Erster Abschnitt
Der Stadtstaat als Geburtsstätte des Sozialismus

[114] Eine bedeutsame Realität liegt ja dem Sozialstaat der Legende zugrunde. Es ist die lebendige Wirklichkeit, sozusagen die ganze soziale und geistige Atmosphäre, die den Griechen umgab und die die mannigfaltigsten[114] Keime zur Entstehung einer derartigen Gedankenrichtung enthielt.

Der Boden, in welchem die wirtschaftliche, soziale und politische Existenz des Griechen wurzelt, ist der Stadtstaat, die Polis. Nach außen hin schließt sich diese »autonome« städtische Gemeinde eifersüchtig ab, ihre Politik ist vom Individualprinzip fast bis zur Karikatur beherrscht. Aber eben durch diese Isolierung kommt auf der anderen Seite das entgegengesetzte Prinzip zur Geltung. Sie führt dazu, daß nun die Gemeinde sich um so enger in sich selbst zusammenschließt. Das Korrelat des engherzigsten Stadtegoismus ist der kräftigste Stadtpatriotismus, die in allen einzelnen Gemeindegenossen lebendige Vorstellung von lokalen Gesamtinteressen. Und wie auf dem politischen, so ist es auf wirtschaftlichem Gebiete. Der abgeschlossene staatliche Mikrokosmos der autonomen Gemeinde kann sich in dieser seiner Selbständigkeit nur behaupten, wenn er auch in der Gestaltung der materiellen Grundlagen seiner Existenz nach außen hin möglichst unabhängig dasteht. Er muß allezeit in der Lage sein, im Notfall »sich selbst zu genügen«. Sein höchstes Ideal ist naturgemäß auch wirtschaftlich die »Autarkie«.1 Er kann daher nicht in dem Grade, wie die moderne Stadt, in einer National- oder Volkswirtschaft aufgehen, wo jeder einzelne Produktions- und Konsumtionsort ein völlig unselbständiges Glied in dem Organismus der Gesamtheit aller Einzelwirtschaften ist, und im großen und ganzen überall die Verhältnisse der lokalen Produktion und Konsumtion durch diejenigen der Gesamtheit bestimmt werden. Wenn auch die lebhafte Entwicklung des Verkehrs, des Handels und der Industrie, die werbende Kraft des Kapitales die Schranken zwischen den einzelnen Produktionsgebieten allenthalben durchbrach und die interlokale Produktionsteilung sehr bedeutsame Fortschritte machte, so suchte sich doch jede hellenische Stadt auch wirtschaftlich als ein möglichst selbständiges Ganze zu behaupten, das von sich aus nach seinen besonderen Bedürfnissen Produktion, Verteilung und Konsumtion der Güter, Preisbildung und Absatzverhältnisse regelte. Ein so kleines Staatengebilde, wie es die hellenische Polis war,[115] konnte eben nur eine sehr künstliche Wirtschaftspolitik treiben, zumal dann, wenn die wirtschaftliche Entwicklung und die Zunahme der Bevölkerung eine intensivere wurde. Es ist ja ein altes Gesetz, daß die Zunahme der Menschen auf engem Raum den Menschen unfreier macht.2

Man denke an die Eingriffe in die wirtschaftliche Freiheit zum Schutze der Landeskultur, an die Kornhandel- und Teuerungspolitik mit ihren Taxen und strengen Verboten gegen Aufkäuferei und Lebensmittelwucher, an die Ausfuhrverbote in Bezug auf Bodenprodukte und Rohstoffe der Industrie, an die Begünstigung des lokalen Marktes durch Handelssperren, Straßenzwang und Stapelrechte, durch Eingriffe in den Geld- und Kreditverkehr, an das Vorkaufsrecht des Staates in Bezug auf gewisse für seine Zwecke notwendigen Güter, an die offenbar vielfach vorkommenden staatlichen Monopole u. dgl. m.

