1. Der Kampf gegen die »Reichen« im Volksstaat

[251] So alt wie die Demokratie ist in Hellas die feindselige Spannung zwischen arm und reich. Nirgends, soweit wir die Geschichte der Menschheit kennen, hatte sich bis dahin dieser Gegensatz in solcher Klarheit und Schärfe, ich möchte sagen, mit solcher Bewußtheit geltend gemacht, wie seit der Zeit, in der – auf hellenischem Boden – die Gedanken der Freiheit und Gleichheit ihren siegreichen Einzug in das staatliche Leben gehalten, und so auch dem gedrückten und leidenden Teile der bürgerlichen Gesellschaft eine Stimme bei der Erörterung und Entscheidung der allgemeinen Volksgeschicke zugefallen war.

Sofort nachdem die Masse in die Welt des geschichtlichen Handelns eingetreten, an der Wiege der Demokratie, tritt uns dieser Zwiespalt im Leben des Volkes scharf ausgeprägt entgegen. Der große Staatsmann, der der athenischen Volksherrschaft die Wege bereitete, bezeichnet in der Elegie, in der er das Ergebnis seines Wirkens zusammenfaßt, als die beiden feindlichen Heerlager, zwischen denen er zu vermitteln hatte, den Demos einerseits und die Mächtigen, die »im Reichtum prunkten«, anderseits.428 Er muß »den starken Schild über beide halten«, weil der Sieg der einen Partei über die andere nur Unrecht und Gewalt zur Folge gehabt hätte.429

[251] Und dieser Gegensatz beherrscht seitdem das ganze politische Leben der Nation. Diejenige politische Richtung, welche sich mit dem demokratischen Gleichheitsprinzip nicht zu befreunden vermag, erscheint immer zugleich als die Vertreterin des Interesses der Reichen (πλούσιοι, εὔποροι), der Besitzenden (κτηματικοί), derer, die »das Geld oder Vermögen haben« (οἱ τὰ χρήματα ἔχοντες oder κεκτημένοι τὰς οὐσίας), der »wenigen« (ὀλίγοι) gegenüber der »Menge« (τὸ πλῆϑος) oder den »vielen« (οἱ πολλοί).430 Der Reichtum wird geradezu als der Zweck und das »Prinzip« des oligarchischen Regierungssystems bezeichnet.431 Hier herrscht der Reiche, der arme Mann hat nichts zu sagen.432 Er ist ja nach der Auffassung des anonymen Oligarchen, in dessen Pamphlet gegen die athenische Demokratie das Gefühl der grundsätzlichen Feindschaft zwischen den Armen und dem Demos einerseits und den »Vornehmen und Reichen« anderseits so drastisch sich äußert, von der Natur zum Dienen bestimmt.433 Hinwiederum erscheint die Demokratie als diejenige Staatsform, die zum Vorteil des Armen da ist.434 Daß sie den Armen und Schwachen schützt und ihm gleiches Recht mit dem Reichen gewährt, ist ihr Ruhmestitel, den Euripides schon durch den mythischen Heros der Demokratie, durch Theseus, mit emphatischen Worten verkünden läßt,435 der aber freilich nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß der Klassengegensatz hier erst recht sich fühlbar macht. Sagt doch derselbe Dichter von dem Athen seiner Zeit:


»Drei Bürgerklassen gibt es: was die Reichen anbetrifft,

Sie nützen niemand, trachten nur für sich nach mehr.

Die Armen, die des Lebensunterhalts ermangeln,

Sind ungestüm und richten schnöderem Neide zugewandt[252]

Auf die Begüterten der Scheelsucht Pfeile,

Getaucht in Zungengift verlockender Verleiter.

Der Mittelstand nur ist der wahre Bürgerstand,

Für Zucht und Ordnung wachend, die das Volk gebot.«436


Ja, dieser Gegensatz beherrscht so sehr die Vorstellungsweise der Zeit, daß derselbe Staatstheoretiker, der sonst so entschieden die Bedeutung des Mittelstandes hervorhebt,437 gelegentlich einmal den Satz ausspricht: »Die Staaten bestehen aus zwei Teilen, den armen Leuten und den Wohlhabenden.«438 Kern Wunder, daß eben das, was Solon bei Beginn der demokratischen Epoche als Aufgabe der Diktatur proklamiert, Jahrhunderte später ein Aristoteles als Beruf des Königtums erklärt, daß es nämlich diejenigen, »in deren Hand der Besitz ist«, und den Demos gegenseitig vor Vergewaltigung schützt.439

