprozeß Beteiligten – Unternehmern und Arbeitern – herstellen und so ein lebendiges Gefühl der Solidarität erzeugen will: Ideen, die, so neu sie sind, doch schon da und dort dem Prinzip des rücksichtslosen wirtschaftlichen Interessenkampfes Terrain abgewonnen haben.

So sehr nun aber in gewisser Hinsicht der hellenische Sozialismus mit seinem Kampf gegen die Entartung der Konkurrenz recht hat, so ist doch anderseits nicht minder gewiß, daß das von ihm aufgestellte Ideal eines konkurrenzlosen Zustandes eine reine Utopie und die reaktionäre Verherrlichung primitiver Gesellschaftszustände, abgestorbener volkswirtschaftlicher Lebensformen eine Verirrung ist.

Schon die geschichtliche Grundanschauung, die hier zum Ausdruck kommt, tut der Natur der Dinge Gewalt an. Nicht der Friede bildet den Ausgangspunkt der Entwicklung, sondern es sind im Gegenteil tierähnliche Daseinskämpfe gewesen, welche die Anfänge der Menschengeschichte beherrscht haben. Der primitive Mensch verstand noch viel zu wenig die Ausnützung des von der Natur Gebotenen, als daß er nicht durch den Erhaltungs- und Entfaltungstrieb zum Kampf um die Sicherung und Erweiterung der Existenzbedingungen getrieben worden wäre. Auch ist ja dieser Kampf die unentbehrliche Voraussetzung alles Kulturfortschrittes gewesen und wird innerhalb gewisser Schranken im Interesse der höchstmöglichen Kraftentwicklung des Menschen immer unentbehrlich bleiben.

[458] Denn in einer Gesellschaftsordnung, in welcher die aus der natürlichen Verschiedenheit der Individuen entspringenden Interessengegensätze überhaupt keinen Raum mehr für ihre Betätigung fänden, würde mit dem wirtschaftlichen Interessenkampf aller Wettstreit d.h. alles Wettstreben überhaupt und damit auch die Vervollkommnung der Gesellschaft wie der Individuen aufhören. Der Wettstreit ist die höchste Form der vervollkommnenden Auslese im Daseinskampf der Individuen.165 Das Prinzip der Kooperation und der Solidarität wird daher neben dem des Wettstreites immer nur eine relative Geltung beanspruchen können und im übrigen wird, was den letzteren selbst angeht, der Fortschritt darin zu suchen sein, daß der Wettstreit möglichst humane und edle Formen annimmt. Wer daher, wie der naturrechtliche Sozialismus der Griechen, das Heil der Gesellschaft in Zuständen sieht die eine radikale Unterdrückung des wirtschaftlichen Wettbewerbes bedeuten würden, der bekämpft zugleich den wirtschaftlichen Fortschritt und damit die höhere Zivilisation überhaupt.

In der cynisch-stoischen Auffassungsweise tritt das ja ganz deutlich zutage. Aber auch schon bei Plato sehen wir, daß er sich dieser Konsequenz keineswegs ganz entziehen konnte.

Zwar denkt er nicht entfernt daran, im Sinne cynisch-stoischer Ideale der Kultur seiner Zeit den Scheidebrief zu geben. Die Art und Weise, wie er einmal das Leben einer nach seiner Ansicht »wahrhaft gesunden« Gesellschaft schildert, ihre heitere Genügsamkeit und sinnvolle Selbstbeschränkung des Daseins,166 – ist doch wesentlich verschieden von der quietistischen und kulturfeindlichen Anschauungsweise derjenigen, welche die Gesellschaft am liebsten auf den Standpunkt von armen Wilden zurückgeschraubt hätten. Auch zeigt seine Forderung, durch eine weitgehende Arbeitsteilung die Leistungen der technischen Produktion möglichst zu steigern, daß ihm die Vervollkommnung der äußeren Lebensbedingungen keineswegs gleichgültig war, daß er dieselbe als die Grundlage alles höheren geistigen Aufschwunges sehr wohl zu schätzen wußte.

Allein es war doch anderseits die unvermeidliche Konsequenz der genannten Einseitigkeit in den sozial-ethischen Grundanschauungen Platos, daß die Frage des wirtschaftlichen Fortschrittes zuletzt doch auch bei ihm nicht zu ihrem Rechte kommt. Wo ein Gesichtspunkt alles andere[459] so sehr überragt, wie es bei dem hochgespannten ethischen Idealismus Platos der Fall ist, da müssen notwendig andere Interessen verhältnismäßig leiden, muß alles übrige Denken sich gleichsam unter die Herrschaft dieses einen Grundzuges beugen, von ihm das charakteristische Gepräge erhalten.167

Bezeichnend dafür ist die Art und Weise, wie in der Schilderung des Verfalles der ursprünglich gesunden Gesellschaft unter den Symptomen der Entartung neben den Äußerungen des Luxus und der Ausschweifung auch Errungenschaften der Kultur aufgezählt werden, die keineswegs an und für sich, sondern nur durch Mißbrauch zu einer Gefahr für das sittliche und physische Wohl werden können, und die Plato selbst sogar im idealen Vernunftstaat nicht alle auszuschließen vermag. Plato kann sich nicht genug tun, der Gesellschaft dasjenige, was ihm als Ursache ihres »Fieberzustandes« erscheint, bis ins einzelnste hinein vor Augen zu stellen: den Luxus, der für die prunkvolle Ausstattung der häuslichen Einrichtung und der Kleidung »die Malerei und die Buntfärberei in Bewegung setzt« und nur in der Verwertung des kostbarsten Materials, wie Gold und Elfenbein, sein Genügen findet, die sonstigen immer mannigfaltiger werdenden Befriedigungsmittel der Üppigkeit, Salben und Räucherwerk, Leckereien und Lustdirnen, – den »Schwarm überflüssiger Menschen«, wie Jäger aller Art (so!), nachbildende Künstler (μιμηταί), d.h. Bildhauer, Maler, Musiker; die Dichter mit ihren Handlangern, den Rapsoden, Schauspielern, Chortänzern usw.; die Bijouterie- und Putzwarenfabrikanten, Kinderaufseher, Ammen, Wärterinnen, Kammermädchen und Putzmacherinnen, Barbiere, Köche, Leckereienhändler usw.168 Diese höchst verschiedenartigen Elemente – der Künstler ebenso wie die Lustdirne, der Dichter wie der Lieferant gastronomischer Genüsse – sie alle werden hier zu einer einzigen homogenen Masse zusammengefaßt, die nur dazu geschaffen scheint, den Leidenschaften, dem Laster und der Torheit zu dienen, dem Materialismus zum Siege zu verhelfen, obgleich sonst Plato keineswegs verkennt, was z.B. die schönen Künste für die idealen Interessen zu leisten vermögen.

[460] Aber stärker als solche Erwägungen ist der düstere Eindruck, den der Mißbrauch der Kulturerrungenschaften, die wirtschaftlichen, sittlichen und politischen Gefahren der Luxusproduktion, sowie die Überschätzung der äußeren Güter auf das Gemüt des Denkers ausübte. Ich erinnere nur an die bereits in einem früheren Dialog ausgesprochene Verurteilung des perikleischen Athens und der ganzen Politik der Demokratie, welche die Stadt reichlich mit Häfen, Mauern, Werften, Tributen und anderem solchen »Tand« (τοιούτων φλυαριῶν) ausgestattet habe, statt mit dem Geiste der Besonnenheit und Gerechtigkeit!169

So wenig bedeuten von diesem Standpunkt aus die »sogenannten Güter«,170 daß Plato keinen Augenblick Bedenken trägt, um des sozialethischen Interesses willen Forderungen zu stellen, deren Verwirklichung die Produktivität der gesamten Volkswirtschaft auf ein um Jahrhunderte niedrigeres Niveau herabgedrückt hätte. Es genügt ihm, daß damit zugleich der Kreis der Güter beschränkt würde, an welchen sich Rivalität und Leidenschaft entzünden kann, daß die bürgerliche Gesellschaft gezwungen wäre, in Produktion und Konsumtion sich auf das wirklich »Notwendige« zu beschränken und allen überflüssigen, künstlichen Bedürfnissen zu entsagen, die jetzt die Gesellschaft in einen »Fieberzustand« versetzen.171

Diese Forderungen finden ihren Ausdruck zunächst darin, daß dem Ackerbau, überhaupt der Urproduktion, die erste Stelle hoch über allen anderen Erwerbszweigen angewiesen wird. Der Erwerb soll vor allem in dem gesucht werden, »was der Landbau hergibt und erzeugt«, weil dies den Erwerbenden nicht nötigen wird, »das zu vernachlässigen, um dessentwillen man Erwerbsucht, nämlich Seele und Leib«.172 Im Ackerbau liegt nach dieser Anschauung die beste Gewähr für die Erhaltung reiner und einfacher Sitte, während von Handwerk, Handel und Geldgeschäft schwere Nachteile für das physische und sittliche[461] Wohlsein befürchtet werden. Insbesondere ist es Geld und Handel, denen Plato als den Hauptursachen der Besitzesungleichheit, der sozialen Zersetzung und der Selbstsucht das größte Mißtrauen entgegenbringt.