»Alles, was Wert heißt, hing bei der relativ isolierten Lage der Städte sehr von ihrer Gewalttätigkeit ab.«3 Selbst die Demokratie hielt eine derartige energische Staatsintervention in wirtschaftlichen Dingen nicht für unvereinbar mit ihrem Prinzip der individuellen Freiheit, mit der – wenigstens in Staaten wie Athen – so hoch entwickelten Freiheit des Eigentums und Verkehres. Gerade in den Zentren des wirtschaftlichen Fortschrittes, wo die Existenz einer zahlreichen Volksmenge auf Handel und Gewerbe beruhte und die heimische Landwirtschaft den Bedarf nicht deckte, mußte es sich besonders häufig fühlbar machen, auf welch schmaler und schwankender Grundlage das städtische Wirtschaftsleben sich aufbaute, welche Gefahren hier jede wirtschaftliche Krisis, jede Unterbrechung der Kommunikation, jede Störung der Güterversorgung durch gewinnsüchtige Spekulation einzelner über die Bevölkerung heraufbeschwören konnte. Eine Situation, die es nicht bloß als ein Recht, sondern geradezu als eine Pflicht der städtischen Obrigkeit erscheinen ließ, die Produktion, Verteilung und Konsumtion der Güter zu überwachen4 und in dieselbe nötigenfalls bestimmend einzugreifen.

Ein solches Recht und eine solche Pflicht ergab sich schon aus der[116] ebenfalls in der Natur des Stadtstaates begründeten nationalen Anschauungsweise über das Verhältnis der Gesamtheit zu ihren einzelnen Gliedern. Durch ihre Selbständigkeit und Abgeschlossenheit erhielt die städtische Gemeinde das Gepräge einer wenigstens nach außen enge verbundenen Gemeinschaft,5 deren Mitglieder sich wohl bewußt waren, wie sehr hier die Wohlfahrt, ja die Existenz des einzelnen von der des Ganzen6 und umgekehrt die Wohlfahrt und Leistungsfähigkeit des Ganzen von der der einzelnen abhing. Und je augenfälliger diese Abhängigkeit selbst für den kurzsichtigsten Egoismus zutage trat, um so mehr war man gewohnt, an der staatlichen Gemeinschaft das zu schätzen, was sie für die allgemeine Kultur- und Wohlfahrtspflege zu leisten vermochte.7 In den Lebensbedingungen des Stadtstaates und nicht in einer Naturanlage des Hellenenvolkes8 oder der angeblichen »antiken Staatsidee« wurzelte die energische Betonung des Wohlfahrtszweckes im hellenischen Staatsleben, die auch durch den schnödesten Klassenegoismus nie ganz verdunkelte Überzeugung, daß die Gemeinschaft verpflichtet ist, für das materielle und sittliche Wohl ihrer Mitglieder zu sorgen, und daß an dieser Pflicht der Gemeinschaft die Freiheitssphäre des Individuums ihre naturgemäße Schranke findet.9 Wo[117] man so lebhaft von dem Gedanken erfüllt war, daß der Mensch und das menschliche Leben erst Wert erhält durch den Staat, da mußte man den Ansprüchen der staatlichen Gemeinschaft an ihre Mitglieder einen weiten Spielraum gewähren. Wie bezeichnend ist es, daß der Begriff der Polizei als der staatlichen Ordnung der gesamten Volkswohlfahrt auf den Begriff der Polis zurückführt!

Wie weit derartige Eingriffe der Obrigkeit in die individuelle Freiheitssphäre einerseits und jene staatliche Fürsorge für das Wohl der Bürger anderseits gingen, das zeigen neben der schon erwähnten Wirtschaftspolitik des Stadtstaates zahlreiche sozialpolitische Maßregeln, wie z.B. gewisse Beschränkungen im Verkehr mit Grund und Boden (das solonische Grundbesitzmaximum!), die Aufwandgesetze und die sonstige Fürsorge für die »bürgerliche Zucht«, die Geschichte der Armenpolitik von dem solonischen Gesetz gegen den Müßiggang bis herab auf die alle Arbeitsunfähigen umfassende staatliche Invalidenversorgung des späteren Athens,10 die staatliche Regelung der Kolonisation, die Landaufteilungen und Schuldenerlasse u. dgl. m. Und entspricht nicht auch der Staatssozialismus Spartas und der dorischen Stadtstaaten Kretas mit ihrer Lokalisierung der Vollbürgerschaft in einer Zentralgemeinde und ihrer »furchtbaren Arbeitsorganisation«11 recht eigentlich dem Geiste der Stadtstaatpolitik?12