Wie sich auf plutokratischer Seite der Gegensatz zuspitzt bis zu dem furchtbaren Schwur der oligarchischen Geheimklubs, daß man dem Volke grundsätzlich feind sein wolle, so ist auch der Masse längst der Gedanke aufgegangen, daß der Reichtum der natürliche Feind der Freiheit und Gleichheit sei. Und nach der Ansicht des genannten oligarchischen Pamphletisten bedeutet es in der Tat geradezu eine Verstärkung der dem Volke feindlichen Macht, wenn es den Reichen gut geht.440 Es genügt daher unter Umständen die bloße Tatsache, daß man Geld hat, um als Volksfeind verdächtigt zu werden.441 Und eben darum hing gerade die Armut mit solcher Inbrunst am Volksstaat, weil sie in ihm die sicherste Schutzwehr gegen die Herrschsucht der besitzenden Minderheit sah. Unleugbar schlimme Erfahrungen und die Begierden in der eigenen Brust sagten dem gemeinen Manne nur zu deutlich, wessen er sich von oben her zu versehen hatte, wenn er nicht selbst in der Lage war, mitzustimmen und mitzurichten.

Dazu kam, daß es in der Demokratie niemals an Hetzern fehlte, die es sich angelegen sein ließen, diese Wunde am Staatskörper stets offen zu[253] halten.442 Schon um sich unentbehrlich zu machen, nährten Demagogen und Sykophanten, die »Hunde des Volkes«, geflissentlich das Mißtrauen gegen den Reichtum und die Furcht vor den Gefahren, die dem Volksinteresse – sei es wirklich oder angeblich – von dieser feindlichen Macht drohten. Thukydides hat uns in dem Syrakusaner Athenagoras das Musterbild eines solchen Agitators gezeichnet. »Ich werde« – sagt der Demagoge zu der versammelten Menge – »schon dafür sorgen, daß in unseren Tagen nichts dergleichen unversehens über euch komme, indem ich euch aufkläre und jene, die solches (Unheil fürs Volk) im Schilde führen, züchtige, nicht nur, wenn sie auf offener Tat ertappt werden – denn es ist schwer, ihnen beizukommen –, sondern auch für das, was sie gerne möchten, aber nicht können.443 Denn wo es die Feinde gilt, muß man sich nicht nur vor ihren Taten, sondern auch vor ihren Plänen im voraus schützen. Wer sich hier nicht zuerst vorsieht, muß zuerst leiden. – Jede Herrschaft der Minderheit läßt der Masse zwar ihren Anteil an den Gefahren des Gemeinwesens (Blutsteuer!), von dem Nutzen aber zieht jene nicht nur den größeren Teil an sich, sondern steckt ihn wo möglich ganz und gar ein. Danach steht, ihr hochmögenden Herren, euer Begehr!«444

Es erinnert an die politische Lahmlegung der besitzenden Minoritäten, welche wir gegenwärtig in großen Städten als Ergebnis des allgemeinen gleichen Stimmrechtes und des Klassenkampfes beobachten, wenn der Volksführer im Hinblick auf die hinter ihm stehenden Massen den Besitzenden höhnisch zuruft, daß es für sie in einer großen Stadt glücklicherweise eine Unmöglichkeit sei, ihre schwarzen Pläne zu verwirklichen. – Wie mögen vollends dieses dankbare und unerschöpfliche Thema die Agitatoren der Gasse behandelt haben, deren Treiben Theophrast schildert,445 die »Aufwiegler, welche den Pöbel haufenweise um sich versammeln und mit lauter kreischender Stimme haranguieren«; jene »unausstehliche Sorte von Menschen, die zum Schimpfen und Krakehlen immer eine gelöste Zunge haben und ein Geschrei erheben, daß der Markt und die Marktbuden davon widerhallen«.