Daher soll neben dem Ackerbau für die anderen Erwerbszweige nur so weit Spielraum übrig bleiben, als es unabweisbare Bedürfnisse notwendig erscheinen lassen. Es soll, wie Plato sich ausdrückt, »ein eifriger Erwerb durch handwerksmäßiges Treiben nicht stattfinden,«173 und ebenso soll der Stand der Handelsleute so wenig zahlreich sein, als nur immer möglich.174 Eine Forderung, die Luther in ähnlicher Unterschätzung der nichtlandwirtschaftlichen Erwerbstätigkeiten in die Worte gekleidet hat, daß es »viel göttlicher wäre, Ackerwerk mehren, diese feine und ehrliche Nahrung, und Kaufmannschaft mindern«.175

Auch diese feindliche Stellung gegenüber dem Handel ist die unvermeidliche logische Konsequenz der ganzen geschilderten Gedankenrichtung und findet sich daher zu allen Zeiten wieder, wo wir ähnlichen sozialpolitischen Ideen begegnen. Die Wirksamkeit des Eigennutzes würde in der Tat durch möglichste Annäherung an naturalwirtschaftliche Zustände bedeutend an Terrain verlieren. Wo man fast ausschließlich für sich und seine Familie arbeitet und in der Regel nicht mehr produziert, als man für seine Wirtschaft braucht, wo der einzelne überwiegend auf seine eigene Kraft und Leistung angewiesen ist und selten in die Lage kommt, die Arbeitsprodukte anderer durch Tausch in Anspruch zu nehmen, wo demnach der Verkehr noch unentwickelt ist, da ist der Spielraum für die Betätigung des wirtschaftlichen Egoismus naturgemäß ein mehr oder minder beschränkter.

Wenn dagegen der Handel und die Masse der zum Tausch geeigneten und bestimmten Güter zunimmt, wenn »dem Bauern der Händler gegenübertritt, dem Fremden der Fremde, jeder bedacht, so billig zu kaufen und so teuer zu verkaufen als möglich, ohne Rücksicht auf Nutzen oder Schaden des andern«, dann entwickelt sich jenes »versteckte Ringen in friedlicher Form«,176 welches recht eigentlich unter[462] dem Bann des Egoismus steht. Während die Tätigkeit des für sich selbst arbeitenden Landwirtes, Viehzüchters usw. dem einzelnen Volteile schafft, ohne daß sie einem anderen Schaden zu bringen oder mit dessen Interessen zu kollidieren braucht, entsteht mit dem Handelsgeschäft eine wirtschaftliche Tätigkeit, welche sich stets mit dem wirtschaftlichen Streben anderer kreuzt. Jeder wünscht hier – soweit die Durchschnittsmoral in Betracht kommt – soviel als möglich für sich selbst zu gewinnen, unbekümmert darum, wieweit das Interesse des anderen dabei Befriedigung findet oder nicht. Auch zeigen ja die Erfahrungen aller höheren Kulturepochen unzweideutig genug, daß die durch die merkantile und industrielle Entwicklung gesteigerte Intensität des Lebens infolge der Verallgemeinerung und Verschärfung des Kampfes um die Existenz und um die Erhöhung der Existenz auch die egoistischen Triebkräfte zu steigern, die Selbstsucht intensiver uni rücksichtsloser zu machen pflegt.177

Soll daher ohne Rücksicht auf andere Kulturinteressen alles der Gerechtigkeitsidee Widerstrebende möglichst ausgemerzt, der Spielraum des Egoismus im Wirtschaftsleben möglichst eingeengt werden, so bleibt nichts übrig als die wirtschaftliche Reaktion oder die Beseitigung des privatwirtschaftlichen Handelsbetriebes oder mindestens der Freiheit des Tauschgeschäftes.

Trotzdem hat sich Plato auf die Dauer wenigstens die weitestgehende dieser Schlußfolgerungen eines sozialethischen Radikalismus nicht angeeignet. Der Gedanke späterer Sozialisten an einen Zustand, in welchem durch staatliche Organisation der Volkswirtschaft oder unmittelbaren Verkehr zwischen Produzent und Konsument die volkswirtschaftliche Funktion des Handels gänzlich überflüssig werden soll, ist von Plato wenigstens nirgends positiv ausgesprochen worden. Wenn auch in dem von kommunistischen Ideen erfüllten Entwurf des Idealstaates seine Gedanken sich entschieden in dieser Richtung bewegen,178 so findet sich doch selbst hier eine Ausführung, welche die Institution des Handels in ihren geschichtlichen Entstehungsmotiven mit großer[463] Unbefangenheit würdigt.179 Jedenfalls kann in dem späteren Werke, in den »Gesetzen«, in welchem er von vornherein am Privateigentum und an der privatwirtschaftlichen Produktionsweise festhält, von jener radikalen Forderung nicht die Rede sein.

Plato, der bei seiner hohen Wertschätzung der Arbeitsteilung180 gerade die Spezialisierung der verschiedenen Produktionszweige möglichst strenge durchgeführt wissen wollte, konnte sich unmöglich der Einsicht verschließen, daß es bei der Fortdauer des bloßen Tauschhandels eben durch diese von ihm geforderte Spezialisierung für den einzelnen Produzenten immer schwieriger werden müßte, stets diejenigen Konsumenten zu finden, die Bedarf nach seiner Ware haben und zugleich als Produzenten in der Lage sind, eine wertentsprechende Ware seines eigenen Bedarfes in Tausch zu geben. Daraus ergab sich für Plato von selbst die Anerkennung der Unentbehrlichkeit eines vermittelnden Organes, welches dem Produzenten seine Erzeugnisse auf Vorrat abnimmt und so in der Lage ist, einem jeden als Konsumenten die Gegenstände seines Bedarfes in Tausch zu geben.181 Er erklärt von diesem Gesichtspunkte aus den Handel geradezu als eine Wohltat für die Gesellschaft, weil »er den unverhältnismäßigen und ungleichförmigen Besitz beliebiger Waren zu einem verhältnismäßigen und gleichförmigen umgestaltet«,182 weil er »allen Bedürfnissen abhilft und eine Gleichmäßigkeit des Besitzes herbeiführt«.183

So klar sich nun aber Plato über die Funktionen war, welche der Handel als Organ einer auf dem Privateigentum beruhenden Volkswirtschaft auszuüben berufen ist, so entschiedenen Widerspruch erhob er anderseits gegen diejenigen Zwecke, welche der Handel neben seiner eigentlichen Aufgabe, der Vermittlung zwischen Produktion und Konsumtion, von dem privatwirtschaftlichen Standpunkt des einzelnen aus zu befriedigen sucht.

[464] Wie später die Kanonisten, die Reformatoren, Fourier und andere Sozialisten wirft er die Frage auf: Ist es zulässig, daß der Kaufmann in Wirklichkeit keineswegs bloß als Organ zur Erreichung dieses allgemeinen Zweckes tätig sein will, sondern einseitig sich selbst als Zweck setzt und »in schimpflicher Weise den dem dringenden Bedürfnis geleisteten Beistand«184 zum Werkzeug des Privateigentums herabwürdigt? Dürfen die Handeltreibenden aus dem Handel ein Geschäft machen, bei dem es ihnen in erster Linie um ihre eigene Bereicherung, nicht um die Befriedigung der Bedürfnisse zu tun ist?

Indem Plato diese Tendenz des Handels prinzipiell verwirft und jede Handelstätigkeit unterdrückt wissen will, bei der es auf »Bereicherung« abgesehen ist und nur gekauft wird, um teurer zu verkaufen,185 stellt er die Forderung auf, daß bei allem Kauf und Verkauf der Preis einfach nach dem bestimmt werden soll, was er – allerdings ohne nähere Begriffsbestimmung – den »wahren Wert« nennt.186 Diesen wahren Wert, die objektive Gerechtigkeit des Preises, zu realisieren ist Sache der Staatsgewalt, welche sich zu dem Zweck mit Sachverständigen aus dem Handels- und Gewerbestand ins Benehmen zu setzen hat, denen die Bestimmung des wahren Wertes nach Platos Ansicht keine Schwierigkeit machen kann.187

Seines spekulativen Charakters völlig entkleidet, soll so der Handel zu einer Art Amt werden, das gewisse volkswirtschaftliche Aufgaben dem Bedürfnis der Gesamtheit entsprechend durchzuführen hat und sich[465] mit dem begnügt, was ihm die Allgemeinheit für die Ausübung dieser Funktionen wie eine Art Gehalt zuerkennt.

Auf diese Weise soll dem Handel jener »mäßige« Ertrag gesichert bleiben, der notwendig ist, um die wirtschaftliche Existenz der handeltreibenden Klasse zu erhalten, der aber die Ansammlung größeren Kapitals nicht gestattet.

Um dieses Ziel noch sicherer zu erreichen, verlangt ferner Plato die Ausschließung der edlen Metalle und damit des Gold- und Silbergeldes aus dem gesamten inländischen Verkehr. Er spricht sich für die Einführung einer Landesmünze aus, die ähnlich wie das spartanische Eisengeld im Auslande wertlos ist.

Es wird damit zugleich der auswärtige Handel an der Wurzel getroffen, den Plato wegen seiner Gefahren für die Einfachheit und Strenge der Sitten auf ein möglichst niedriges Niveau herabdrücken möchte, indem er die Einfuhr aller kostbaren, nur dem Luxus dienenden Waren verpönt und nur den Import von Gegenständen des notwendigen Bedarfes zulassen will.188 Ein Verbot, das übrigens auch den Handel an sich betrifft, da ja die prinzipielle Beschränkung der Produktion und Konsumtion auf das Notwendige eine ganze Reihe von Handelszweigen und Gewerben von vorneherein überflüssig macht.