Es liegt auf der Hand, daß die geschilderte Entwicklung dem Urteil über das sozialökonomische Geschehen von Anfang an eine bestimmte Richtung geben mußte. Die selbst auf der höchsten, von der Demokratie erreichten Stufe wirtschaftlicher Freiheit nie ganz verloren gegangene Gewöhnung an das regelnde und schützende Eingreifen der öffentlichen Gewalten in den Gang der ökonomischen Privattätigkeit, das den hier ja ohnehin so leicht erkennbaren Zusammenhang zwischen der Einzelwirtschaft und dem Gesamtleben des gesellschaftlichen Körpers immer wieder von neuem energisch zum Ausdruck brachte, sie drängte dem Bewußtsein des hellenischen Staatsbürgers gerade das auf, was die erste Voraussetzung für das Entstehen sozialistischer Gedanken bildet, nämlich[118] die Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedingtheit der individuellen Wirtschaft, insbesondere der Bedingtheit durch die bestehende Rechtsordnung. Hier konnte die jeweilige Ordnung des Eigentums und seines Gebrauches sich unmöglich auf die Dauer als »natürliche« oder – was nach volkstümlicher Anschauung dasselbe – als göttliche und darum unantastbare behaupten. Durch die Entwicklung des praktischen Lebens wurde sie frühzeitig zu einem Problem. Durch die gebieterisch sich geltend machende Notwendigkeit, die Lebensbedingungen der Volkswirtschaft und der von ihr abhängigen bürgerlichen Gesellschaft zu sichern, sah man sich immer wieder (z.B. in der Teuerungspolitik!) vor die Frage gestellt: Wie ist der Inhalt der im Privateigentum enthaltenen Rechte zu bestimmen, damit das Eigentum oder gewisse Arten desselben in dem Prozeß der Erzeugung oder der Verteilung der Güter günstig fungiere, eine etwaige schädliche Benützung des Eigentums verhütet werde?

Schon die Notwendigkeit, auf und von demselben – und noch dazu so engen – Boden leben zu müssen, mußte den Glauben an die Naturgegebenheit und Unveränderlichkeit der sozialen Schichtung und Güterverteilung erschüttern.13 Wie die gewaltige kolonisatorische und Auswanderungsbewegung im Griechentum seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. beweist, haben sich hier die sozialen und ökonomischen Übelstände des Menschenüberflusses im engen Raum schon frühzeitig und sehr intensiv fühlbar gemacht, ist das Verhältnis zwischen Raum und Volkszahl und damit die Land-, d.h. eben die Raumfrage in den Vordergrund des gesellschaftlichen und staatlichen Interesses getreten. Eine Entwicklung, aus der sich der Widerstand gegen eine ungünstige oder »unbillige« Raumverteilung, die Entstehung bodenreformerischer, agrarsozialistischer Tendenzen mit psychologischer Notwendigkeit ergab.

Wenn man aber einmal gewohnt, wenigstens in einzelnen Zweigen der Volkswirtschaft das Herrschaftsgebiet des Privateigentums durch Gesetzgebung und Verwaltung nach Gründen ökonomischer und gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit reguliert zu sehen, so war es nur eine Frage der jeweiligen Anschauungsweise über das, was gesellschaftlich nützlich, gerecht, oder ausführbar sei, wie weit Theorie oder Praxis in der Beschränkung des privatwirtschaftlichen Gebietes gehen würden. Denn eine allgemein anerkannte grundsätzliche Grenze für die Ausdehnung der staatlichen Machtsphäre gab es ja nicht.

[119] Wir sehen das recht deutlich aus einem wirtschaftsgeschichtlich äußerst interessanten Schriftchen der hellenistischen Zeit, dem zweiten Buch der sogen. aristotelischen Ökonomik, welches an einer Fülle von drastischen Beispielen zeigt, mit welch souveränem Belieben die Wirtschaftspolitik des Stadtstaates (die »οἰκονομία πολιτική«, die der Verfasser bezeichnenderweise die »mannigfaltigste und leichteste« nennt) das Wirtschaftsleben beherrscht und gemeistert hat.14 Für die Gewaltsamkeit der hier geschilderten wirtschaftspolitischen Maßregeln – Droysen nannte sie staatswirtschaftliche Monstrositäten15 – gibt es überhaupt keine Schranken als die physische Unmöglichkeit. Und wenn es auch Ausnahmemaßregeln waren und in dieser Häufigkeit nur in Zeiten politischer Auflösung vorkamen, so ist es doch bezeichnend genug, daß dergleichen überhaupt möglich war. Die öffentliche Gewalt war sich eben bewußt, daß die »Polis nicht nur das ganze politische Dasein des Bürgers, sondern auch das ökonomische völlig in ihrer Gewalt hatte, nicht nur sein Vermögen, sondern auch die Werte aller Dinge,« – und sie hat unter Umständen rücksichtslos die letzten Konsequenzen aus dieser »ökonomischen Tyrannis« gezogen.16