Ein noch ergiebigeres Feld der Demagogie, als die Schürung des demokratischen Mißtrauens, war die beständige Reizung des demokratischen Neides446 und der Begehrlichkeit der Masse. »An den Besitz hängt[254] sich der Neid« – ist eine immer wiederholte Klage der Dichtung des demokratischen Athens.447 Und wenn man von der Gegenwart gesagt hat, daß das Elend des Volkes, das ehemals in einem Winkel versteckt war, jetzt sozusagen auf einem Paradebett liege, so gilt das ganz ähnlich auch für den hellenischen Volksstaat. Die »Armeleutemalerei«, wie sie auf der athenischen Volksbühne im Gewande des Humors auftritt, hatte ohne Zweifel ein sehr ernstes Seitenstück in den Hetzreden der Straßendemagogen, für welche es kaum ein wirksameres Agitationsmittel geben konnte als den Vergleich zwischen Proletarierelend und gesättigtem Reichtum. Wenn man an die furchtbaren Anklagen denkt, welche der aus den besitzenden Klassen selbst hervorgegangene Gelehrtensozialismus, wie z.B. der Platos,448 gegen die kapitalistische Gesellschaft schleuderte, so kann man sich denken, welche Formen die soziale Kritik im Munde hetzerischer Agitatoren angenommen hat. Hier begegnete man gewiß noch weit schärferen Akzenten des Grolles und der Entrüstung als bei den kleinen Leuten und Proletariern, die uns die Komödie vorführt.

Aristophanes schildert einmal in seinem Lustspiel vom Reichtum den Typus des aufgeblasenen Protzen, wie er gravitätisch einherstolziert und in prahlerischer Selbstgefälligkeit dem Publikum verkündigt:


»Bei den Göttern, ich will als begüterter Mann

Mir es wohl sein lassen bei Speise und Trank,

Mit Weib und mit Kind, will, wenn ich vom Bad

Heimwandle behaglich und reinlich und glau,

Für die Handwerksleut'

Und die Armut gnädiglich – pupen.«449


Ähnliche, freilich weniger harmlos gemeinte Bilder sind dem Armen sicherlich nicht bloß auf der Bühne vorgeführt worden!

Selbst ein Mann wie Demosthenes, der nach Besitz und Anschauungsweise durchaus der Bourgeoisie angehört,450 hat es vor dem Massengericht keineswegs verschmäht, den Antipathien des Volkes gegen den Kapitalismus zu schmeicheln. Er spricht gelegentlich von den Leuten, die »etwas[255] Besseres sein wollen als die Masse«,451 die, »weil sie reich sind, etwas zu sein glauben«.452 Ja er denunziert einmal geradezu den Richtern einen Angeklagten als übermütigen Geldprotzen und meint allen Ernstes, demselben würde »kein Unrecht und kein Leid geschehen, wenn er (durch Vermögenskonfiskation) der großen Masse der Geschworenen, die er jetzt in seinem frevelhaften Hochmut Bettler schimpfe, gleichgestellt werde, und wenn ihm das Gericht den überflüssigen Reichtum abnähme, der ihn zu solcher Hoffart verleite!«453 – »Ich wüßte nicht,« – sagt derselbe Demosthenes an einer anderen Stelle – »wie das, was der Angeklagte um seiner eigenen Schlemmerei willen im Überfluß zusammengescharrt, der Mehrheit von euch Nutzen bringen könnte!«454 »Auch darf es euch nicht imponieren, wenn einer prächtig baut oder zahlreiche weibliche Dienerschaft und eine stattliche Hauseinrichtung hat, sondern wenn einer darin sich auszeichnet und seinen Ehrgeiz sucht, was ihm mit der Mehrheit von euch gemeinsam ist.«

Es genügt dem Redner, daß der Reichtum in dem betreffenden Individuum den Klassenhochmut großgezogen haben soll, um die Expropriation als gerechtfertigt hinzustellen! Er meint, wenn die Geschworenen dem Manne seinen Reichtum nicht nähmen, würden sie ihm eine Waffe gegen sich selbst in den Händen lassen!455 Eine Logik, mit der man ohne weiteres eine Enteignung der Besitzenden überhaupt rechtfertigen könnte. – Ein anderes Mal sagt er von seinen Gegnern, das Volk solle sie mehr daraufhin ansehen, wie sie aus Bettlern reiche Leute geworden seien und sich Häuser gebaut hätten, die an Glanz die öffentlichen Gebäude überstrahlten; wie ihre Reichtümer um so mehr gewachsen seien, je mehr es mit dem Staate bergab gegangen sei.456 – Oder er wirft einen elegischen Rückblick auf die Zeit, wo sich noch niemand in seinem Privatleben äußerlich vor der großen Masse hervorgetan habe, wo die Häuser der angesehensten Männer ebenso unscheinbar waren, wie die der meisten anderen[256] Bürger,457 während jetzt die Männer in öffentlichen Stellungen in solchem Überflusse schwelgten, daß einige Häuser gebaut hätten, prächtiger als die Staatsgebäude, und andere Land zusammengekauft hätten, mehr als alle Geschworenen zusammen besäßen!