Natürlich soll sich auch die volkswirtschaftliche Funktion der Landesmünze nach Platos Ansicht nur auf das Notwendige beschränken; d.h. sie soll nichts anderes mehr sein als ein Hilfsmittel des Güterumsatzes und Preismaßstab.189

Da das Geld infolge seiner unbeschränkten Aufbewahrungs- und Ansammlungsfähigkeit und seiner allseitigen von Zeit und Ort unabhängigen Verwendbarkeit den Erwerbstrieb und die Erwerbsfähigkeit des einzelnen und damit den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf steigert, die Möglichkeit zur Ansammlung von Reichtum vervielfältigt, mußte es ja ein Gegenstand des Mißtrauens und der Abneigung für eine Theorie sein, welche in der Konkurrenz und in dem Gegensatz von arm und reich an sich schon Symptome sozialer Erkrankung erblickte.190

[466] Diese dem beweglichen Kapital durch das Geld zugeführte Macht soweit zu schwächen, als es ohne Beseitigung des Geldes selbst möglich war, scheute der abstrakte Dogmatismus der Theorie vor den äußersten Konsequenzen nicht zurück. Wie sie die Ansammlung größerer Werte mit Hilfe des Geldes einfach dadurch unmöglich gemacht wissen wollte, daß das edle Metall im Münzwesen durch Stoffe von ungleich geringerem Tausch- und Gebrauchswert ersetzt wird, so will sie die Eigenschaft des Geldes, seinem Besitzer als Erwerbsvermögen zu dienen, in radikaler Weise dadurch beseitigen, daß sie prinzipiell die Berechtigung derjenigen Geschäfte negiert, durch welche das Geld selbst Mittel des Erwerbes wird. Es sollen alle Kreditgeschäfte unmöglich gemacht werden durch die Unterdrückung derjenigen Institution, welche die Seele des Kredites ist, nämlich der Zinsbarkeit des Darlehens,191 sowie durch das Verbot, auf Kredit zu kaufen oder zu verkaufen.192

Das Kaufgeschäft soll möglichst den Charakter des Tauschgeschäftes bewahren, der Kauf dem Tausch möglichst nahe gerückt werden, um jede freiere Gestaltung des Kaufes, wie sie eben der Kredit gestattet, von vorneherein unmöglich zu machen. Der Kauf soll nach dieser – auf möglichste Annäherung an die Naturalwirtschaft hinstrebenden – Anschauungsweise nichts sein als ein Tausch mit sofortiger Realisation, der sich von demjenigen der Naturalwirtschaft nur dadurch unterscheidet, daß auf Seite des einen Kontrahenten eine Geldsumme den Inhalt der Tauschleistung bildet.193

Auf diese Weise soll das Geld, wie der Handel, aufhören, Habsucht und Mammonismus einerseits, Armut und Ausbeutung des Armen anderseits zu fördern.

Man wird der allgemeinen Tendenz, welche in diesen Erörterungen zum Ausdrucke kommt, eine gewisse Sympathie ja nicht versagen können. Gerade die Gegenwart empfindet es als eine der verhängnisvollsten und gefährlichsten Konsequenzen hochentwickelter Geld- und Kreditwirtschaft, daß es durch sie einer kleinen Minorität ermöglicht wird, dank ihren technischen Kenntnissen und ihrer geschäftlichen Beherrschung des Kreditverkehrs die Gesamtheit in unverhältnismäßiger Weise[467] auszubeuten. Allein es ist ebensowenig zu verkennen, daß Platos Vorschläge zur Verhütung und Heilung dieses sozialen Übels in keiner Weise ausgereift, sondern ideologische Träume eines sozialpolitischen Adepten sind, der seine Wünsche und Hoffnungen an die Stelle der Realitäten setzt, wenn auch der Zweck Platos, stabile und gerechte Wertverhältnisse zu erzeugen, unanfechtbar ist.

Um so auffallender erscheint es bei diesem utopischen Charakter seiner Theorie, daß die Ansichten Platos über Güterumsatz und Geldverkehr nicht etwa in abgeschwächter, sondern eher in noch radikalerer Fassung bei einem sonst so nüchternen Denker und scharfen Beobachter sozial-ökonomischer Erscheinungen, wie Aristoteles, wiederkehren. Wie gewaltig muß die antikapitalistische Bewegung gewesen sein, welch tiefen und nachhaltigen Eindruck muß der Gedanke einer einschneidenden Umwandlung der bestehenden Wirtschaftsordnung in den Gemütern hinterlassen haben, wenn selbst ein so gearteter Denker, der in der grundlegenden Frage der Eigentumsordnung sich nie in der Weise, wie Plato, vom Boden der Wirklichkeit entfernte, – wenn Aristoteles in seiner Kritik der Konsequenzen der privatwirtschaftlichen Rechtsordnung, in seinen Anschauungen über den Güterumsatz, über die freie Konkurrenz, die Geldwirtschaft und die Kapitalrente sich nicht nur an den Gedankengang Platos enge anschloß, sondern über denselben noch hinausging!

Aristoteles erkennt, wie Plato, den Fortschritt von der Natural- zur Geldwirtschaft an, und seine Erörterung über die Entstehung und Natur des Geldes darf als eine klassische bezeichnet werden.194 Doch fügt er ebenso, wie Plato, die prinzipielle Einschränkung hinzu, daß das Geld nur zur Vermittlung des Güterumsatzes, nicht als Werkzeug der »Bereicherung« dienen sollte. Der Gewinn aus Zinsdarlehen und sonstigen Geldgeschäften erscheint ihm als durchaus widernatürlich (μάλιστα παρὰ φύσιν), weil auf diese Weise das Geld selbst Mittel des Erwerbes und nicht dazu gebraucht wird, wozu es erfunden ist. »Denn nur zur Erleichterung des Tausches kam es auf, nicht um durch den Zins sich selber zu vermehren.«195

Ebenso ist es ganz platonisch gedacht, wenn Aristoteles ein Symptom der Entartung darin sieht, daß durch Geld und Handel eine wirtschaftliche Tätigkeit hervorgerufen wird, die wesentlich darauf gerichtet ist, »wie und mit welchen Mitteln man beim Umsatz möglichst[468] viel gewinnen könne«.196 Er stimmt mit Plato darin völlig überein, daß aller Erwerb sich auf die Beschaffung des Unterhaltsbedarfes beschränken und an den vernünftigsten Bedürfnissen des Menschen sein Maß und seine Grenzen haben müsse;197 daß daher die ganze tatsächliche Entwicklung des Handels eine verwerfliche sei, weil er in der Verfolgung seines Zieles eine solche Schranke nicht anerkennt, sondern auf »unbegrenzten Gelderwerb« bedacht ist.198

Da der »wahrhafte« Reichtum nach der Ansicht des Aristoteles nur in dem für das Leben Notwendigen und Nützlichen besteht und das für ein vernunftgemäßes Dasein genügende Maß eines solchen Besitzes nicht ins Unendliche geht,199 so tritt Aristoteles dem aus Handel und Geldgeschäft entstehenden Reichtum, der seiner Natur nach ohne Ziel und Grenze ist,200 ebenso feindlich entgegen wie der platonische Sozialismus..

Dem »naturgemäßen« Gütererwerb, dessen Ziel die Befriedigung das naturgemäßen Bedarfes (οἰκονομική, ἡ περὶ τὴν τροφήν), wird als naturwidrig die Gelderwerbskunst (χρηματιστική) gegenübergestellt. Diese auf das Geld als solches gerichtete Spekulation tritt zuerst »in ganz einfacher Gestalt« (ἁπλῶς ἴσως) auf im Kleinhandel, später »bei vermehrter Erfahrung künstlicher«. (Die Agiotage!) Alsdann handelt es sich bei dem Umsatz nicht mehr bloß um die Anschaffung des Hausbedarfes, sondern um ein auf den meisten Profit gerichtetes Spekulations geschäft. An die Stelle des durch den Hausbedarf begrenzten natürlichen Reichtums und Gütererwerbs ist das spekulative Kapital getreten, das den Gelderwerb als Selbstzweck betrachtet »und maßlos, wie diese Geldbereicherung, werden dann die Bedürfnisse der entfesselten Leidenschaften, die nach maßlosen Befriedigungsmitteln des schrankenlosen Sinnengenusses streben«.201

Wie all dies echt platonisch ist, so ist es auch die Polemik gegen den kapitalistischen auswärtigen Handel, dem sie möglichst enge Schranken gezogen wissen will. Auch der aristotelische Sozialstaat läßt denselben nur soweit zu, als er im Interesse des Austausches überschüssiger Landeserzeugnisse und unentbehrlicher, nur aus dem Ausland zu beziehender Bedarfsgegenstände nicht zu umgehen ist.202

[469] Der Handel erscheint auch hier in seiner geschichtlich gewordenen Gestalt wesentlich als ein Parasit der Volkswirtschaft, dessen Tätigkeit zur Produktion nichts hinzufügt, sondern immer nur für den einen gewinnt, was sie den andern nimmt.203

Bei dieser Auffassung kann es nicht zweifelhaft sein, daß Aristoteles auch vom Standpunkt seines Gesellschaftsideals aus die möglichste Unschädlichmachung der »naturwidrigen« Tendenzen des Handels fordern mußte, wenn wir auch nicht wissen, wie er sich die Verwirklichung dieser Forderung dachte. Nur soviel steht fest, daß er die Ansicht Platos, als könne der gewerbsmäßige Handel bis zu einem gewissen Grade mit der Ethik in Einklang gebracht werden, nicht geteilt, also tatsächlich eine noch ablehnendere Haltung gegen den Handel eingenommen hat, als es Plato wenigstens in seiner letzten sozialpolitischen Schrift getan hatte. Und es ist dieser Pessimismus von den genannten Prämissen aus ja sehr begreiflich!