Nun fanden allerdings die in der Natur der Stadtstaatwirtschaft liegenden zentralistischen Tendenzen ein starkes Gegengewicht in dem lebhaften Interesse an der Freiheit des privatwirtschaftlichen Verkehrs, wie es durch die kapitalistische Entwicklung des Wirtschaftslebens, durch Handel, Industrie und Geldwirtschaft hervorgerufen war. Allein gerade solche Konzessionen an die dem kapitalistischen Bedürfnis entsprechende Politik des Gehenlassens haben ihrerseits wieder dazu beigetragen, im Volksbewußtsein den Glauben an den Beruf des Staates zum regelnden und schützenden Eingreifen wachzuhalten. Der von der Freiheit ja unzertrennliche selbstsüchtige Mißbrauch des Privateigentums, durch die es zum Ausbeutungsmittel gegenüber anderen wird, die auch ohne solchen Mißbrauch durch die bloße Übermacht des Besitzes geschaffenen Gegensätze mußten in der sozialen Atmosphäre eines hellenischen Gemeinwesens immer wieder eine Reaktion in diesem Sinne herbeiführen.

Die Bürger eines solchen Gemeinwesens konnten es unmöglich auf die Dauer in dumpfer Resignation wie ein Naturereignis hinnehmen, wenn sie sich durch die bestehende Eigentumsordnung die Bedingungen einer[120] gedeihlichen Entwicklung ihres Daseins unterbunden oder gar ihre ganze Existenz gelähmt und untergraben sahen. Ihnen war ja stets die Macht allgegenwärtig, welche hier schützend und helfend eintreten konnte. Der Staat war für sie nicht ein abstraktes, mysteriöses Wesen, dem der einzelne innerlich fremd gegenüberstand. Ihre Polis mit der allen Bürgern gemeinsamen Zentrale, die nach einem schönen Wort von Curtius »darauf berechnet war, daß sie ein übersichtliches Ganze sei, daß in Theatern, auf dem Markte, im Volksversammlungsraume die ganze Bürgerschaft vereinigt sei, und des Herolds Ruf, sowie des Redners Stimme jeden Bürger erreiche«17 – diese Polis war für sie etwas sehr Konkretes, Leibhaftiges, gleichsam ein großes Individuum,18 auf dessen Willen einzuwirken auch der Niedere hoffen durfte. Sie sahen es täglich vor Augen, wie mannigfaltig die Möglichkeiten zur Betätigung dieses Willens waren, wie gewaltig die Macht ihres Gemeinwesens gerade auf wirtschaftlichem Gebiete war. Wie hätte da nicht auch der Arme, der Notleidende, der im Kampf ums Dasein Erliegende seine Frage an den Staat haben sollen, zumal wenn er erwog, was alles schon mit Hilfe dieser Macht die Starken der Gesellschaft für sich und ihr Interesse zu erreichen vermocht hatten? Warum sollte sich mit einem so gewaltigen Werkzeug sozialer Hilfe und sozialen Schutzes nicht auch für die Schwachen Großes ausrichten lassen?

In der Tat tritt uns, wenn wir diese Verbindungsfäden zwischen dem eigentümlichen geschichtlichen Charakter des Stadtstaates und dem Seelenleben des Volkes aufmerksam verfolgen, sofort als eine überaus bezeichnende sozialpsychologische Tatsache der naive Glaube an die Allmacht des Gesetzes entgegen: die Anschauung, daß alles Gewordene nur die Wirkung zweckbewußter menschlicher Tätigkeit ist. Was in Recht, Staat und Gesellschaft besteht, wird auf den Willen eines »Gründers« oder Gesetzgebers zurückgeführt. Wer die Klinke der Gesetzgebung in die Hand bekommt und es nur an der nötigen Entschlossenheit und Konsequenz nicht fehlen läßt, der kann nach dieser Ansicht wahre Wunder wirken. Es ist echt volkstümliche Anschauungsweise und nicht ihr spezifisch eigentümlich, wenn die hellenische Sozialtheorie die[121] Fähigkeit des Staates zur Leitung der im sozialen Leben wirksamen Kräfte so überaus hoch anschlägt, wenn sie durch einfache Gebote und Verbote der Staatsgewalt die machtvollsten geschichtlichen Entwicklungen aus der Welt schaffen, das ganze Volksleben in neue Bahnen zwingen zu können glaubte. Auch außerhalb der Lehrsäle der »Philosophen« begegnen wir genau demselben Optimismus.