Wenn ein Mann von der gesellschaftlichen und politischen Stellung eines Demosthenes in dieser Weise die Instinkte der besitzlosen Masse aufstachelte, wie mögen da vollends andere gesprochen haben! Hat er doch selbst die Erfahrung machen müssen, daß man ihn infolge des Gebrauchs einer Sänfte wegen »Verhöhnung der Armut« denunzierte!458 Ein weiteres interessantes Beispiel für die hier naheliegende Steigerung bietet der Vergleich mit ein paar Reden, die von unbekannten Nachahmern des Demosthenes stammen und in dessen Werke aufgenommen sind. In der ersten derselben wird das Thema von dem Häuserbau wieder aufgegriffen, in dem ja der Gegensatz von arm und reich am sinnenfälligsten zutage trat. Aber es dient jetzt nicht mehr bloß als Mittel persönlicher Verdächtigung, sondern erhält eine grundsätzliche Motivierung, indem ein Zustand der Gleichheit, wie der jener guten alten Zeit, in der noch kein Bürger besser und reicher als andere bauen wollte, zugleich als der dem Sinn und Geist der Demokratie allein entsprechende bezeichnet wird. Es ist un demokratisch, wenn man größeren Grundbesitz zusammenkauft und in der Stadt Häuser baut, die nicht nur über die der meisten Bürger »sich hoffärtig erheben«, sondern sogar die öffentlichen Gebäude überragen. Es ist un demokratisch, wenn denen, die Herren der (materiellen) Güter sind, das Volk in einem so untergeordneten Verhältnisse gegenübersteht, daß es mit den Brosamen vorlieb nehmen müsse, die ihm jene gnädig zukommen ließen.459 – In der anderen der beiden Reden – der Verfasser ist offenbar ein Mann ohne Ar und Halm – wird dem städtischen Pöbel, der im Volksgericht ja zahlreich vertreten war, die ganze grundbesitzende Klasse als solche denunziert. »Ihr von der Landwirtschaft« – ruft der Redner den Gegnern zu – »besitzt weit mehr, als euch von Rechts wegen zukommt,«460 d.h. ihr seid Ausbeuter des Volkes.

Und das sind Äußerungen, die unter Verhältnissen gemacht wurden, in denen der Klassenkampf sich in gesetzlichen Formen vollzog! Zu welchen Mitteln mag da die Polemik in Zeiten gewaltsamer Ausbrüche[257] des Klassenhasses gegriffen haben, in Zeiten, wo – um mit Thukydides zu reden – »die Natur des Menschen, unfähig, die Leidenschaft zu beherrschen, sich hinwegsetzt über Recht und Gerechtigkeit und alles Hervorragende anfeindend der Gesetze Meister geworden ist«!461 Schade, daß es die militärisch-politischen Absichten seiner Geschichtschreibung einem Thukydides nicht gestattet haben, uns in Rede und Gegenrede auch dieses Kampffeld menschlicher Selbstsucht und Leidenschaft so vor Augen zu führen, wie; eben nur er es vermocht hätte!

Mittelbar vermag man sich übrigens von Ton und Tendenz der sozialen Kritik eine Vorstellung zu machen, wenn man sich die haß- und wuterfüllten Äußerungen der Wortführer der in ihrem Lebensnerv angegriffenen Minderheit vergegenwärtigt, welche ihrerseits die Angreifer als Schurken oder Wahnwitzige stigmatisierten,462 als frivole Heuchler, die die wirtschaftliche Not der Mitbürger nur im persönlichen Interesse rednerisch ausnützten und an nichts weniger als eine wirkliche Beseitigung des Pauperismus, sondern nur daran dächten, wie die, welche als vermögend gelten, den Armen gleichzumachen, d.h. herunterzunivellieren seien.463

Denn der »den Staat in zwei feindliche Teile spaltende Kampf der Demagogen gegen die Reichen«, wie Aristoteles diese Art von Politik treffend bezeichnet hat,464 erschöpfte sich nicht in einer gehässigen Kritik der kapitalistischen Minderheit; vielmehr war er gerade darum so populär, weil er der Masse sehr handgreifliche Vorteile eintrug. Die Masse wußte sehr wohl, daß den »wenigen« gegenüber »in der Demokratie die Klasse der Handarbeiter und Proletarier die zahlreichste und, wenn es zu einer Massenaktion kam, die stärkste« war;465 und sie lernte nur zu bald, wie man die Übermacht der Stimmenmehrheit ausnützen könne, um das Geld der Reichen auf dem Wege der Besteuerung, durch Mißbrauch der Justiz u. dgl. m. in die Taschen des Demos hinüberzuleiten, damit – wie[258] der athenische Pamphletist sich ausdrückt – »der Demos etwas habe und die Reichen ärmer werden«.466