Wer als Ideal einen Verkehr vor Augen hat, der nur um des »wahren Bedürfnisses« und des Gebrauchswertes der Güter willen stattfindet, dem kann ja im Grunde nur dasjenige Kaufgeschäft als sittlich unbedenklich erscheinen, bei dem der Erwerber die Absicht hat, die erworbene Sache selbst zu gebrauchen, der Verkäufer, anderen den Gebrauch zu verschaffen. Der gewerbsmäßige Handel aber kann seiner Natur nach nicht nur dieses wollen. Denn er kauft und verkauft die Dinge, weil sie neben dem Gebrauchswert einen in Geld ausdrückbaren Tauschwert enthalten. Bei ihm ist jeder Kauf notwendig zugleich Spekulationskauf, bezw. -verkauf, d.h. um des Tauschwertes oder, was dasselbe ist, um des Geldwertes willen. Der privatwirtschaftliche Zweck, der mit den volkswirtschaftlichen Leistungen des Handels immer Hand in Hand geht, ist der durch die Realisierung dieses Tauschwertes zu erzielende Geldgewinn, der Mehrwert, welcher – um mit Marx zu reden – durch die Verwandlung von Geld in Ware und die Rückverwandlung von Ware in Geld entsteht; weshalb Aristoteles in diesem Sinne, d.h. vom privatwirtschaftlichen Standpunkt des Handelsgewerbes aus, nicht unrecht hat, wenn er das Geld das Element und das Ziel des Handelsumsatzes nennt.204

[470] Wenn aber der gewerbsmäßige Handelsbetrieb mit der wahren Sittlichkeit unvereinbar ist, wenn er seiner wahren Tendenz nach auf die Vernichtung jener wirtschaftlichen Gleichheit hinarbeiten muß, welche Aristoteles als gesellschaftliches Ideal aufstellt, so mußte sich auf seinem Standpunkt bei einiger Konsequenz die weitere Frage aufdrängen: Ist die Existenz eines besonderen Handelsgewerbes unter allen Umständen notwendig, oder ist nicht etwa ein Gesellschaftszustand denkbar, welcher die Vermittlung des Kaufmanns überflüssig macht?

Welche Antwort er freilich auf diese Frage hatte, darüber lassen sich höchstens Vermutungen aufstellen. Einige Äußerungen der Politik erwecken wohl den Anschein, als ob sich Aristoteles von der Entbehrlichkeit des Handelsgewerbes doch nicht habe überzeugen können. Es sind das die Stellen, wo er eine Aufzählung der für die Gestaltung des Verfassungslebens in Betracht kommenden Volksklassen gibt und in der Tat neben dem Bauern- und Handwerkerstand als dritten organischen Bestandteil des Volkes die handeltreibende Klasse nennt.205 Aber es kann das in keiner Weise als entscheidend angesehen werden. Denn Aristoteles hat es in dem Teil der Politik, welchem diese Stellen angehören, nur mit der Pathologie und Therapie der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu tun, deren wirtschaftliche Grundlagen er hier als gegeben hinnimmt. Ein Beweis wäre also nur dann erbracht, wenn auch die ideale Gesellschaftsordnung des »besten« Staates einen besonderen Handelsstand kennen würde.

Nun stellt sich aber bei näherem Zusehen die bedeutsame, bisher merkwürdigerweise völlig übersehene Tatsache heraus, daß Aristoteles bei der wiederholten Aufzählung der volkswirtschaftlichen Voraussetzungen und der wirtschaftlichen Berufe, ohne welche auch sein bester Staat nicht bestehen kann, das Handelsgewerbe mit völligem Stillschweigen übergeht.206 Zugegeben, daß die eine oder die andere dieser Aufzählungen eine erschöpfende Übersicht vielleicht nicht beabsichtigt, so erscheint doch dieses vollständige Schweigen beredt genug. Kann es Zufall sein, daß das Handelsgewerbe zwar bei der Charakteristik der bestehenden Volkswirtschaft ausdrücklich genannt wird, dagegen bei der Schilderung der wirtschaftlichen Grundlagen des Idealstaates – und das an drei verschiedenen Stellen – gänzlich ignoriert[471] wird?207 Wenn hier aber die Absicht unverkennbar ist, so bleiben nur zwei Möglichkeiten: entweder hat der aristotelischen Sozialtheorie in der Tat der Gedanke vorgeschwebt, die Güterwelt durch die Verstaatlichung des Handels von allen Mittelspersonen zu befreien, oder ihre Tendenz ging wenigstens dahin, den gewerbsmäßigen Handel in eine für den Gesamtcharakter der Volkswirtschaft möglichst bedeutungslose Stelle herabzudrücken.

Doch sei dem, wie ihm wolle! soviel geht aus allem hervor, daß die Verwirklichung der aristotelischen sowohl, wie auch der platonischen Theorie tatsächlich eine mehr oder minder radikale Zerstörung des Handels bedeutet hätte. Schon die Auffassung von der Stellung des Geldes in der Volkswirtschaft muß zu Konsequenzen führen, die geeignet sind, den Lebensnerv des Handels zu lähmen.

Zwar hat Aristoteles nicht so unrecht, wenn er sagt, daß die Funktion des Geldes wesentlich in der Vermittlung und Erleichterung des Tausches besteht, und daß eine Summe von Geldstücken an sich keine Zinsen erzeugen, sich also auch nicht selbst durch den Zins vermehren könne. Allein es wird dabei übersehen, daß, wenn auch das Geld nicht selbst und unmittelbar produktiv ist, es doch für seinen Besitzer mittelbar dadurch produktiv zu werden vermag, daß es ihm die Aneignung von Gütern ermöglicht, die zum Erwerb und zur Produktion neuer Güter dienen können. Es wird daher auch verkannt, daß, wenn durch Überlassung von Geld an einen anderen diesem die Möglichkeit verschafft wird, sich in den Besitz von Erwerbsvermögen und Produktionsmitteln, d.h. eines Kapitals zu setzen, der Darleihende einen wohlbegründeten Anspruch auf die Beteiligung an dem Ertrage dieses Kapitales erhält. Dies leugnen heißt aber nichts anderes, als das Darlehensgeschäft selbst beseitigen, die Entwicklung alles Kredites und damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aller derjenigen unterbinden, welche darauf angewiesen sind, sich das für die Betätigung ihrer Arbeitskraft und ihres Unternehmungsgeistes nötige Kapital auf dem Wege des Kredites zu verschaffen. Was würde aber der Handel, dessen Seele Geld und Kredit ist, in einem volkswirtschaftlichen System bedeuten, welches die Produktivität der Arbeit, die Kapitalbildung und -vermehrung in dieser Weise lähmen würde?

[472] Man ist vielfach geneigt, die Weite des Abstandes zu unterschätzen, welcher die geschilderte platonisch-aristotelische Wirtschaftstheorie von der tatsächlichen Gestaltung des Lebens trennte. Man sieht in ihr ein Symptom des relativen Zurückbleibens der antiken Volkswirtschaft, der sittlichen Geringschätzung und des Mißtrauens, mit welchem der Handel bei geringer entwickelter Kultur, wo man seiner verhältnismäßig weniger bedarf, stets betrachtet zu werden pflegt. Ebenso sollen die Angriffe auf die Zinsbarkeit des Darlehens wesentlich der Reflex einer geringen Ausbildung der Kapitalwirtschaft und der hiermit unvermeidlich verbundenen Abneigung gegen das Zinsnehmen sein.208

Allein wie wenig zutreffend erscheinen doch diese Vorstellungen angesichts der tatsächlichen Entwicklung der damaligen Volkswirtschaft! Bei ihrer Kleinheit waren diese Staaten frühzeitig darauf angewiesen, wichtige Gegenstände des Bedürfnisses, welche die unvermeidlich einseitige Produktion eines so engen Gebiets nicht zu liefern vermochte, von auswärts zu beziehen. Als Gegenwert hatten sie zunächst die Erträgnisse ihrer Landwirtschaft zu bieten, Wein, Öl, Wolle usw., die schon sehr frühe als Gegenstand der Massenausfuhr und eines weit ausgedehnten Verkehrs erscheinen. Nun waren aber der Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion naturgemäß mehr oder minder enge Grenzen gesteckt und daher die hellenische Stadtstaatwirtschaft recht eigentlich auf diejenigen Tätigkeiten hingewiesen, die einer größeren Ausdehnung fähig waren als die Agrikultur, d.h. eben Gewerbefleiß und Handel.

Am frühesten und intensivsten tritt diese Tendenz da hervor, wo einerseits der Boden an Landbauprodukten weniger ergiebig war, dagegen wichtige Rohstoffe für die Industrie, z.B. Ton- und Erzlager[473] usw., darbot oder wo eine günstige Verkehrsstellung, besonders die Lage am Meere, die Entwicklung der Schiffahrt begünstigte, wie es an zahllosen Orten der hellenischen Welt der Fall war. Hier war – bei der ausgeprägten Begabung der Bevölkerung – der Keim zu einer Handelsgröße gegeben, wie sie auf Grund ähnlicher Verhältnisse den Phöniziern, später den Venetianern, Genuesern und Holländern zuteil geworden ist. Einen mächtigen Anreiz in derselben Richtung enthielt die außerordentliche Zunahme der Bevölkerung, die in der kolonisatorischen Ausbreitung des Hellenentums einen so großartigen Ausdruck gefunden hat.