Was hat man nicht alles bei den Männern für möglich gehalten, die als die ersten die systematische Hebung unterdrückter und ausgebeuteter Volksklassen, in gewissem Sinne »den Kampf gegen Armut und Reichtum« von Staats wegen in die Hand genommen haben! Damit alle Bürger selbst arbeiten müssen oder zu arbeiten haben, erläßt Periander, der Typus des imperialistischen Sozialpolitikers, ein radikales Verbot gegen den Ankauf von Sklaven.19 Und das in einer Stadt, wie Korinth, deren glänzende industrielle und kommerzielle Blüte auf einer ausgedehnten Sklavenwirtschaft beruhte, und während alle Welt ringsum an der bestehenden Arbeitsverfassung festhielt, ja dieselbe immer weiter entwickelte! Der Üppigkeit geht er zu Leibe, indem er alle Kupplerinnen – in der Stadt der Aphrodite! – ersäufen läßt20 und eine soziale Kontrollbehörde einsetzt, die »nicht zuließ, daß jemand mehr ausgab, als sein Einkommen zuließ«.21 Um die Entstehung eines städtischen Proletariats zu verhindern, verbietet er einfach die Übersiedlung vom Lande in die Stadt u. dgl. m. Der »Philanthrop« auf dem athenischen Fürstenthron, Peisistratos, soll dem gemeinen Manne eine so ideale Fürsorge gewidmet haben, daß man noch in später Zeit von ihm rühmte, das athenische Volk habe es unter ihm fast so gut gehabt wie im Kronosreich!22 Und vollends die großen Gesetzgeber! Aus der wahrlich tief genug in alle Eigentumsverhältnisse eingreifenden und für den Besitz ohnehin mit enormen Opfern verbundenen »Lastenabwälzung« Solons hat man eine radikale Kassierung aller Schuldverbindlichkeiten, auch der im Handel und Geldverkehr kontrahierten, gemacht, ohne Ahnung von der Zerrüttung[122] der ganzen Volkswirtschaft, die ein solcher Schritt zur Folge gehabt hätte.23