Man denke an die Schilderung der Führer dieser begehrlichen Massenmehrheit bei Plato, die, wo sie können, »den Besitzenden ihr Vermögen entziehen und es unter das Volk verteilen«;467 – die »stachelbewehrten Drohnen«, wie Plato sie nennt, die »in der Masse des Volkes das Gelüste nach dem – eben auf Kosten der Besitzenden zu erbeutenden – Honig nährten«, so daß diese stets in Gefahr waren, »Drohnenfutter« zu werden.468

Die unausbleibliche psychologische Konsequenz dieser Kapitalistenhetze war natürlich die Erschütterung des Rechtsbewußtseins, zunehmende Mißachtung des Eigentums, zu der einen seltsamen Kontrast die hochgesteigerte Empfindlichkeit des Demos bildet, wenn er sich an dem geschädigt glaubte, was ihm zukam. Während er immer weniger Scheu trug, für alle möglichen Zwecke auf Grund Rechtens oder unter Mißbrauch des Rechtes in die Taschen der Wohlhabenden zu greifen, strafte er die, deren Leistungen ihm ungenügend erschienen, so hart, als »hätten sie ihm das Seinige gestohlen«.469

Wir haben über diese Frage eine für die Verhältnisse höchst bezeichnende Betrachtung eines unbekannten Autors,470 der sich an die zwei typischen Gruppen der Besitzenden (εὔποροι, τὰς οὐσίας ἔχοντες) und der Armen (οἱ ἐν ἐνδείᾳ) wendet und ihnen ans Herz legt, was beide zu tun hätten, um dem ewigen Mißtrauen, Groll und Zerwürfnis ein Ende zu machen.471 Hier wird auf das eindringlichste den Armen eingeschärft, daß »der Anteil, den die Bürger an der staatlichen Gemeinschaft haben, eben in dem gleichen Anspruch aller auf Recht und Gerechtigkeit besteht, daß die Besitzenden ihre Existenz gesichert sehen müssen und deshalb nicht in Sorgen zu sein brauchen, daß ferner die anderen Bürger nur das, was wirklich Gemeingut ist, als solches ansehen, woran auch sie Anteil haben, daß dagegen das, was der einzelne für sich besitzt, als Privateigentum respektiert« werde. Es sei das geradezu eine Lebensfrage für jeden Staat.472 – Äußerungen, die beweisen, daß nur zu[259] sehr das Gegenteil von dem im Schwange war, was der Verfasser um des Staates und des sozialen Friedens willen wünschte.

Daher begegnen wir denn auch ganz ähnlichen Ratschlägen über die Behandlung der Besitzenden von seiten der Demokratie in der sonstigen politischen Literatur. So rät z.B. Aristoteles, die Einnahmen aus Konfiskationen und Bußgeldern nicht unter das Volk zu verteilen, sondern als geweihtes, für religiöse Zwecke zu verwendendes Gut dem materiellen Interessenstreit ganz und gar zu entziehen, weil der große Haufe weniger geneigt sein würde, die Angeklagten zu verurteilen, wenn ihm dergestalt kein Gewinn in Aussicht stehe!473 »Die Demokratie« – sagt er – »muß die Wohlhabenden schonen, d.h. sie darf ihr Vermögen nicht einziehen, um es unter das Volk zu verteilen, und sie darf sie auch nicht der Erträge desselben berauben, wie es in manchen Staaten unvermerkt geschieht.«474 Ähnlich heißt es in einer Anweisung für den Berufspolitiker, die von einem Zeitgenossen des Aristoteles herstammt, in der sogenannten Rhetorik an Alexander, daß im Volksstaat die Gesetze derart sein müßten, daß es der Masse unmöglich wird, den Besitzenden nachzustellen, und daß sie ihren Erwerb lieber in der Arbeit als in der Sykophantie sucht. Besonders müßten strenge Verbote und harte Strafandrohungen verhindern, daß es zu einer staatlichen Neuaufteilung des Grundes und Bodens komme, oder daß der Besitz von Verstorbenen für das Volk eingezogen werde!475