In der Tat beginnt die merkantile Entwicklung der hellenischen Küstenstaaten diesseits und jenseits des ägäischen Meeres bereits in einer Zeit, welche weit jenseits der beglaubigten Geschichte liegt. Schon im achten Jahrhundert ist ein umfassendes System von Handelswegen und Handelsverbindungen geschaffen, an deren Erweiterung und Vervollkommnung mit unablässigem Eifer gearbeitet ward. Dieses zähe und zielbewußte Streben schuf eine Welthandelskonjunktur, welche es ermöglichte, die Waren der entlegensten Produktionsgebiete: die Luxuserzeugnisse der alten Kulturländer des Ostens, wie die für die Entwicklung der heimischen Industrie und für die Ernährung einer zahlreichen gewerblichen Bevölkerung so wichtigen Naturprodukte der nordischen Länder in Masse und mit der nötigen Regelmäßigkeit zu beziehen, eine Welthandelskonjunktur, welche den Erzeugnissen der heimischen Produktion ein Absatzgebiet eröffnete, das von dem innersten Winkel des Schwarzen Meeres bis zum Atlantischen Ozean reichte.

Welche Bedeutung so gerade die merkantilen Interessen gewannen, das zeigt neben dem frühzeitigen Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft die kommerzielle Rivalität, wie sie schon in alter Zeit in förmlichen Handelskriegen und in friedlichen Veranstaltungen, z.B. den – an die Kauffahrerhöfe der Hansen erinnernden – Faktoreien in Naukratis zutage tritt. Das zeigt das Emporsteigendes Handels- und Gewerbestandes zur politischen Macht, die Entwicklung der Kapital- und Geldherrschaft (χρήματα χρήματ᾽ ἀνήρ! Das Geld, ja das Geld macht den Mann! Ein Wort: das ganz an das amerikanische to make money erinnert). Wie hat endlich das Athen des fünften Jahrhunderts die Machtmittel seines Reiches in handelspolitischem Interesse auszubeuten gewußt! Welch ruheloser Handelsgeist erfüllte diese Stadt, von deren Bewohnern Thukydides gesagt hat, daß sie immer rastlos[474] tätig, immer außer Landes seien, um ihren Besitz zu mehren, denen die Arbeit nicht Mittel, sondern Zweck sei und die daher auch nur wenig zum ruhigen Genießen des Erarbeiteten gelangten, weil sie immer nur wieder auf einen neuen Erwerb sännen!209

Dieses Athen ist die Geburtsstätte der platonisch-aristotelischen Wirtschaftstheorie! Ein Welthandelsemporium, wo sich auf der Grundlage einer entwickelten Geldwirtschaft ein wahrhaft internationales Verkehrsleben entfaltete, ein Stapelplatz, wo die Erzeugnisse fast des ganzen bekannten Länderkreises zusammenströmten, ein Geldmarkt, auf dem die Konzentration des Kapitals solche Fortschritte gemacht hatte, daß von hier aus weithin im Umkreis der östlichen Mittelmeerwelt bis zu den fernsten überseeischen Plätzen regelmäßig beträchtliche Handelskapitalien vorgeschossen wurden.

Wie kann man hier an die Verhältnisse denken, welche das frühe »Mittelalter« der Völker charakterisiert, wo der Produktivkredit wenig entwickelt ist, wo alle Darlehen nur konsumtiv und meist Notdarlehen sind, wo der Gläubiger gewöhnlich reich, der Schuldner arm ist und daher der Zins als gehässige Ausbeutung des Armen, die Unentgeltlichkeit der Kreditgewähr in den Verhältnissen selbst begründet erscheint?

Welche Fülle von Kapital nahm in der gewerbreichen hellenischen Welt die in vielen Zweigen zum kapitalistischen Großbetrieb und zu fabrikmäßiger Massenproduktion entwickelte Industrie in Anspruch, die wie z.B. die Gewebeindustrien, den Bedürfnissen eines hochgesteigerten Luxus ebenso wie dem Massenkonsum des gemeinen Mannes dienten und – dank der fortgeschrittenen Organisation des Handels – ihre Erzeugnisse über drei Weltteile versandten! Hat es etwa hier in den Zentren des Handels und der Produktion, wo der einzelne in der Ausdehnung seines Gewerbebetriebes rechtlich einen sehr freien Spielraum hatte, an bedeutenden gewerblichen Unternehmungen gefehlt, welche fremden Kapitales bedurften?

Oder bot etwa die Landwirtschaft weniger Gelegenheit, sich mit Kapital zu befruchten? in einer Zeit der intensivsten Gartenkultur und des spekulativen Anbaues von Handelsgewächsen, wie Wein, Öl usw., die ebenfalls einen Weltmarkt besaßen? Und war nicht der Boden selbst, nachdem die seine Veräußerung, Teilung usw. hemmenden Fesseln, die Gebundenheit und Geschlossenheit der Landgüter seit Jahrhunderten beseitigt waren, längst ein ergiebiges Feld für das spekulative Kapital[475] geworden? Schuf hier nicht der mit der Mobilisierung des Grund und Bodens stetig steigende Verkehr in Grundstücken, der den Boden selbst zur Handelsware machte, die durch die freie Teilbarkeit dem Erben auferlegte Notwendigkeit, Miterben abzufinden, u. dgl. m. zahllose Veranlassungen zu Anlehen, um Ländereien anzukaufen oder als Erbe übernehmen zu können? Welche Kapitalien mußte endlich der Aufschwung des Handels und des Geldgeschäftes flüssig machen, welches die Seele dieses hochentwickelten Wirtschaftslebens bildete!

Wer sich prinzipiell auf den Boden dieses Wirtschaftslebens stellte und den Bedürfnissen desselben gerecht werden wollte, der konnte den spekulativen Handelsgewinn und den Leihzins an sich unmöglich als ungerecht und als Übervorteilung verwerfen. Und in der Tat, wenn man die in den eigenen Erfahrungen und dem eigenen Willen des wirtschaftlich tätigen Volkes wurzelnden Anschauungen der Praxis und den Geist des ganzen Verkehrsrechtes ins Auge faßt, in welchen die zur Herrschaft gelangten Ansichten von den Gegenständen und Mitteln des Verkehres, vom materiellen Güterleben überhaupt ihren Ausdruck fanden, so erscheint die Frage zu Platos Zeiten längst in modernem Sinne entschieden.

Wir finden in den Industrie- und Handelsstaaten, wie Athen, ein Kredit- und Bankwesen, das – bei aller Antipathie gegen die wucherische Ausbeutung desselben – das größte geschäftliche Vertrauen genoß und infolgedessen der Zinsverkehr ein so allgemeiner und regelmäßiger war, daß ihn auch die Gesetzgebung längst rückhaltlos anerkannt hatte. Und diese gesetzliche Zinsfreiheit erscheint um so bedeutsamer, wenn man die Höhe des üblichen Zinsfußes, überhaupt der Gewinne aus produktiv angelegten Fonds in Betracht zieht, welche die Ausbeutung des Schwachen durch das Kapital in hohem Grade begünstigte und nur zu geeignet war, Mißstimmung gegen alle merkantile Spekulation zu erzeugen.

Wie die für die Praxis des Verkehrs und für die Gesetzgebung maßgebende Anschauungsweise das Zinsproblem auffaßte, dafür ist überaus bezeichnend der Umstand, daß die griechische Geschäftssprache den Kapitalzins τόκος nennt, das »Geborene«, denselben also aus einer direkten wertzeugenden Kraft des Geldkapitals ableitet, neben der der Faktor Arbeit als verschwindend klein völlig außer acht gelassen wird. Der Geldzins hat für diese Vorstellungsweise seinen Entstehungsgrund einfach darin, daß das Leihkapital ihn gewissermaßen selbst erzeugt,[476] so daß jede weitere Frage nach der Berechtigung des durch den Zins dem Kapitalisten zufallenden Mehrwertes vollkommen gegenstandslos wird. Eine Auffassung, welche sich auf das engste mit weitverbreiteten modernen Kapitalzinstheorien berührt, die dem Kapital in ganz ähnlicher Weise eine »aktive Rolle« zuschreiben, den Mehrwert ohne weitere Zwischenmotivierung aus der produktiven Kraft des Kapitals hervorgehen lassen.210

Kann es einen einschneidenderen Gegensatz geben als zwischen der platonisch-aristotelischen Lehre, welche kaum eine mittelbare Produktivität des Geldes anerkennt, und diese in Volkswirtschaft und Recht zum Siege gelangte Anschauung, welche das Geldkapital ohne weiteres als eine originäre Güterquelle, als eine selbständige Produktivkraft hinstellte, deren Wirken vollkommen gleichartig mit der Arbeit des Menschen erschien?