Und was will selbst dieser solonische Radikalismus besagen gegenüber dem, was man von dem sagenhaften Schöpfer der attischen Staatseinheit, dem Nationalheros Theseus, und von Lykurg, dem sozialen Heiland Spartas, zu berichten wußte! Theseus tritt hier auf als wandernder Apostel der Einheitsidee, der in dem politisch zerrissenen Attika von Gemeinde zu Gemeinde zieht, um die Bewohner durch die Macht seines Wortes für diese große Idee zu gewinnen. Und die Niedrigen und Armen folgen dem Rufe sofort, die Mächtigen aber gewinnt er durch den Verzicht auf die Krone und das Versprechen einer freien Verfassung, so daß auch den Widerstrebenden nichts anderes übrig bleibt, als sich zu fügen. Darauf werden die Prytaneen, Rathäuser und Obrigkeiten der bis dahin souveränen Gemeinden ohne weiteres beseitigt und ein allen gemeinsames Prytaneion und Rathaus an einem Ort begründet, dem er den Namen Athen gibt und den er durch zahlreiche überallher berufene Einwanderer vergrößert. Damit aber durch diese bunte Mischung der Bevölkerung nicht Unordnung und Verwirrung in dem jungen Freistaat entstehe, gliedert er das Volk in drei Klassen, Adelige, Bauern und Handwerker, und bestimmt zugleich deren Stellung im Staat.24 Ein großer Zauberer! Und nun vollends das spartanische Gegenstück, der »Götterliebling« Lykurg! Es ist wahrhaft wunderbar, mit welcher Schnelligkeit er einen radikalen Umsturz der ganzen Staats- und Gesellschaftsordnung, einen geradezu unerhörten Umschwung in Volkswirtschaft, Recht und Familienleben, ja sogar in den sittlichen Ideen und Empfindungen eines ganzen Volkes durchzusetzen vermag! Es genügt, daß dreißig der angesehensten Bürger, die er für seine Gedanken gewonnen, bewaffnet auf dem Markt erscheinen, und die Ausführung des großen Werkes ist in der Hauptsache gesichert. Die Widerstandsversuche der Reichen werden einzig durch den Eindruck der moralischen Überlegenheit des Mannes schon im Keime erstickt und alles Weitere ist dann das Werk gütlicher Überredung. Im Handumdrehen sind die Bürger überzeugt, daß es für sie das Beste sei, alle Besitzesunterschiede zu beseitigen, und daß es möglich sei, auf diesem Wege auch alle Folgeübel von Armut und Reichtum: Übermut und Neid, Ungerechtigkeit und Schwelgerei aus der Welt zu schaffen! Sie lassen es sich gutmütig gefallen, daß der große Mann ihnen sogar[123] den besten Teil ihres beweglichen Besitzes nahm, indem er alles Gold- und Silbergeld einzog und durch ein ganz primitives Tauschmittel, ein eisernes Geld, ersetzte, daß er alle »unnützen und überflüssigen« Künste beseitigte und alt und jung, Mann und Weib einem System staatlicher Regulative unterwarf, das nicht nur, wie Theophrast sich ausdrückt, »den Reichtum arm und unwert machte«, sondern auch einen radikalen Bruch mit dem ganzen bisherigen Dasein des Bürgers bedeutete!25

Wenn man dergleichen in den Kreisen der Gebildeten für möglich gehalten hat, wie weit müssen da die Träume hungernder Proletarier, die leidenschaftlichen Begierden demagogisch verhetzter Massen geführt haben! Wir können sagen: Auch die in Proletarierköpfen entstandenen Ideen der Weltverbesserung mußten vielfach eine kommunistische oder sozialistische Färbung annehmen, aus dem einfachen Grunde, weil eben die Entwicklungstendenzen des hellenischen Stadtstaates – im Sinne der Masse bis in ihre letzten Konsequenzen verfolgt – ganz naturgemäß zu diesem Ergebnis führten.

Die Polis hat sich uns dargestellt als eine Gemeinschaft, deren Glieder sich durch ein lokales Gesamtinteresse gegenüber der Außenwelt aufs engste verbunden fühlten. Aus dieser Interessengemeinschaft und der allen gemeinsamen Pflicht, für dieselbe jederzeit mit Gut und Blut einstehen zu müssen, entwickelte sich unter den Gliedern der Gemeinschaft ein starkes Gefühl der Gleichheit, das zuletzt seinen Ausdruck fand in der Forderung gleichen Rechtes der Genossen in der Gemeinschaft. Der Stadtstaat wird zu einer Stätte der Demokratie! Gleiches Recht im Staat ist aber auch gleiches Recht am Staat. Die Wohlfahrtspflege des Staates, die Fürsorge für den »gemeinen Nutz und Frommen«, zu der eben recht eigentlich die Polis berufen war, soll allen, ohne Unterschied in gleicher Weise zugute kommen.26 Auch im Niedrigsten wird die Überzeugung lebendig, daß, wenn Selbsthilfe und Privathilfe versagt, die Gesamtheit für ihn eintreten müsse. Nur insofern ist der Staat für ihn eine Organisation des allgemeinen Besten, als er eben in demselben sein eigenes Wohl inbegriffen weiß. Wie für die mittelalterliche Stadtobrigkeit Förderung des »gemeinen Besten« und »Wohlfahrt der Armut«27 zusammengehörige Begriffe sind,[124] so hat sich schon der antike Stadtstaat dieser aus seinem ureigensten Wesen entspringenden Konsequenz nicht entziehen können.28 Welche Dienste leistete er gerade dem Armen durch den gesetzlichen Schutz gegen Verteuerung des Brotes, durch die staatliche Invalidenversorgung u. dgl. m. Und warum hätte er ihm nicht noch mehr leisten sollen als dieses?