Xenophon führt uns einmal in seinem »Gastmahl'« einen armen Teufel vor, der einst ein reicher Mann gewesen und mit einem gewissen Humor die Vorzüge schildert, die seine jetzige Armut vor dem früheren Reichtum voraushabe. Der Sorge ledig, frei und glücklich, könne er jetzt ruhig schlafen, und während er früher seinen Mitbürgern ein Gegenstand des Mißtrauens gewesen sei476 und den Sykophanten habe um den Bart streichen müssen, genieße er jetzt das Vertrauen der Bürgerschaft;477 niemand bedrohe ihn mehr, wohl aber er andere (!).478 Jetzt stehen die Reichen vor ihm auf und machen ihm auf der Straße Platz!479 Damals in[260] Wahrheit ein Sklave, gleiche er jetzt einem König; und während er früher dem Demos gezinst, zinse jetzt die Stadt ihm und ernähre ihn.480 Jetzt habe er nichts mehr zu verlieren, wohl aber stets die Hoffnung, etwas zu bekommen!481

Man wird die Ergüsse des »freien und glücklichen« Proletariers über die »armen« reichen Leute ebensowenig ganz ernst nehmen, wie etwa alle die Klagen der letzteren über ihre Ausbeutung im Volksstaat. Daß aber in diesen Klagen recht viel herbe Wahrheit steckt, ist klar.482 Daher dürfen wir hier wohl auch ein Stimmungsbild heranziehen, in welchem der große Spötter Lukian eben im Hinblick auf das Leben des freien Volksstaates ganz ähnlichen Gedanken Ausdruck gibt; die bekannte Fabel von dem Schuster und seinem Hahn. – Durch den Hahn, den neidischen Gesellen, ist eben der schlummernde Meister aus den süßesten Träumen von Glanz und Reichtum jäh aufgeschreckt worden, so daß er, wie er jammert, nicht einmal im Schlaf die verhaßte Armut loswerden kann. Und in dem Gespräch, das sich nun darüber entspinnt, sucht das kluge Tier den Meister durch den Nachweis zu beruhigen, daß er in seiner Armut; glücklicher sei als der Reiche. »Du – sagt der Hahn u.a. – steigst in die Volksversammlung und tyrannisierst da die Reichen. Sie dagegen zittern vor dir und suchen dich durch Gratifikationen aus dem öffentlichen Schatz (durch ›Austeilungen‹) bei guter Laune zu erhalten. Daß du Bäder, Spiele, Theater u. dgl. m. zur Genüge habest, dafür läßt du sie sorgen. Du dagegen sitzest ihnen immer auf dem Nacken und lässest es an harter Rüge nicht fehlen, kurz spielst ihnen gegenüber den Herrn und würdigst sie oft kaum eines guten Wortes oder regalierst sie wohl gar, wenn's dir beliebt, mit einem tüchtigen Hagel von Steinen oder ziehst ihr Geld ein. Und zu alledem brauchst du nicht bange zu sein vor Sykophanten oder Dieben!«483

Es ist eine Satire, welche die Wirklichkeit karikiert, aber eben doch ein gutes Stück Wirklichkeit enthält. Man werfe nur einen Blick in die Gerichtshöfe, in denen der einzelne mit den kommunistischen Instinkten der Masse den schweren Kampf um Hab und Gut zu bestehen hatte! Nur zu oft handelte es sich hier nicht um die Frage des Rechtes, sondern[261] einzig darum, inwieweit es dem Ankläger gelang, die Begehrlichkeit der Masse aufzustacheln, oder dem Bedrohten, sie abzuwehren.