Dieser grelle Kontrast zwischen dem Standpunkt der sozialen Theorie und den Anschauungen der Praxis zeigt recht deutlich, wie ganz anders, als bisher, wir die geschichtliche Stellung jener Wirtschaftsphilosophie zu beurteilen haben. Sie ist nicht der den tatsächlichen Zuständen und Bedürfnissen mehr oder minder entsprechende Ausdruck einer relativ niedrigen Stufe der Volkswirtschaft, sondern vielmehr das Erzeugnis einer Reaktion gegen die Auswüchse einer hochentwickelten volkswirtschaftlichen Kultur, einer der ganzen tatsächlichen Gestaltung des Wirtschaftslebens prinzipiell feindlichen Weltanschauung.

Nicht weil das mobile Kapital als Produktionsmittel noch wenig au bedeuten gehabt hätte, sondern im Gegenteil, weil durch die Entwicklung der kapitalistischen Geldwirtschaft das Geld eine dominierende Machtstellung gewonnen, weil der Materialismus dieser Geldherrschaft zu einer übermäßigen Wertschätzung der äußeren Güter und vor allem des Geldes, als des Inbegriffes aller Güter, zu einer rastlos gierigen Jagd nach Gewinn und Genuß geführt hatte, konnte sich der edelsten Geister der Gedanke bemächtigen, daß das Geld durch eine weitgehende Beschränkung seiner wirtschaftlichen Funktionen möglichst seines Wertes und seiner Macht entkleidet werden müsse, um dem Egoismus und[477] Materialismus seinen Hauptnährboden zu entziehen. Nicht weil der Erwerb aus Handel und Industrie neben dem Landbau wenig zu bedeuten gehabt hätte, sondern im Gegenteil, weil gerade dieser Erwerb durch seine intensive und extensive Steigerung zu einem einseitigen Übergewicht der Geldmacht und der merkantilen Interessen geführt hatte, die als ein verhängnisvoller materieller und sittlicher Druck empfunden wurde, darum wurde jetzt in naturgemäßem Rückschlag ebenso einseitig dem mobilen Kapital der Grund und Boden als das einzig fruchtbringende Kapital, als das wertvollste aller Güter entgegengestellt, darum sollte sein Ertrag der wahrhaft naturgemäße Erwerb, sein Besitz der wahre Reichtum sein. Weil die selbst den Grund und Boden zur Handelsware machende Geldwirtschaft die Unterschiede zu vertilgen drohte, auf denen die Gesundheit des Volks- und Staatslebens beruht, darum wurde jetzt dieser Unterschied zwischen Boden- und Geldkapital, zwischen Bodenertrag und Handelsgewinn um so entschiedener betont und der Widerspruch gegen die zunehmende Aufsaugung des Grundbesitzes durch das Geldkapital bis zu der Forderung gesteigert, daß man allen nicht aus Grund und Boden fließenden Erwerb neben dem Grundbesitz wirtschaftlich, sozial und politisch zur Bedeutungslosigkeit herabdrücken und so die Macht des Geldes brechen müsse.

Der Radikalismus dieser Forderungen begreift sich nur, wenn man sie als Ausfluß einer allumfassenden sozial-ökonomischen Gesamtanschauung auffaßt, welche stets das Ideal eines von dem Bestehenden mehr oder minder weit entfernten, wahrhaft guten und gerechten Zustandes der Gesellschaft im Auge hatte, einer Weltanschauung, die, wenn nicht den Menschen überhaupt, so doch wenigstens die Mitglieder des bürgerlichen Gemeinwesens grundsätzlich in eine andere Stellung zur Außenwelt und zum materiellen Güterleben zu bringen wünschte, als es in der Wirklichkeit der Fall war.

Es ist mit einem Worte der »sozialistische« Charakter dieser Sozialphilosophie, welcher in den genannten Forderungen seinen Ausdruck findet. Daher tritt auch bereits hier diejenige Theorie, welche an der Wiege des modernen Sozialismus stand und sich Hand in Hand mit ihm entwickelt hat, die heute in Angriff und Abwehr bei dem Streit um die Organisation der Volkswirtschaft vor allem in Frage kommt: die Kapitalzinstheorie, so bedeutsam in den Vordergrund.

Zwar richtet sich bei Plato, wenigstens seitdem er auf den Kommunismus verzichten gelernt hatte, sowie bei Aristoteles der Angriff[478] nicht wie bei dem modernen Sozialismus gegen die Kapitalrente in jeder Gestalt, insbesondere nicht gegen das unbewegliche Kapital und die Grundrente. Wenn das Bürgertum des platonischen Gesetzesstaates uni des aristotelischen besten Staates von wirtschaftlicher Arbeit und wirtschaftlichen Sorgen frei nur der sittlichen und geistigen Entfaltung der Persönlichkeit und dem Dienste des Staates leben, und wenn die Existenz dieses Bürgertums auf den Grundbesitz basiert werden sollte, so war die Anerkennung der Grundrente ja unvermeidlich. Allein so bedeutsam dieser Unterschied ist, eine gewisse Analogie beider Erscheinungen ist doch unverkennbar. Wie die moderne sozialistische Kritik des Kapitalzinses der sogenannten Produktivitätstheorie die Ausbeutungstheorie entgegenstellt, nach welcher ein Teil der Gesellschaft, die Kapitalisten, sich drohnenartig einen Teil vom Werte des Produktes aneignet, das der andere Teil der Gesellschaft, die Arbeiter, allein hervorgebracht hat, so setzt auch der antike Sozialismus wenigstens in bezug auf das Geldkapital und auf den Darlehenszins in ganz ähnlicher Weise dem Begriff der Produktivität des Kapitals den der Ausbeutung entgegen. Ja der Leihzins ist ihm unter allen Umständen, nicht bloß gegenüber der Arbeit, eine natur- und rechtswidrige Ausbeutung des Mitmenschen.

Auch die allgemeine Tendenz der Angriffe gegen den Leihzins und das Geldwesen, gegen Zwischenhandel und freie Konkurrenz, der Widerwille gegen die geldoligarchische Entwicklung der Gesellschaft, gegen die Konzentrierung des Besitzes überhaupt begegnet sich mit den antikapitalistischen Grundanschauungen des modernen Sozialismus.211 Diese Tendenz ist eine so mächtige, daß Plato und Aristoteles der Konzentrierung des Kapitals auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens mit ihren Forderungen entgegentreten und daher auch die Grundeigentumsverhältnisse einer mehr oder minder radikalen Umgestaltung im Sinne wirtschaftlicher Ausgleichung unterworfen wissen wollen.

[479] Von der Art und Weise, wie Aristoteles den Umschlag des »Hausvermögens« in spekulatives Kapital, des Gütererwerbs in die Spekulation auf den Geldprofit (Zins) analysiert, hat Schäffle ausdrücklich anerkannt, daß sie »im Kern die ganze moderne Kritik des Kapitals«, d.h. die negative Arbeit der sozialistischen Theorien, enthalte,212 insbesondere sei die Marxsche Werttheorie im letzten Grunde eine Entlehnung aus der Wucherkritik des Aristoteles.213

Es ist daher durchaus zutreffend, wenn der Sozialist Rodbertus die aristotelische Kritik der »Chrematistik« jener Zeit mit der modernen Reaktion gegen die von Rodbertus so genannte »Kapitalistik« der Gegenwart vergleicht, zu welcher der Sozialismus den ersten Anstoß gegeben. In der Tat liest es sich wie eine einfache Umschreibung der Anklagen des Stagiriten gegen die fieberhafte Geldspekulation seiner Zeit, wenn Rodbertus das prophetische Wort ausspricht: »Nachdem erst auf wirtschaftlichem Gebiet alles als Kapital behandelt worden, was und bloß weil es für Geld feil ist, so wird auch bald alles, was überhaupt für Geld feil ist, als Kapital dienen, auch das, was immerdar weit über das wirtschaftliche Gebiet hinausfallen sollte. Macht heute nicht das Gründungsfieber auch schon Ehre und Amt zu Kapital? So ist heute die Kapitalistik zugleich die Passion der Zeit und unsere Zeitkrankheit geworden, die auch in die bitterste Passionsgeschichte auslaufen wird.«214

»Wenn sie«, sagt Aristoteles von seinen Zeitgenossen, »ihren Zweck nicht durch die geschäftliche Spekulation selbst erreichen können, so jagen sie ihm auf anderen Wegen nach und machen alle Künste und Talente ihrer natürlichen Bestimmung entgegen diesem Zwecke dienstbar. – Denn – was machen sie daraus? Eine Geldspekulation, als wäre das Geld das Ziel und der Zweck von allem.«215

Wir haben damit einen Punkt berührt, der von neuem zeigt, daß auch der antike Sozialismus trotz aller Verirrungen und Einseitigkeiten einen tiefberechtigten Kern enthält.

Es ist das unsterbliche Verdienst der hellenischen Sozialtheorie, für alle Zukunft den Nachweis erbracht zu haben, daß das Glück der Völker nicht von der Erzeugung einer möglichst großen Masse von Gütern,[480] sondern in weit höherem Grade von der Art und Weise ihrer Verteilung abhängt. Wenn man sich den einseitigen Produktions-, ja Produzentenstandpunkt vergegenwärtigt, der für die neuere Nationalökonomie bis tief in unser Jahrhundert hinein maßgebend war, so wird man eine gewisse Beschämung empfinden angesichts der hohen geistigen und sittlichen Energie, mit welcher hellenische Denker die Fragte nach den sozial-ethischen Wirkungen der Einkommens- und Vermögensverteilung, die Frage nach der wünschenswerten Verteilung überhaupt in den Vordergrund gerückt und zu lösen versucht haben. Hier findet sich zum ersten Male jene scharfe prinzipielle Erörterung des Verteilungsproblems, der sich gerade die Gegenwart immer weniger wird entziehen können.