Wenn die staatliche Gemeinschaft ein Mittel zur Befriedigung der Interessen aller war, und wenn ein demokratischer Radikalismus den Anspruch erhob, daß jeder gleiches Recht im Staate habe, so ergab sich auf diesem Standpunkt ganz von selbst die weitere Forderung, daß der Staat ein für alle gleich nützliches Werkzeug sei. Konnte er aber diese Funktion völlig frei betätigen unter Verhältnissen, wie sie sich auf dem Boden der bestehenden wirtschaftlichen Rechtsordnung herausgebildet hatten? Das Eigentums- und Vertragsrecht, auf welchem die ganze Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beruhte, erwies sich für einzelne Individuen und Klassen unverkennbar vorteilhaft, für andere nachteilig. Es wirkte vielfach als eine Ursache der Ungerechtigkeit, hier unverdienten Reichtums, dort unverschuldeten Elends. Indem der Staat diese Ordnung sanktionierte und schützte, fungierte er also keineswegs als ein für alle gleichwertiges und gleich nützliches Mittel zur Förderung ihrer Wohlfahrt. Und nun denke man sich in die Seele eines geistig so eminent regsamen Volkes hinein, in welchem die Reflexion über das soziale Seinsollen so frühzeitig erwacht ist! Wie bitter mußte unter dem Druck ungünstiger sozialer Verhältnisse dieser Widerspruch zwischen den Ansprüchen an die staatliche Gemeinschaft und deren tatsächlichen Leistungen in einem Volke empfunden werden, das eine so sanguinische Vorstellung von dem hatte, was sich alles mit Hilfe der Staatsgewalt bei gutem Willen erreichen ließe! Mußte nicht der Glaube an die Allmacht des Gesetzes, verbunden mit der Unfähigkeit eines ungeschulten Denkens, jene »Ungerechtigkeiten« aus der Natur der Dinge selbst, aus den neben dem Recht mitwirkenden technischen, ökonomischen, ethischen Faktoren zu begreifen, in so gestimmten Gemütern die Vorstellung erwecken: Wenn die Rechtsordnung für so viele eine Quelle des Glückes werden kann, warum nicht für alle? Ist nicht auch eine andere Gestaltung des Eigentumsrechtes denkbar, welche allen[125] gleichmäßig ein sicheres und glückliches Dasein verbürgt, in Tat und Wahrheit das allgemeine Beste verwirklicht, wie es die Prinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit forderten? Mit der Idee einer so engen Gemeinschaft, wie sie eben die Polis verwirklichen sollte, war es ja auf die Dauer unvereinbar, wenn durch die Ungleichheit von Besitz und Einkommen Gegensätze in der Gesellschaft entstanden, welche die Einheitlichkeit des Bürgertums völlig zerstören mußten.29

So stellte sich ganz folgerichtig der Gedanke ein, daß die überkommene Ordnung des Güterlebens durch eine zwangsweise gesellschaftliche Regelung der Güterverteilung im Sinne jener Prinzipien umzugestalten sei. Der Demokratismus im hellenischen Stadtstaat erzeugt als sein logisch notwendiges Komplement den Sozialismus.

Erscheint doch jener Gedanke nicht einmal so besonders utopisch, wenn man erwägt, daß er nur die letzte Konsequenz des geschilderten Systems staatlicher Regulative darstellt und anderseits nur für Verhältnisse Geltung beansprucht, unter denen die Möglichkeit einer einheitlichen und planmäßigen Regelung des Güterlebens nicht von vorneherein in Abrede gestellt werden kann. In dem engen Rahmen des Stadtstaates, wo nicht das Schwergewicht großer Flächen und großer politischer Dimensionen hemmend im Wege stand, wo sich eine wirksame Beherrschung des ganzen Volkslebens von einer einheitlichen Spitze aus leicht durchführen ließ,30 da konnte man in der Tat an den Erfolg sozialistischer Experimente glauben, und an Projekten der Art hat es ja in der Tat nicht gefehlt.