Daher die für unser Empfinden oft geradezu abstoßende Sprache, welche von den Parteien vor dem Volksgericht geführt wird. Die Angeklagten können sich vor den Geschworenen gar nicht genug tun, bis ins einzelnste vorzurechnen, was sie und ihre Angehörigen für das Volk schon alles aufgewendet hätten;484 und ganz naiv werfen sie die Frage auf, ob der Demos einen größeren Vorteil davon haben werde, wenn er sie freispreche und ihnen ihr Vermögen lasse, oder wenn er es für sich einzöge! Ohne die geringste Scheu weisen sie auf leichtfertige und ungerechte Verurteilungen hin, zu denen sich das Volksgericht hinreißen ließ, weil es in seiner Gier den Besitz der »Reichen« in der Regel stark überschätzt und daher von den Konfiskationen oft eine weit größere Beute erhoffte, als sie sich dann in Wirklichkeit herausstellte.485 Mit cynischer Offenherzigkeit, die einen tiefen Blick in die Volksseele tun läßt, erklärt einmal ein solcher Angeklagter wörtlich seinen Richtern: »Wenn ihr euch jetzt von den Klägern betören laßt und unser Vermögen einzieht, würdet ihr nicht einmal zwei Talente erhalten. Daher sorgt ihr nicht bloß für eure Ehre, sondern auch für euren materiellen Nutzen besser, wenn ihr mich freisprecht.486 Denn ihr habt einen größeren Gewinn davon, wenn wir es behalten. In Wirklichkeit gehört ja dieses Vermögen ohnehin längst euch. Wird es mir entzogen, so kann ich eigentlich nicht mich für benachteiligt halten, sondern euch.«487 – Und als ob es an alledem noch nicht genug wäre, klingt die ganze Rede noch einmal am Schluß in einen kräftigen Appell an das materielle Interesse des Demos aus. »Wenn ihr dies tut, werdet ihr nicht bloß ein gerechtes Urteil sprechen, sondern auch euren eigenen Vorteil wahren.«488 Eine Wendung, die der gewerbsmäßige Redenschreiber, von dem die Rede stammt, als besonders überzeugungsfähig erachtet haben muß; denn er hat sie fast wörtlich in einer anderen Rede wiederholt.489

[262] Ebenda wird weiterhin der Gedanke ausgeführt, wenn die Richter vernünftig seien, müßten sie dem Eigentum des Angeklagten dieselbe Fürsorge angedeihen lassen wie dem ihrigen, da ja das Volk ohnehin über alles verfügen könne, was dem einzelnen gehöre. Der Angeklagte sei ein weit besserer Verwalter seines Vermögens im Interesse des Volkes als die Organe des letzteren, die bei einer Konfiskation doch den Löwenanteil für sich vorwegnehmen würden! Wenn daher das Volksgericht ihn arm mache, werde es das Volk selbst schädigen. – Ja einmal läßt ein Redner sogar deutlich durchblicken, bei der Entscheidung der Geschworenen könnte vielleicht der Neid auf seinen Reichtum mitwirken!490

Eine Besorgnis, die angesichts der ganzen Haltung des Volksgerichts nur zu begründet erscheint. Und die Komödie übertreibt in diesem Falle durchaus nicht, wenn sie die Vertreter dieser Klassenjustiz schildert, wie sie voll Behagen die Reichen vor ihren Füßen zittern sehen, mit welchem Hochgefühl sie das Bewußtsein erfüllt, die Macht zur Demütigung des Reichtums, zur Entscheidung über Sein oder Nichtsein des reichen Mannes zu besitzen.491 Kein Wunder, daß, »wenn das Volksgericht in Aufruhr gerät und Blitze schleudert, auch dem aufgeblasensten Plutokraten der Schreck in die Glieder fährt«,492 daß der arme Mann vor Gericht geradezu die Interessengemeinschaft anruft, die zwischen ihm und den Geschworenen bestehe,493 daß viele, um einen günstigen Spruch zu erreichen, sich möglichst klein zu machen suchen.


»Da beweist mir einer,« – sagt der Heliast bei Aristophanes, – »er sei blutarm, und fügt zu dem wirklichen Elend

Sich noch andres hinzu, bis der meinigen gleich er geschildert die eigene Armut.«494


Und wie haben erst die Leute zum Volk geredet, die, nach einer Äußerung des Heliasten, die Parole ausgegeben hatten: »Für die Masse allzeit zum Kampf bereit!«495 Mit einem Cynismus ohnegleichen haben sie nicht[263] selten die Geschworenen apostrophiert, sie müßten reiche Angeklagte verurteilen, weil sonst der Staatskasse die Mittel fehlen würden, den Sold (für Gericht und Volksversammlung) zu bestreiten!496 Und wenn auch diese Spekulation, wie einmal ein Angeklagter mit einer gewissen Schadenfreude konstatiert, sich zuweilen als trügerisch erwies, so ist es doch nach dem Zeugnis des Aristoteles da, wo die Massenherrschaft bestand, in der Tat ein beliebtes Auskunftsmittel gewesen, die für die Bezahlung der öffentlichen Funktionen der Bürger nötigen Summen durch Konfiskationen und willkürliche Justiz zu beschaffen.497 Mit dürren Worten sagt er: »Die Demagogen von heutzutage lieben es, dem Volke zu Gefallen durch die Gerichte häufig Vermögenseinziehungen vorzunehmen.«498 Ja, Lysias bezeichnet es als etwas ganz Selbstverständliches, daß der Rat, solange genug Geld da ist, sich nichts zu schulden kommen läßt, sobald aber in der Staatskasse Ebbe eintritt, gezwungen ist, Denunziationen anzunehmen, zu Vermögenskonfiskationen zu schreiten und den schlechtesten Rednern zu folgen.499 Eine Praxis, die um so populärer war, als ja diese Erwerbsquelle für den Haushalt des Proletariers und des kleinen Mannes überhaupt immerhin ins Gewicht fiel. Es war für viele dieser »Richter« buchstäblich wahr, was Aristophanes einmal einen Anwalt zu den Geschworenen sagen läßt:


»Ihr habt, o Richter, nicht das liebe Brot,

Wenn in diesem Prozeß nicht auf schuldig wird erkannt.«500


Angesichts solcher Ausschreitungen begreift man die – allerdings von persönlicher Verbitterung eingegebene und stark übertreibende – Klage des alten Isokrates, daß es (vor Gericht) viel gefährlicher sei, für reich zu gelten, als offenkundig schuldig zu sein,501 daß die, denen man ihr Hab und Gut abnehme, zahlreicher seien als diejenigen, welche man für ihre Verbrechen bestrafe! Die Volksrichter – sagt Isokrates – »begünstigen[264] bei Schuldklagen systematisch die Schuldner gegenüber den Gläubigern, den kleinen Mann gegenüber den Besitzenden, und sie fällen ihr Urteil in der stillen Erwartung, sie würden in gleichem Fall an den Freigesprochenen ebenso gefällige Richter finden«.502 »Unter ihnen sind viele, die, weil sie aus Armut von öffentlichen Sporteln leben müssen, sich ganz und gar in den Händen der Denunzianten befinden und ihnen für recht zahlreiche Anklagen geradezu dankbar sind,«503 bei denen es natürlich auch wieder vor allem auf Plünderung der Reichen abgesehen ist. Sind doch die Richter zum Teil durch Neid und Not so verwildert, daß sie es bewußt mit dem Gesindel halten und diejenigen, die ihren Neid erregen, wo sie nur immer können, zu verderben suchen!504 »Wenn ich ein Lump geworden wäre – meint Isokrates – und nichts erübrigt hätte, würde ich von niemand etwas zu fürchten haben.«505

Wie bezeichnend aber ist es, daß derselbe Isokrates da, wo es sich nicht um den eigenen Geldbeutel, sondern um den Sachwalterdienst für einen andern handelt, ebenfalls die Stimmung des Volksgerichts gegen die reichen Leute systematisch ausbeutet! Er kann den Kläger, für den er die Rede schreibt, nicht oft genug versichern lassen: er sei arm und einer von der Masse,506 das Gericht dürfe die Armen nicht geringer bewerten als die Reichen, weil es sich selbst heruntersetzen würde, wenn es derart von den »vielen« dächte, wenn in einem demokratischen Staat nicht allen das gleiche zuteil würde und bei den Abstimmungen die besser wegkämen, welche das Geld haben.507 Die Masse der Bürger dürfe nicht verächtlich werden.508 Daher sollten die Richter bedenken, daß sie hier in eigener Sache urteilten; und ein verständiger Richter urteile immer so, daß sein Spruch nicht bloß dem Recht, sondern zugleich seinem eigenen Vorteil diene!509

Kann man sich bei diesem systematischen Hineintragen des Klassengegensatzes in die Justiz noch verwundern, daß der Pöbel, der in diesem Kampf um das Eigentum so oft das entscheidende Wort sprach, »einer völlig verdrehten und lüsternen Phantasie unterlag, wie ein Tagdieb immer ans Essen denkt, und sich die Habe der Opfer, die mögliche Beute nach seiner Gier ausmalte«?510 Ging doch diese[265] Gier gelegentlich so weit, daß das souveräne Volk das von ihm selbst im Gerichte dem Bürger entzogene Eigentum unmittelbar unter die einzelnen verteilen ließ! So sind z.B. in Athen einmal nicht weniger als 160 Talente, das Vermögen eines reichen Bergwerksbesitzers, unter die Bürger verteilt worden, wobei auf den Kopf an die 50 Drachmen kamen!511 Und daß diese – von den Demagogen natürlich weidlich ausgebeutete – Lust am Teilen nicht etwas Vereinzeltes, sondern eine sozialpsychische Begleiterscheinung der extremen Demokratie überhaupt war, ist zur Genüge bezeugt.512


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 251-266.
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