Nicht anders ist es mit dem Kampf gegen die einseitig individualistische, den Zusammenhang mit dem Ganzen und die Pflichten gegenüber dem Ganzen ignorierende Auffassung des Eigentumsbegriffes, welche dem einzelnen das absolut zuspricht und zu sichern verlangt, was er gerade besitzt. Einer der hervorragendsten Rechtslehrer der Neuzeit »sieht eine Zeit kommen, wo die Gesellschaft das angebliche Recht des Eigentümers, von den Gütern dieser Welt beliebig viel zusammenzuscharren, ebensowenig anerkennen wird, als das Recht des altrömischen Familienvaters über Tod und Leben seiner Kinder, als das Fehderecht und den Straßenraub des Ritters, als das Standrecht des Mittelalters«.216 Demgemäß verlangt Jhering vom Staate, daß er »auf das Privateigentum einen Druck ausübe, welcher dem Übermaß seiner Anhäufung auf einzelnen Punkten vorbeugt und die Möglichkeit schafft, den Druck auf andere Teile des sozialen Körpers zu verringern, eine den Interessen der Gesellschaft mehr entsprechende, d.h. gerechtere Verteilung der Güter herbeizuführen, als sie unter dem Einfluß eines Eigentums herbeigeführt worden ist und möglich war, welches, wenn man es beim rechten Namen nennt, Unersättlichkeit des Egoismus ist«.217 Und in demselben Gedanken begegnet sich mit dem deutschen Romanisten der bekannte amerikanische Publizist Michaelis, der, obwohl ein warmer Verteidiger des freien Wettbewerbes, doch kein Bedenken trägt, »gegen die Monopolwirtschaft, welche die Anhäufung riesenhafter Reichtümer ermöglicht«, die Staatsgewalt in die Schranken zu rufen. Er bezeichnet – ganz im Sinne der aristotelischen Gerechtigkeitsidee – die Bildung von Trusts, d.h. jede Vereinigung zum Zwecke[481] unverhältnismäßiger Steigerung der Warenpreise, als einen Raubversuch, gegen den das Volk durch die Gesetze geschützt werden müsse.218 Er verlangt ferner einschneidende Maßregeln der staatlichen und internationalen Gesetzgebung zur Bekämpfung der übermäßigen Anhäufung des mobilen Kapitals wie des Grundbesitzes in einzelnen Händen.219 So kehrt die moderne Welt von den verschiedensten Ausgangspunkten her zu dem Grundgedanken der hellenischen Sozialphilosophie zurück, daß die keine Grenzen kennende Pleonexie der Individuen ihre prinzipiellen Schranken in den Forderungen des gemeinsamen Wohles aller finden müsse.

Auch in bezug auf die ethische Auffassung des Güterlebens treten in der sozialpolitischen Literatur der Gegenwart – hervorgerufen durch analoge gesellschaftliche Mißstände – Anschauungen hervor, die sich mit antiken Lebensidealen nahe berühren.

Wenn es gilt, der Hast und Gier des Erwerbslebens der Gegenwart, dem alles in seinen Strudel hineinziehenden Kampf um die Befriedigung endlos gesteigerter Bedürfnisse eine höhere menschenwürdigere Lebensansicht und Lebenspraxis entgegenzustellen, werden wir da nicht von selbst auf einen der grundlegenden Gedanken der sozialen Ethik der Hellenen hingewiesen, daß das Glück in der verständigen Beschränkung der Bedürfnisse zu suchen sei, daß es sich immer weiter zurückzieht, je mehr der Kreis dessen, was zum Leben begehrenswert erscheint, sich erweitert?220

Nichts könnte diese Anschauung der hellenischen Sozialphilosophie glänzender bestätigen, als die Schilderung eines modernen Denkers, dem ebenso, wie für jene, alle sozialen Fragen zugleich sittliche Fragen sind, und der es versteht, unserer Zeit durch »ihr oft so kummervolles Auge bis auf den Grund des Herzens« zu sehen.

»Inmitten des ungeheuersten Aufschwunges von Reichtum und Macht« – heißt es hier – »sieht man weder, daß die Hast und Gier des Erwerbes in den besitzenden Klassen sich auch nur im mindesten mäßige, noch die Befriedigung der unteren Volksklassen, trotz großer, leicht ziffermäßig nachweisbarer Fortschritte in ihrer allgemeinen Lebenslage sich in kenntlichem Maße gesteigert habe. Es ist eine traurige,[482] aber allbekannte Wahrheit, daß unsere Zeit, ausgerüstet mit den ungeheuersten Mitteln des Genusses, das wirkliche Genießen kaum versteht, weil sie alles von außen erwartet, weil die Vorbereitungen zum Genuß so umständlich geworden sind, daß sie immer schon drei Viertel des Genusses selbst verschlingen, und daß infolgedessen das eine Bedürfnis, möglichst viel zu besitzen, so überwiegend geworden ist, daß auf diesem Wege eine beständige Steigerung der Gütererzeugung und der Mittel zum Genüsse denkbar wird, ohne daß das Glück irgendeines Menschen dadurch wesentlich erhöht würde.«221 Ist diese Schilderung nicht ein frappantes Seitenstück zu dem Bilde, welches Plato im »Staate« von dem Fieberzustand der Gesellschaft (πόλις φλεμαίνουσα) entwirft?!

Es ist wahr, der ethische Idealismus Platos und Aristoteles' wird der Frage des wirtschaftlichen Fortschrittes nicht gerecht, aber diese Einseitigkeit ist nur die Kehrseite eines großen Vorzuges: der klaren Erkenntnis, daß auch diese Frage eben nur im engsten Zusammenhang mit den ethischen Fragen zu beurteilen ist.

Mußte nicht ferner diese analoge Beurteilung des Güterlebens überhaupt zu einer gewissen analogen Beurteilung der Güterproduktion insbesondere führen? Wir erkennen es heutzutage als eine schwere Schädigung der wirtschaftlichen und idealen Interessen des ganzen Volkes, wenn die ungleiche Verteilung des Volkseinkommens hauptsächlich zur reichlicheren und üppigeren Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der besser Situierten führt. Wir verwerfen einen Luxus, der die höheren Klassen selbst physisch und sittlich schädigt, den Neid der niederen immer mehr aufstachelt und zu einer ungünstigen Richtung der ganzen Güterproduktion (Luxusgüter für die Reichen, statt Massengüter für alle) führt und der, abgesehen vom Kunstluxus, kein Kulturinteresse des Volkes fördert. Auch wir beginnen einzusehen, daß, wenn es soweit gekommen ist, die Gesetzgebung eine gewisse Ausgleichung in der Verteilung des Volkseinkommens ins Auge fassen müsse.222

Wie nahe sich antikes und modernes Denken gerade auf diesem Gebiete[483] berühren, zeigt recht deutlich die Idee des sozialen Menschen, wie sie die aristotelische Ethik formuliert hat, die aristotelische Forderung eines stetigen Zusammenwirkens des Gemeinsinnes mit dem Selbstinteresse zur Verwirklichung der verteilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit.

Schon die Art und Weise, wie Adam Smith in den Mittelpunkt seiner Theorie der moralischen Gefühle das Sympathieprinzip stellt, wie er hier und in der politischen Ökonomie die Selbstsucht (selfishness) durch die Wirksamkeit der sozialen Triebe eingedämmt wissen will und prinzipiell nur ein solches Maß von Selbstinteresse anerkennt, welches sich innerhalb der Schranken der Gerechtigkeit hält, die Forderung endlich einer harmonischen Ausgleichung der Gefühle und Leidenschaften durch die Überwindung unserer selbstsüchtigen und die Ausbildung unserer wohlwollenden Gefühle,223 all das läßt in den sozialethischen Grundfragen eine gewisse Ideenverwandtschaft mit der geschilderten aristotelischen Sozialphilosophie erkennen, soweit auch im übrigen und zwar gerade in der politischen Ökonomie die Standpunkte auseinandergehen.

Ungleich inniger freilich ist die Verwandtschaft mit der modernen ethischen Richtung der Nationalökonomie. Es ist ganz aristotelisch gedacht, wenn von Thünen und Knies die Rücksichtnahme der wirtschaftlich tätigen Einzelpersonen (nicht bloß auf ihren eigenen Vorteil, sondern auch) auf das wirtschaftliche Interesse »anderer Leute« fordern und wenn dann Knies den Satz aufstellt: »Daß irgendein höheres Maß wirtschaftlicher Güter auf den Wegen der Selbstsucht, des gegen den Nächsten und das Gemeinwesen rücksichtslosen Eigennutzes von den einzelnen gewonnen wird, steht im Widerspruch mit dem materiellen und sittlichen Wohle aller einzelnen, mit dem Gemeinwohl, ja mit dem sittlichen Wohle des Erwerbenden selbst.«224 Wenn ferner A. Wagner meint: »Die Beweggründe individuellen wirtschaftlichen Vorteiles sind wenigstens möglichst zu verbinden mit und zu ersetzen durch altruistische Beweggründe, und das, was in dieser Hinsicht der einzelne und eine Verkehrsgesellschaft erreicht, bildet den Maßstab ihres sittlichen Wertes und ihrer wahren Kulturhöhe«;225 – so entspricht das genau dem von der aristotelischen Ethik aufgestellten Ideal.