Auch blieb es keineswegs bloß bei Projekten. Die Eigenschaft des kleinen Raumes, leichter bewältigt zu werden, reizt zur Tat. Hier wo Menschen, Gesellschaftsklassen, Interessengruppen einander so nahe gebracht werden und die Gegensätze in so engem Rahmen aufeinanderplatzen, werden die politischen, sozialen, ökonomischen Reibungswiderstände besonders intensiv empfunden und drängen daher mit besonderer Wucht auf eine gewaltsame Entscheidung. Daher ist der Stadtstaat von jeher die klassische Stätte des politischen Experimentes und bürgerlicher Unruhen gewesen. Es gilt für ihn ganz allgemein das, was Plato einmal[126] von der demokratischen Polis gesagt hat, daß sie nämlich gewissermaßen ein politisches Warenhaus (παντοπώλιον πολιτειῶν) sei, in dem jeder, der einen Staat einrichten wolle, eine förmliche Musterkarte von Verfassungen finde!31 Und zwar ist es gerade die Tendenz der Ausgleichung der Unterschiede, welche als hervorstechender Zug der politischen Bewegung im engen Raum erscheint. Wie unendlich viel leichter als in einem großen Staat war es hier dem Proletariat, zur Macht zu gelangen und diese Macht auf Kosten der Minderheit auszunützen, so daß sich wie von selbst als das natürliche Korrelat der dauernden räumlichen Beschränkung das revolutionäre Bestreben einstellt, »alles Überragende herunterzubringen und womöglich auszuscheiden«.32 Ein Trieb, der dem Griechen so in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß ihn Thukydides in der Analyse des griechischen Parteilebens geradezu als einen Trieb der menschlichen Natur als solcher bezeichnet (ἀνϑρωπεία φύσις ... πολεμία τοῦ προὔχοντος! 3, 84), der aber ganz wesentlich aus der sozialen Geographie heraus verstanden und erklärt sein will.

Es ist uns leider nicht vergönnt, in den intimen Äußerungen des Volkslebens selbst die angedeuteten Gedankengänge zu verfolgen. Was man in den Proletarierhütten über den »Kampf gegen Reichtum und Armut« gedacht hat, der doch in den Lehrsälen und in der Literatur mit einem so gewaltigen Aufwand von geistiger Energie geführt ward, darauf läßt die beklagenswert trümmerhafte Überlieferung nur ganz vereinzelte Streiflichter fallen. Wenn irgendwo, so empfindet man hier die schmerzliche Bedeutung des Groteschen Wortes, daß wir von der antiken Literatur eben nur das besitzen, was von dem Wrack eines gestrandeten Fahrzeugs an das Ufer getrieben ist. Hat man von den Ideen eines agrarischen Sozialismus, die im 6. Jahrhundert unter dem bäuerlichen Proletariat Attikas auftauchten, noch vor wenigen Jahren – vor der Wiederauffindung der aristotelischen Verfassungsgeschichte Athens – eine einigermaßen genügende Vorstellung gehabt und was will selbst unsere jetzige Kunde besagen?

Um so sorgfältiger wird man solchen direkten Spuren nachgehen müssen, und wo sie uns verlassen, werden wir wenigstens mittelbar einigen Ersatz zu gewinnen suchen durch eine Analyse der sozialökonomischen und politischen Zustände. Wenn diese Zustände, wie uns die Entwicklungsgeschichte des Stadtstaates gezeigt hat, immer gewisse – ihnen entsprechende – Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins[127] erzeugen, so wird sich teilweise noch feststellen lassen, inwieweit eine gewisse Präsumtion für das Vorhandensein kommunistischer und sozialistischer Ideen gegeben ist, die ja stets nur der ideale Reflex gewisser Strukturveränderungen der Gesellschaft sind.33 Erst dann, wenn wir eine genaue Vorstellung von der geschichtlichen Entwicklung gewonnen haben, als deren Ergebnis die Entstehung solcher Ideen zu begreifen ist, können wir beurteilen, ob das, was uns zufällig überliefert wird, auch tatsächlich eine vereinzelte Erscheinung oder von allgemeinerer Bedeutung war.

Von der vollen geschichtlichen Bedeutung jener Ideen freilich, von der Rolle, die sie im hellenischen Volksleben gespielt haben, läßt sich auch so nur eine äußerst mangelhafte Vorstellung gewinnen. Die Zufälligkeiten der Überlieferung, von denen wir eben immer abhängig bleiben, müssen die Darstellung notwendig ungleichmäßig machen, die »wahren Proportionen des Objekts« verschieben.34 Genug, wenn man sich dieses Abstandes zwischen Darstellung und Wirklichkeit stets bewußt bleibt!

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 114-128.
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