[484] Auch ist diese vielfache Berührung antiken und modernen Denkens keineswegs eine zufällige. Wenn es auch bis zu einem gewissen Grade analoge Übelstände des Volkslebens waren, welche hier wie dort eine höhere sozial-ethische Auffassung des Güterlebens, eine tiefere Anschauung von Wesen und Beruf des Staates, eine gesteigerte Empfänglichkeit für soziale Gerechtigkeit hervorriefen, so besteht doch gleichzeitig auch ein unmittelbarer bewußter Zusammenhang. Und man sollte nie vergessen, daß es eine auf humanistischer Grundlage erwachsene Wissenschaft war, die sich zum Träger dieses gewaltigen Umschwunges des modernen Geisteslebens gemacht hat. In einem der grundlegenden Werke der historischen Schule der Nationalökonomie wird ausdrücklich anerkannt, daß wir hier zugleich das Ergebnis einer Befruchtung der modernen Wissenschaft durch altklassische Anschauungen vor uns haben.226

Schon bei einem der ersten großen Vorkämpfer gegen die einseitigindividualistische Auffassung ökonomischer Phänomene, bei Sismondi, tritt dieser Zusammenhang klar hervor. Er knüpft seine Polemik gegen die science de l'accroissement des richesses unmittelbar an die sozialpolitischen Erörterungen an, welche Aristoteles in der Politik der Chrematistik gewidmet hat.227 Und ganz in demselben Sinne hat unter den Deutschen schon im Jahre 1849 Roscher in seiner schönen Abhandlung über das Verhältnis der Nationalökonomie zum klassischen Altertum der herrschenden Zeitdoktrin die politische Ökonomie der Griechen gegenübergestellt, weil dieselbe niemals den großen Fehler begangen habe, über dem Reichtum den Menschen zu vergessen.228

Ihm folgt Rodbertus mit der Forderung, daß wir unsere Politik wieder etwas mehr mit antikem Geiste erfüllen sollten,229 und Lorenz von Stein, der aus dem Studium der antiken Staatswissenschaft die Überzeugung geschöpft hat, daß wir, indem wir durchforschen, was die Alten gewesen und getan, »uns gleichsam selbst zum zweitenmal erleben«.230 Im Hinblick auf den noch immer nicht überwundenen einseitigen Individualismus der modernen Staatsauffassung erklärt es Adolf Wagner von jedem politischen Standpunkte aus für unvermeidlich, wieder an antike Anschauungen anzuknüpfen. Für die Nationalökonomie,[485] welche dies viel zu sehr aus den Augen verloren habe, sind nach Wagners Ansicht die grundlegenden Sätze des Aristoteles über den Charakter des Staates sämtlich auch Fundamentalprinzipien für die Volkswirtschaftslehre.231 Endlich hat – wie im Anfang des Jahrhunderts Sismondis Theorie vom Reichtum auf Aristoteles hinweist – in der Gegenwart Schmoller seine Lehre von der Verteilung des Einkommens nach dem Verdienst durch den Hinweis darauf unterstützt, daß er damit nur eine Theorie wiederhole, die bereits Aristoteles in seiner Ethik aufgestellt.232 Schon bewegt sich ja auch unsere moderne Gesetzgebung genau in derselben Richtung. Ist es nicht eine Annäherung an das aristotelische Ideal der verteilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit im Verkehr, wenn dank dieser Gesetzgebung der Kreis von Individuen, auf welche der wirtschaftende Mensch Rücksicht zu nehmen hat, in beständigem Wachsen begriffen ist?

Doch sehen wir von den einzelnen Problemen ab und halten uns an die Auffassungsweise des hellenischen Sozialismus im allgemeinen. Müssen wir nicht auch da trotz aller Verirrungen eines abstrakten und ideologischen Dogmatismus anerkennen, daß in der ganzen Art und Weise, wie hier die Dinge angeschaut werden, ein Fortschritt von größter Bedeutung lag?

Die hellenische Staatslehre hat für alle Zukunft gezeigt, daß für die Realisierung der Ideen, welche in Staat und Recht zur Verwirklichung zu gelangen suchen, nicht bloß das System der politischen Institutionen, die Ordnung und Verteilung der staatlichen Gewalten von Bedeutung ist, sondern noch mehr die Welt der Güter und Interessen, jener gewaltigen bei der Gestaltung aller menschlichen Dinge mitwirkenden Faktoren, die durch ihre Macht über den einzelnen auch auf die Gesellschaft mit elementarer Kraft zu wirken vermögen. Zum ersten Male tritt uns hier in der Geschichte der politischen Wissenschaften ein tieferes Verständnis für die Natur der gesellschaftlichen Gegensätze und für die Gefahren entgegen, mit welchen das wirtschaftliche Güterleben und die Verteilung des Besitzes das Edelste im Menschen, die höchsten Kulturinteressen der Gesamtheit bedroht.

Wie hoch steht die hellenische Staatslehre mit dieser Erkenntnis über jenem Doktrinarismus, der Staat und Volk nur als eine Summe von Individuen zu denken vermag und über dem ausschließlichen Gegensatz von Individuum und Staat jene wichtige zwischen dem Leben des[486] einzelnen und dem des Staates in der Mitte liegende Sphäre übersieht, die wir Gesellschaft nennen. Durch ihre Analyse der sozialen Erscheinungen hat die hellenische Staatslehre jene tiefere Auffassung des Staates und der staatlichen Zwecke begründet, welche ihr Augenmerk vor allem darauf richtet, wie sich die verschiedenen Elemente der Gesellschaft, die sozialen Klassen zueinander und zum Staate verhalten oder verhalten sollen, wie überhaupt Staat und Gesellschaft als zwei selbständige in ewigem Antagonismus sich gegenüberstehende und doch wieder sich gegenseitig durchdringende Lebenskreise aufeinander wirken.

Diese soziale Auffassung der Dinge, welche die Regierungssysteme vor allem auf ihre soziale Brauchbarkeit hin beurteilt, hat einen Aristoteles befähigt, den Wechsel der Verfassungsformen und die Gestaltung der politischen Parteikämpfe in ihrem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Gliederung des Volkes, die Abhängigkeit der staatlichen Entwicklung von der Gesellschaftsordnung und von der materiellen Grundlage derselben, der Verteilung des Besitzes, in einer Weise klarzulegen, daß einer der hervorragendsten Vertreter der modernen Staatswissenschaft von ihm gesagt hat, seine Politik würde in dieser Hinsicht für die Staatswissenschaft der Zukunft das sein, was Kopernikus' Organon für die Astronomie gewesen.233

Anderseits ist jedoch die aristotelische Staatslehre in der Betonung der ökonomischen Faktoren keineswegs soweit gegangen wie der sogenannte wissenschaftliche Sozialismus der Gegenwart.

So bedeutsam das volkswirtschaftliche Moment, insbesondere das des Klassenkampfes in seiner Analyse verfassungsgeschichtlicher Entwicklungen in den Vordergrund tritt, Aristoteles ist doch weit entfernt von jener materialistischen, die Geschichte einzig und allein vom Standpunkte des Klassenkampfes aus betrachtenden Anschauungsweise, welche das ökonomische Moment geradezu als das immer und überall bestimmende, für die Gestaltung der Gesellschaft einzig und allein ausschlaggebende hinstellt und das gesamte politische, rechtliche, geistige und religiöse Dasein des Volkes nur als einen Überbau gelten läßt, dessen Gestaltung durch das ökonomische Fundament und die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft unbedingt vorgezeichnet sei.

Dieser Glaube an die Allmacht der rein wirtschaftlichen Faktoren mußte ja von vorneherein einer Auffassungsweise fremd bleiben, welche[487] die Gleichberechtigung der wirtschaftlichen Zwecke mit den ethischen Zielen grundsätzlich leugnete und das höchste Endziel aller Politik darin sah, den Staat, seine Gesetzgebung und Verwaltung von den gemeinen Interessen des Güterlebens möglichst zu emanzipieren.

Allerdings hat auch der hellenische Sozialismus mit psychologischer Notwendigkeit durch eine Entwicklungsphase hindurchgehen müssen, die sich durch eine starke Überschätzung der Abhängigkeit des sittlichen Lebens von wirtschaftlichen Faktoren charakterisiert. In den überschwenglichen Hoffnungen, welche Plato auf eine sittliche Wiedergeburt durch den Kommunismus setzte, und in der Art und Weise, wie er das Privateigentum für den Verfall der Sittlichkeit verantwortlich machte, tritt uns ja diese Verirrung drastisch genug entgegen. Allein wie rasch ist gerade hier die Korrektur erfolgt! Schon der aristotelische Sozialismus hat sich von diesen Illusionen über die allheilende Kraft des Kommunismus wieder emanzipiert und ihnen gegenüber die sittliche Unvollkommenheit der Menschennatur mit einer Schärfe und Klarheit betont,234 von der der moderne Sozialismus in seiner ökonomischen Einseitigkeit unendlich viel lernen könnte, freilich auf die Gefahr hin, daß seine Illusionen über die Massenmoral im Zukunftsstaat zerstieben würden wie Seifenblasen.[488]


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die beiden Schwestern Julchen und Lottchen werden umworben, die eine von dem reichen Damis, die andere liebt den armen Siegmund. Eine vorgetäuschte Erbschaft stellt die Beziehungen auf die Probe und zeigt, dass Edelmut und Wahrheit nicht mit Adel und Religion zu tun haben.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon