3. Der sozialrevolutionäre Demokratismus

[282] Mit der Demokratie war Hellas in das Zeitalter der Diskussion, der freien »Erörterung« eingetreten, welche den Geist gewöhnte, alles Bestehende auf seine Gründe, auf seine innere Berechtigung hin zu prüfen. Eine Gewöhnung, vor der das bloße Herkommen, das traditionell Bestehende als solches an Bedeutung notwendig verlor. »Ein Gegenstand, der einmal diesem Gottesurteil unterworfen wurde, kann ihm nie wieder entzogen werden. Er kann nie wieder in Geheimnisse gehüllt oder durch eine Weihe geschützt werden: er bleibt immer der freien Wahl und der profanen Erörterung ausgesetzt.«576

»Ihr seid Sklaven des Außerordentlichen und Verächter des Gewöhnlichen« – sagt Kleon einmal von den Athenern bei Thukydides577 –; »ihr[282] sucht sozusagen immer etwas anderes, von dem Abweichendes, was unser jetziges Leben bestimmt.«578 Stets »auf Neuerungen ausgehend« (νεωτεροποιοί) nennt sie ebenda ein Vertreter Korinth.579 Soviel habe man in Athen schon versucht – meint Aristophanes –, daß nur noch der radikalste Umsturz etwas Neues bringen könne!580 Denn »es herrscht Fortschreiten und Neuern und Verachten des Altherkömmlichen hier als wahre und einzige Weisheit«.581 Eine Charakteristik, die ja stark übertreibt, aber insoferne der Wirklichkeit entspricht, als in der Tat in einem Zeitalter der freien Erörterung das Streben nach rationeller Regelung aller Verhältnisse, die Neigung zum »Sinnieren und Räsonieren«, kurz eine gewisse geistige Ruhelosigkeit immer weiterer Volkskreise sich bemächtigen mußte.

Und gerade da, wo die sozialen Gegensätze sich am schärfsten zuspitzten, in den größeren Industrie- und Handelsstädten, sehen wir diese Stimmung am intensivsten entwickelt, da eben in der Atmosphäre solcher Städte mit Vorliebe die Richtung geistigen Lebens gedeiht, die rationalistisch, kritisierend, zersetzend ist.582

Das tritt uns besonders lebendig entgegen auf der athenischen Bühne des 5. und 4. Jahrhunderts, die hier mehr als jemals sonst in der Geschichte die Welt bedeutete. Hier wird der Geist der Erörterung, der die Bildung der Epoche beherrscht, auch auf dem Theater heimisch. Die dramatische Poesie, Tragödie wie Komödie, wird zu einem Organ der Reflexion, und zwar einer Reflexion, die unmittelbar an die große philosophische Gedankenbewegung der Zeit anknüpft. Die Denkweise, die in diesen Geistesschöpfungen sich ausprägt, sieht in der ganzen Welt gleichsam ein großes Problem, als ein Spiegelbild desjenigen Problems, zu dem sich das eigene Leben für den vollentwickelten Menschen der Hochkultur immer mehr gestaltet hatte.583 Das Bedürfnis der Vollkultur, alle Gebilde der Welt immer mehr der menschlichen Willkür zu unterwerfen und im Sinne idealer Forderungen umzuformen, es kommt hier in typischer Weise zum Ausdruck. Hat man doch von Euripides gesagt, daß kein antiker Schriftsteller in bezug auf menschliche Dinge öfter die Forderung gestellt habe, daß das, was ist, nicht sein, und das, was nicht ist, sein sollte!

[283] So wurde die Bühne ein Hauptorgan für die Vermittlung der Zeitbildung und der sie bewegenden Ideen an die weitesten Kreise des Volkes. In Gegenwart des Gesamtvolkes werden auf dieser Bühne die traditionellen Vorstellungen über Götter- und Menschenwelt vor den Richterstuhl der Vernunft gefordert und mit rücksichtsloser Schärfe auf ihre Berechtigung geprüft. Mit souveräner Kühnheit wird das Recht der »Natur« dem der »Satzung«, das Recht der Individualität und des freien Gedankens nicht nur der Autorität der Sitte und des Herkommens, sondern auch des religiösen Glaubens gegenübergestellt. Das Prinzip der schrankenlosen Subjektivität hat hier auf der Bühne Triumphe gefeiert, die Hegel in der Ästhetik zu dem Ausspruch veranlaßt haben, daß hier die Dichtung zu der »absoluten Freiheit des Geistes« gelangt sei;584 eine Freiheit, gegen die kein Gebiet des theoretischen und praktischen Lebens gefeit blieb.

Euripides, den genialen Vorkämpfer der Zeitbildung, den »Philosophen der Bühne«, läßt die Komödie von sich rühmen:


»Ich habe ihnen rings

Dergleichen Weisheit eingeimpft,

Indem Gedanken und Begriff

Der Kunst ich lieh; so daß denn hier

Jetzt jedermann philosophiert

Und Haus und Feld und Hof und Vieh

So klug bestellt, wie früher nie,

Stets forscht und sinnt:

Warum? Wozu? Wer? Wo? Wie? Was?

Wohin kam dies? Wer nahm mir das?«585


Eine Persiflage, an der aber so viel richtig ist, daß die Ideen, die in der Publizistik und sonstigen Literatur zum Ausdruck kamen, durch die Popularisierung auf der Bühne die denkbar weitgehendste Verbreitung erhielten.

Und nun vergegenwärtige man sich die Tragweite dieser Ideen! Wie gewaltig wurde die soziale Kritik allein durch eine Anschauungsweise gefördert, welche an die Stelle der traditionellen Mächte, die das Bestehende stützten, als oberste Norm des Urteils die individuelle Vernunft setzte und gleichzeitig durch die Unterscheidung von Natur und Konvenienz, von Natur und Satzung dieser bestehenden Ordnung den Boden unter den Füßen wegzog!

[284] »Wie süß ist es« – so ironisiert die aristophanische Komödie diese ganze Richtung des geistigen Lebens – »wie süß ist es, bestehendem Recht und Vorurteil freidenkend sich entreißen.«586 Was ist für diesen Standpunkt das alte Recht? »Die es aufgebracht, waren Menschen wie wir; sie mußten mit Gründen es empfehlen.«587 Warum soll es jetzt nicht einem neuen, besser begründeten Rechte weichen?588

Was nur durch Konvenienz und Satzung besteht, dem ist ja von vorneherein der Stempel der Wandelbarkeit aufgedrückt. Es ist zu einer historischen Kategorie geworden, die als solche immer nur eine relative Gültigkeit beanspruchen kann. Was ist es gegenüber der ewigen Wandellosigkeit der »Natur«, die – um mit Euripides zu reden – »keine Satzung kennt«?589 Und warum sollte ein Gesellschaftszustand, der sich als das Ergebnis willkürlicher menschlicher Einwirkungen darstellte, nicht auch von der Vernunft frei geformt werden können, und zwar um so besser und vollkommener, je mehr die Vernunft eben dem zu folgen bereit war, was in der Natur begründet, also Naturgesetz ist und daher von Natur recht oder als »das von Natur Gerechte« erschien?

In der Tat, es gab kaum eine schärfere Waffe gegen das Bestehende als die Erklärung, in der Hippias diesen Standpunkt formuliert hat: »Die Satzung, diese Zwingherrin der Menschen, vergewaltigt uns vielfach gegen die Natur.«590 Und was konnte man nicht alles bei der Vieldeutigkeit des Begriffes »Natur« als natürliche Gerechtigkeit, als das von der Natur Geforderte hinstellen!

Was das heiße Begehren und Sehnen des Menschenherzens an dem Bestehenden nur immer auszusetzen fand, ließ sich in diese Formel fassen! Ebensogut wie der Aristokratismus der Starken fand der über alle Unterschiede der Geburt, des Besitzes, der Bildung sich hinwegsetzende Gleichheitsdrang des Proletariers in dem Naturrecht, in dem über allem[285] Historischen stehenden absoluten Recht seine Begründung. Wenn man es als das Naturrecht der Starken der Gesellschaft proklamierte, daß das Besitztum der Schwächeren und Geringeren eigentlich ihnen gehöre, daß jene mit dem zufrieden sein müssen, was die Starken ihnen übrig lassen,591 so konnten ja umgekehrt die Armen und Enterbten ganz folgerichtig sagen: Wenn wir die Kraft, die uns als einzelnen fehlt, durch unsere Vereinigung schaffen, warum sollten wir da nicht die wirtschaftlich Stärkeren, aber numerisch weit Schwächeren zu gleichem Verzichte nötigen?

Wir können noch deutlich verfolgen, wie sich für die immer revolutionärer werdende soziale Theorie in diesem geistigen Zersetzungsprozeß ein Element der bestehenden Gesellschaftsordnung nach dem anderen verflüchtigte. Das erste ist, daß das kritische Bewußtsein sich über alle »künstlichen« sozialen Unterscheidungen erhebt, die ohne Rücksicht auf den persönlichen Wert eine unüberschreitbare Schranke zwischen Mensch und Mensch aufrichten. »Ihn schilt der Name« – heißt es bei Euripides von dem Bastard –, »die Natur ist gleich.« – »Was Sklaven schändet, ist der Name nur; in allem andern ist ein edler Knecht um nichts geringer als der freie Mann.«592 – »Die Erde hat all ihre Kinder mit gleichem Antlitz gebildet. Damals (bei der Entstehung des Menschengeschlechtes) hatte keiner etwas, was ihm vor andern eigen gewesen wäre. Erst die Zeit hat durch die Satzung hoch und niedrig geschaffen.«593 – Ein Standpunkt, als dessen naheliegende Konsequenz sich dann die Forderung ergibt, mit diesen Unterscheidungen überhaupt zu brechen und zu der von Natur und Naturrecht geforderten Gleichheit zurückzukehren.

So negierte der uns bereits als Vertreter der Vertragstheorie bekannte Sophist Lykophron die Berechtigung des Adels594 und Alkidamas und andere Vertreter dieser Philosophie des Naturzustandes forderten die Beseitigung der Sklaverei: »Die Gottheit« – heißt es bei letzterem – »hat alle frei gelassen. Die Natur hat keinen zum Unfreien gemacht.«595 – »Die Ausübung eines solchen Herrenrechtes ist wider die Natur. Denn[286] nur durch Satzung ist der eine unfrei, der andere frei. Von Natur besteht kein Unterschied. Daher ist das ganze Verhältnis nicht in der Gerechtigkeit gegründet, sondern in der Gewalt.«596 – Selbst das Heiligtum des Hauses vermag sich der souveränen Kritik nicht zu verschließen. Auf der Bühne, die auch hier natürlich bereits vorhandene geistige Strömungen reflektiert, wird die Grundlage der häuslichen Ordnung, die Ehe, ganz ungescheut in Frage gestellt und die Zulässigkeit von Vielweiberei, ja von Weibergemeinschaft und freier Liebe diskutiert.597

Wie hätte sich überhaupt diese Kritik durch den Begriff des »Heiligen« eine Schranke setzen lassen, wenn die Hüter desselben, die Götter, selbst ihre Existenz vor dem kritischen Bewußtsein nicht zu behaupten vermochten?598 Die Götter – meinte man – seien von klugen Männern erfunden, um die Massen zum sittlichen Handeln zu bestimmen und so für die gesellschaftliche Ordnung eine Schutzwehr gegen die Anarchie zu gewinnen.599 Was bedeutete aber diese Schutzwehr gegenüber den entfesselten Leidenschaften eines begehrlichen und auf die Macht der Fäuste pochenden Pöbels?

Man denke nur an den Cynismus der Reflexion, welche der größte Herzenskündiger seines Volkes, Thukydides, den Repräsentanten des athenischen Demos in den Mund legt! Gegenüber dem Rechte der Natur wird hier jede Berufung auf ein angeblich höheres göttliches Recht als altfränkische Biedermeierei abgelehnt. Das Entscheidende sei einfach die gesunde menschliche Vernunft (ὁ ἀνϑρώπειος λόγος), welche in der Verfolgung von Vorteil und Genuß objektive Bedenken der Art nie anerkannt habe, noch je anerkennen werde! Es ist sentimentaler »Unverstand«, wenn man nicht in rationeller Weise den »Nutzen« zum Maßstab alles Handelns macht.600

[287] Wer entscheidet aber über den »öffentlichen Nutzen«? Das allgemeine, gleiche Stimmrecht, das ihn mit absoluter Machtvollkommenheit jeden Augenblick so oder anders definieren konnte. Die ganze Gesellschaft und ihr Besitz ist dadurch problematisch geworden. »In der Seele des einzelnen, je nach seiner Stellung, mußte es sich nun entscheiden, ob er den bestehenden Zustand noch für seine Polis anerkennen wollte oder nicht.«601

Wie die Entscheidung in haß- und neiderfüllten Proletarierherzen fiel, kann nicht zweifelhaft sein. Die eben geschilderte Welt- und Lebensansicht der bürgerlichen Aufklärung kehrte sich – für das Proletarierinteresse zurecht gemacht – gegen die Bourgeoisie selbst. Das revolutionäre Element, das sie enthielt, war ja nur zu geeignet, bestehende Autoritäten auf allen Gebieten aus ihrer Herrschaft zu verdrängen. Wenn ferner die Religion Stütze der Ordnung sein sollte, mußte die Revolution notwendig vielfach eine antireligiöse Färbung annehmen.

Daher ist der blasphemische Hohn, mit dem Aristophanes seine kommunistischen Proletarier von den Göttern reden läßt, gewiß echt und der Wirklichkeit abgelauscht. »Glaubst du« – sagt in der Kommunistenkomödie einer der auftretenden Bürger, als es ans Teilen gehen soll – »glaubst du, daß irgendeiner so von Sinnen sein wird, abzuliefern?«


» ... Das ist nicht bei uns Herkommen; nein!

Nur nehmen muß man; tun's doch auch die Götter stets!

Das kannst du schon an den Händen ihrer Statuen sehn.

Sobald wir bitten, Gutes geben möchten sie uns,

So stehen sie da und halten die offenen Hände hin,

Als wollten sie nicht was geben, sondern bekommen was!«602


Wie hätte sich nun aber gegenüber diesem aufs »nehmen« gerichteten Willen und seinen »naturrechtlichen« Ansprüchen der – in Hellas ja schon in alter Zeit erschütterte – Glaube an das Recht der bestehenden Eigentumsordnung behaupten können? Was bedeutete für den Proletarier alles andere gegenüber dieser Ungleichheit und Abhängigkeit ewig neu erzeugenden Macht, die ihm die Qualen des Tantalus auferlegte, vor dem das Wasser versiegt und der Fruchtbaum zurückweicht? Und warum hätte[288] das Proletariat der demokratischen Handelsrepubliken den in alle gesellschaftlichen Gebiete eingedrungenen Gedanken der Ausgleichung und Nivellierung hier nicht bis zu Ende denken sollen, den schon Jahrhunderte vor ihm unter weit unentwickelteren Verhältnissen die sozialistischen Feldarbeiter Attikas tatsächlich zu Ende gedacht hatten? Wenn schon in diesen Anfängen der sozialen Bewegung der Landarbeiter sich an dem Gedanken berauscht hatte, daß der Grundherr ebenso werde zum Pflug greifen müssen, wie er, so haben auf der Höhe demokratischer Entwicklung Proletarier, Lohnarbeiter, kleine Handwerker und Pächter gegenüber Kapitalisten und Lohnherren sicherlich oft genug nicht weniger radikal empfunden! Wie aufreizend mußte allein der Glaube wirken, daß der arme Mann nicht aus einem naturgegebenen Grunde, d.h. wegen der ungenügenden Menge der überhaupt vorhandenen Befriedigungsmittel entbehrte, sondern deswegen, weil er durch willkürliche menschliche Einrichtungen verhindert werde, von ihnen Besitz zu ergreifen!

Wenn sogar die Spekulation von Vertretern des Besitzes und der Bildung zu dem Ergebnis kam, daß es nur die Fehler im Aufbau der Gesellschaft seien, welche alles ökonomische und moralische Elend verschuldet, und daß es nur einer Korrektur dieser Fehler bedürfte, um die allgemeine Glückseligkeit zu schaffen, wie kann dieser Glaube und diese Hoffnung den Armen und Elenden fern geblieben sein?

Eine Stimmung, die um so gefährlicher war, als es sich ja hier nicht bloß um einen Aufruhr des sinnlichen Begehrens, sondern zugleich des sittlichen Gedankens handelte! In einem zur Kritik erzogenen Zeitalter mußte eine Ordnung der Dinge, die hier verschwenderischen Überfluß, dort hungernde Armut erzeugte, das Volksgemüt ebenso wie die Betrachtung des denkenden Verstandes aufs tiefste erregen. Hier liegt eines der entscheidendsten Momente vor, warum dieses Zeitalter des vollentwickelten Kapitalismus auch die Epoche des Sozialismus in der griechischen Geschichte geworden ist.

Wenn man einmal an die Wirklichkeit den Maßstab des »Rationellen« und den Maßstab der Gerechtigkeit anlegte, so war in der Tat auf die Frage, wie jenes Mißverhältnis zu rechtfertigen sei, eine genügende Antwort nicht möglich.

Und wie hätte man sich in einem Lande des abstrakten Denkens, wo gerade die soziale Theorie in der Ineinsbildung von Idee und Wirklichkeit eine Kühnheit ohnegleichen betätigte, bei der Vorstellung beruhigen sollen, daß der Maßstab des Rationellen eben für die Wirklichkeit in[289] dieser Weise nicht gilt, daß das Irrationale in Natur und Menschenleben eine nur zu oft für den kühnsten Gedankenflug unüberwindliche Macht, ein tragisches Verhängnis des menschlichen Daseins ist, dessen Wirkungen sich mildern und abschwächen, aber durch kein Räsonnement völlig beseitigen lassen!

Wie sich vom Standpunkt der »natürlichen Gerechtigkeit« aus die Kritik des Bestehenden gestaltete, dafür hat auch wieder Aristophanes einen treffenden Ausdruck gefunden. Es ist dem Proletarier aus der Seele gesprochen, wenn in der Kommunistenkomödie die Prophetin des Zukunftsstaates verkündet:


» ... Nicht der soll reich sein, jener ein Bettler,

Nicht der viel Felder besitzen, indes für ein Grab selbst jenem der Platz fehlt,

Noch von Sklaven ein Heer dem dienen, indes nicht ein Knecht jenem gehöret.«603


Und der Komödie vom Reichtum (Plutos) liegt eben der Gedanke zugrunde, daß das die Verteilung der Güter beherrschende blinde Spiel des Zufalles ein Ende haben soll. Der blinde Gott, Plutos, soll sehend gemacht werden, um in Wahrheit die Rolle der verteilenden Gerechtigkeit übernehmen zu können.


»Denn« – so reflektiert der arme Mann im Stück gegenüber der Frau »Armut« –

»Wie sich das menschliche Dasein jetzt uns allen gestaltet und darstellt,

Wem muß es am Ende wie Unsinn nicht, wem nicht wie Verrücktheit erscheinen?

Denn viele, die Schurken in Wahrheit sind, reich sind sie und froh des Besitzes,

Den mit Unrecht gar sie zusammengescharrt; und wieder die Guten und Besten,

Not leiden sie, essen ihr kümmerlich Brot, sind dir (der Armut) fast immer gesellet.

Ich behaupte demnach: Ist aus es mit dir, wenn wieder der Reichtum sehn kann,

So bringt der, welcher den Weg auffand, den Menschen die köstlichste Gabe.«604


Eine Auffassung, an der besonders echt ist die Gegenüberstellung des guten Herzens der Armen und der Schlechtigkeit der Reichen, deren böser Wille natürlich die Unvernunft dieses Zustandes nicht anerkennen will und so – das ist die stillschweigende Voraussetzung – das Prinzip der Gerechtigkeit, das eine Ära allgemeinen Glückes verbürgen würde, nicht zum Durchbruch gelangen läßt.

Wie bezeichnend ist in dieser Hinsicht die Erklärung des sehend gewordenen Gottes:


»Ich aber schäme meines Mißgeschickes mich,

Zu was für Leuten mir es entging, daß ich mich hielt.

Die aber würdig meines Umgangs waren, oh!

Die floh ich, mehr nichts ahnend, ich Unseliger,[290]

Als daß ich jenes, daß ich dies nicht recht getan.

Doch alles das nun umgestaltend ganz und gar,

Will ich in Zukunft zeigen allen Sterblichen,

Daß wider Willen ich den Schlechten hin mich gab.«605


Und noch eine andere volkstümliche Anschauung reflektiert sich in dem Spiel von dem der Blindheit entrissenen Gott des Reichtums. Es ist die bekannte Selbsttäuschung des naiv begehrenden Menschen, der angesichts einer Menge von Geld oder Vorräten sofort meint, der Reichtum müsse verteilt werden und werde jeden reich machen; wobei eben der Betreffende immer nur an sich denkt, ohne zu berücksichtigen, daß immer unendlich viel mehr gierige Hände da sind als greifbare Werte. Daher auch die in der Geschichte des Sozialismus immer wiederkehrende Illusion, daß eine Gewalt, welche bewußt im Sinne der verteilenden Gerechtigkeit verfahren würde, die Wohlfahrt der Menschen unermeßlich vermehren könnte; der Wahn, daß der Reichtum dieser Welt gewissermaßen in unerschöpflicher Menge vorhanden sei, daß er bisher nur in ungerechter und ungleicher Weise verteilt werde und daher alles nur auf die Beseitigung dieser Ungerechtigkeit und Ungleichheit ankomme, um Not und Elend aus der Welt zu schaffen, die Armut »ganz und gar hinwegzutilgen«.606


»Die ihr bisher gelebt in Frost und in Beschwerden,

Ihr sollt von Stund an dessen frei gar schön und glücklich leben.«607


Das ist der Traum, den Elend und Begierde zu träumen nie müde werden!

Und daß derartige Stimmungen schon damals gar nicht so vereinzelt und harmlos erschienen, dafür spricht wohl die Leidenschaftlichkeit, mit der sie in dem Stücke bekämpft werden, sowie die ausführlichen Erörterungen über die Vorzüge von Armut und Reichtum und die Gefahren einer sozial-ökonomischen Ausgleichung. Die mit dem Bestehenden Unzufriedenen werden als leichtgläubige Schwärmer und Faselhänse, als Tolle und Verrückte bezeichnet. Es wird ihnen entgegnet:608


»Wenn dies geschäh', was ihr beide verlangt, des hättet ihr wahrlich Gewinn nicht.

Denn würd' es dem Reichtum, wieder zu sehn und wieder sich gleich zu verteilen,

So würde sich keiner der Menschen hinfort um Kunst und Wissenschaft kümmern.

Und wären die zwei so getilgt durch euch aus dem Leben der Menschen, wer wird dann

Noch schmieden das Erz, noch Trieren erbau'n, stellmachern und schustern und schneidern,[291]

Noch gerben und färben und Steine behau'n, noch zimmern und waschen und walken,

Noch im Feld arbeiten mit furchendem Pflug, den Segen der Fluren zu ernten,

Da ihr leben ja dann ohn' Arbeit könnt, unbekümmert um alles und jedes?«


D. h. das Produktionsinteresse wird leiden, wenn der Stachel der Not wegfällt. – Für den antiken Proletarier freilich kein Argument von zwingender Beweiskraft! Denn auch hier kehrt der Einwand wieder, dem wir auch in der Komödie vom Zukunftsstaat begegnen werden:609


»Sich placken mögen die Sklaven.«610


Aber wird denn das Ergebnis der allgemeinen Ausgleichung das Genughaben aller sein und nicht vielmehr Verallgemeinerung der Dürftigkeit? Und wenn, wie würde dann die Lage der Gesellschaft sich gestalten?

Auch diese Frage ist auf der Bühne erörtert worden, und Euripides hat in einem leider verlorenen Drama,611 in dem die Diskussion über Armut und Reichtum offenbar einen breiten Raum einnahm, den Gleichheitsschwärmern entgegengehalten: wenn die Unterschiede des Besitzes wegfielen, so würde die Gesellschaft jener heilsamen »Mischung« entbehren, die für die allgemeine Wohlfahrt so wichtig ist.612 Wenn nichts mehr zu unterscheiden wäre, so würde auch von einer Scheidung zwischen edel und gemein nicht mehr die Rede sein können und ebensowenig von jener gegenseitigen hilfreichen Ergänzung, wie sie in der jetzigen Gesellschaft zwischen der höheren und niederen Klasse bestehe.613

Diese Begründung trifft den Kernpunkt der ganzen Frage: die Kultur bedarf in der Tat des Edlen, d.h. solcher Individuen, deren innere Ausbildung von feinerer, verwickelterer, vornehmerer Art ist, als die der Masse, und die deshalb auch einen wohlbegründeten Anspruch auf eine andere Form der Lebenshaltung, auf eine andere Art des Genusses und der Arbeit haben, als es die ist, welche für einfachere, derbere, weniger differenzierte Naturen sich eignet und zugleich vollkommen ausreicht. Ohne diese Möglichkeit einer Erhebung über das Durchschnittsniveau der Lebenslage der Masse, ohne die Mittel für eine verfeinerte Lebenshaltung würde ja diese Vergeistigung, Bereicherung und Durcharbeitung der Individualitäten von vorneherein undenkbar sein und damit auch[292] die von dem Interesse der Gesamtheit geforderte volle Entfaltung der Werte, die das Menschenwesen in sich birgt.

Das hat auch die Demokratie in ihrer besten Zeit und in ihren edelsten Vertretern keineswegs verkannt. Sie hatte die künstlichen Schranken des ständischen und des plutokratischen Staates nicht deshalb niedergebrochen, um eine allgemeine Nivellierung herbeizuführen, sondern um eine Rechtsordnung zu begründen, welche im freien Wettbewerb um die Güter des Lebens eben der vorzüglicheren Kraft die Möglichkeit zur Emporentwicklung gewähren sollte. Gerade darin sieht die perikleische Leichenrede einen Ruhmestitel der Demokratie, daß hier persönliche Tatkraft, Intelligenz und Begabung »der Armut zu entfliehen« vermöge und die Nichtausnützung dieser Möglichkeit als etwas Schimpfliches gelte!614

Es ist also geradezu ein Grundprinzip des Liberalismus der bürgerlichen Demokratie, daß die Verschiedenheit der Leistungen wesentlich bestimmend sein soll für das Maß der dem einzelnen zuzuteilenden Lebensgüter. Geistige Begabung und Energie soll durch die demokratische Freiheit erst recht in den Stand gesetzt werden, die Verteilung der Güter erfolgreich zu beeinflussen. Und die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, wenigstens soweit sie das Ergebnis der verschiedenen geistigen und moralischen Ausstattung des einzelnen ist, erscheint so recht eigentlich als das notwendige Komplement der bürgerlichen Freiheit.615

Nun ist es aber damals, wie heute, das tragische Verhängnis des Liberalismus gewesen, daß er, der die Differenzierung der Gesellschaft durch möglichst kräftige Entwicklung, Belebung und Steigerung der Individualität und damit ein ideales Kulturinteresse vertritt, gleichzeitig dazu beitragen mußte, das Massenleben und die Massenwirkungen extensiv und intensiv in einer Weise zu steigern,616 daß auch in dieser Grundfrage im Schoße der Demokratie selbst sehr bald ein lebhafter Widerstreit der Meinungen und Empfindungen entstand. Jene Entfesselung der freien Persönlichkeit durch den bürgerlichen Liberalismus war ja zugleich eine Kulturleistung, ein Symptom der Entfaltung des geistigen Elements in der Vollkultur und daher vor allem im Sinne derjenigen, in welchen eben dies Element wirksam war. Entspricht sie aber in dem gleichen Grade auch jenen Anschauungen und Gefühlen, welche in den[293] tieferen Schichten des menschlichen Bewußtseins wurzeln und daher wesentlich Massenanschauungen und Massengefühle sind?

Das Leben der Masse, welche die Demokratie auf die geschichtliche Bühne rief, ist ja auf nichts weniger als auf eine kraftvolle und originale Entfaltung und Behauptung der Einzelpersönlichkeit angelegt. Es ist wesentlich Kollektivleben, das seiner ganzen Tendenz nach darauf ausgeht, den einzelnen seinen sozialisierenden und nivellierenden Einflüssen zu unterwerfen, das Individuum möglichst zum Gattungsexemplar zu machen. »Das Individuum verschwindet, der Genosse entsteht,« dieses Wort wird immer mehr zur Wahrheit da, wo die Masse sich häuft und durch die allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse eine steigende Aktionsfähigkeit, die Möglichkeit zu engem Zusammenschluß und zu großen Massenbewegungen erhält. Welch ein unversöhnlicher Kontrast vollends zwischen der höchsten Steigerung individuellen Lebens auf der vergeistigten Höhe der Vollkultur und jenem gestalt- und charakterlosen Haufen, der mit der Ansammlung der Bevölkerung in den Industrie- und Handelsstädten stetig wuchs, dem Pöbel, der recht eigentlich ein »Magazin für Massenbewegung« darstellt!

Daher ist es denn auch mehr noch als die Idee der Freiheit die der Gleichheit, welche in der Demokratie die Masse beherrscht und die sie mit der ganzen Brutalität der Masseninstinkte rücksichtslos bis in ihre letzten Konsequenzen verfolgt. Denn da die freie Entwicklung der Individuen notwendig Ungleichheit erzeugt, so ist eine Versöhnung zwischen dem bürgerlichen Freiheitsprinzip und der Gleichheitsidee der Masse grundsätzlich ausgeschlossen.617

Je mehr die Masseninstinkte und der verrohende Massengeist für das öffentliche Leben bedeuteten, um so mehr sehen wir in der Demokratie diejenigen Elemente obenaufkommen, die eine instinktive Abneigung gegen alles besaßen, was nicht derselben Schicht angehörte, was durch Intelligenz und Charakter über das Niveau der Mittelmäßigkeit hinausragte. »Erziehung und Bildung hat zur Folge, daß man mißgünstig angesehen wird«; diese Erfahrung hat Aristoteles gerade im Volksstaat gemacht.618 Und schon Thukydides hat derselben Erfahrung klassischen[294] Ausdruck verliehen in einer Rede, welche er Kleon, dem typischen Repräsentanten der Masse, in den Mund legt, und in der es geradezu als grundsätzliche Forderung proklamiert wird, daß das Wohl des Staates den Ungebildeten anvertraut werden müsse, weil es in deren Händen besser aufgehoben Sei als in denen der Gebildeten!619 Ein Standpunkt, den Aristophanes bekanntlich in den »Rittern« in seiner drastischen Weise persifliert hat.

Volksführerschaft – heißt es hier – sei fürderhin nicht mehr für Leute von Erziehung und Charakter. Unwissend und niederträchtig müsse man sein.620 Gerade darum hat der Wursthändler einen so großen Vorsprung in der politischen Laufbahn, weil er eben nicht zu den Gentlemen gehört.621 Kenntnisse schaden nur!622 »Um deswillen wirst du gerade der große Mann, weil du gemein und frech und her von der Gasse bist.«623 – Bei aller possenhaften Übertreibung, die wir gewiß nicht verkennen, liegt doch auch hier ein tiefer Sinn im Spiel. Es ist in der Tat nur zu wahr, daß vor der nivellierenden Tendenz der Massendemokratie der Adel der Bildung und Gesittung mehr und mehr das Feld räumen muß. »Das Niedere schwillt, das Höhere senkt sich nieder.« Perikles – Kleon! Die Namen versinnbildlichen diese verhängnisvolle Wendung für alle Zeiten.

»Die Gebildeten.« – heißt es in einem Stimmungsbild aus Syrakus – »welche imstande gewesen wären, das öffentliche Interesse durch ihre Tüchtigkeit zu fördern, hielten sich vom Staate ferne und zogen sich aus Furcht in eine rein private Existenz zurück, während der Staat ein Tummelplatz für die schlimmsten und frechsten Elemente wurde.«624 – Von dieser Entwicklungsphase der hellenischen Demokratie gilt dasselbe, was Goethe im Hinblick auf die demokratische Gleichmacherei unseres Jahrhunderts von den »fürchterlichen Zeichen« einer Zeit gesagt hat, die nur dann »die Befriedigung verworrener Wünsche zu finden« glaubt, »wenn nichts mehr zu unterscheiden ist, wenn wir alle von einem Strom vermischt dahingerissen im Ozean uns unvermerkt verlören«.

»Weil sie in einem Stück gleich sind, nämlich in der Freiheit, so glauben sie damit in allem und jedem gleich zu sein.«625 Dieses Räsonnement der extremen Demokratie schafft, wie man sieht, einen neuen Wertmesser für die menschlichen Dinge, der zu dem oben[295] entwickelten Grundgedanken des Liberalismus in einem prinzipiellen Gegensatz steht.626 Die Qualität verliert ihre Geltung; sie soll für die Ansprüche, die der einzelne zu machen hat, ebensowenig bestimmend sein, wie für das Werturteil über seine Person. Die Würde des einzelnen soll einzig und allein auf seiner Eigenschaft als Bürger beruhen, die höhere und edlere Begabung ebensowenig wie die höhere Qualität der Leistungen einen maßgebenden Unterschied begründen. Es ist – wie man mit Recht bemerkt hat – eine neue Form für den Kampf der Gattung gegen das über das allgemeine Niveau sich erhebende Individuum.

Wenn aber eine bloße Kollektiveigenschaft das Ausschlaggebende sein soll für die Stellung des einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft, dann verlieren auch die Zustände, die zugunsten der vorzüglicheren Kraft das Geltungsbereich dieses Prinzips wesentlich einschränken, ihre innere Berechtigung. Wenn anderseits das Gefühl der Gleichheit Ansprüche erzeugt, deren Erfüllung durch das bestehende Eigentumsrecht unmöglich gemacht ist, so stellt sich mit psychologischer Notwendigkeit die Forderung ein: das Eigentumsrecht muß mit diesen Ansprüchen in Einklang gebracht werden; die Verhältnisse, in denen die einzelnen Bürger leben, müssen ebenfalls gleichartig werden, damit niemand mehr durch das, was er hat, etwas sei und alle Bürger sich als wirklich Gleiche fühlen können. Es gibt für diesen Standpunkt kein Recht mehr auf eine bevorzugte Stellung, sei es für eine Aristokratie des Besitzes oder der Bildung; der staatsbürgerlichen Gleichheit hat die soziale und ökonomische zu folgen oder, wie es Aristophanes – in fast wörtlicher Übereinstimmung mit dem bereits von dem altattischen Agrarsozialismus aufgestellten Programm627 – ausdrückt: »Allen muß das gleiche Geschick zuteil werden.«628 »Jeder hat von dem Reichtum der Welt den[296] gleichen Teil zu empfangen.«629 Es ist dasselbe Prinzip, wie es z.B. die bekannte Erklärung in Marats »Volksfreund« gegen die Besitzenden verkündet: »Die Gleichheit der Rechte führt zur Gleichheit der Lebensgenüsse, und erst auf dieser Basis kann der Gedanke ausruhen.« Die Ungleichheit soll in ihrem letzten Stütz- und Haltpunkt getroffen werden: in der Ungleichheit der Güter.

In bezug auf diese Entwicklung des sozialdemokratischen Gedankens als einer Massenerscheinung kann man allerdings sagen: Sie ist eine Konsequenz gewisser Verirrungen, wenn auch nicht des Liberalismus an sich, so doch jenes extremen Liberalismus, dessen Träger der Demos im »reinen« Volksstaat war. Man kann sagen: Dieser Volksstaat ist in gewisser Hinsicht eine klassische Verkörperung der Ideen, als deren moderner Repräsentant etwa Bentham zu nennen wäre. Die Verfassung war so gestaltet, daß die Macht der Regierenden möglichst klein, ihre Abhängigkeit von der Masse und ihre Verantwortlichkeit möglichst groß war. Die Gesellschaft und der Staat sind nur eine Summe von Regierenden und Regierten. Regieren sollte von Vernunft und Rechts wegen die Majorität – die kleinere Zahl sollte der großen weichen. Das treibende Motiv und der Endzweck des ganzen Systems ist das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl. Dies Glück aber setzt sich für den einzelnen – ganz im Geiste Benthams – hauptsächlich aus seinen in Geldwert berechenbaren Genüssen zusammen. War es da ein so großer Schritt, wenn diese antike Demokratie – ebenso wie die moderne – die genannten Gedanken teilweise noch weiter verfolgte und zuletzt auf den Gedanken verfiel, das gleichmäßige Glück aller zu realisieren durch eine andere soziale Ordnung, da es sich mit der bestehenden nun einmal nicht realisieren ließ?

Das Kulturinteresse der freien Emporentwicklung wird von der Massenidee der Gleichheit und dem ochlokratischen Naturrecht, der Freiheitsgedanke der politischen Demokratie von dem radikalen Ökonomismus der sozialen Demokratie verschlungen. Die Logik des begehrenden Willens, die – wie uns der tiefe Kenner der Volksseele auf der Bühne zeigt – den Vertretern entgegenstehender Interessen grundsätzlich nicht[297] recht gibt und hätten sie tausendmal recht,630 sie entscheidet hier mit souveräner Willkür. Ihr unbelehrbarer Dogmatismus kann und will es nicht begreifen, daß überhaupt eine andere Anschauung der Dinge möglich ist.

Zudem spielte ja auch hier wieder bei vielen ein ethisches Moment mit herein: die Empörung des ehrlich Arbeitenden gegen die plutokratische Vornehmheit der Nichtstuer, der »Drohnen«, die sich, wie wir bereits früher sahen, bis zu der Überzeugung steigerte, daß es überhaupt ungerecht sei, wenn ein Bürger »von dem andern«, d.h. auf Kosten von seinesgleichen lebe, daß der natürlichen Gerechtigkeit allein ein Zustand entspreche, in dem jeder »von sich«, d.h. von der eignen Hände Arbeit lebt.631 Eine Überzeugung, die naturgemäß die kapitalistische Gestaltung der Gesellschaft als grobe Verletzung der Freiheit und Gleichheit verwerfen mußte.

Man wird sich über diese Entwicklung nicht wundern können, wenn man sich erinnert, wieweit in der ökonomischen Überspannung des Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzips bereits der bürgerliche Sozialismus gegangen war, der uns in dem Pamphlet über die staatssozialistische Ausgestaltung der athenischen Finanzverwaltung in typischer Gestalt entgegentrat.632 Man brauchte in der Tat nur die hier bereits anerkannten Prinzipien konsequent weiter zu verfolgen, um schließlich an einem Punkt anzukommen, wo der Konflikt mit der bestehenden Gesellschaftsordnung unvermeidlich ward.

Wenn man – wie es dieser doktrinäre Staatssozialismus und bis zu einem gewissen Grade auch die staatssozialistische Praxis der Demokratie anstrebte – den Staat auch ökonomisch zu einem Gemeingut, zu einem für alle Staatsgenossen gleich nützlichen Werkzeug der Erhaltung des Lebens zu machen suchte, wie hätte sich da nicht – in der sozialen Atmosphäre des Stadtstaates! – für ein von dem Phantom radikaler Weltverbesserung erfülltes Denken die weitere Forderung einstellen sollen: »Auch die mit unserem Freiheits- und Gleichheitsideal unverträgliche Ungleichheit des Lebensinhaltes muß der Staat beseitigen. Das Ziel, das wir alle in der staatlichen Gemeinschaft verfolgen, ist ja nicht bloß die Erhaltung, sondern auch die möglichste Vervollkommnung und Verschönerung des Lebens.633 Und ein[298] Staat, der alle seine Bürger als gleichwertig betrachtet, muß ihnen allen zur Erreichung dieses Zieles behilflich sein, muß ihnen allen in gleicher Weise die äußeren materiellen Hilfsmittel zugänglich machen, welche die Grundbedingung solchen persönlichen Glückes und Wohlergehens sind.«634 In der Tat, wenn einmal der Umschlag von der politischen zur sozialen Demokratie erfolgt war, so war diese Entwicklung zu einem immer kräftiger kommunistisch oder kollektivistisch sich färbenden Radikalismus unvermeidlich. Die Proklamierung des bonheur commun, die harmonische Befriedigung der »berechtigten Interessen aller«, die Steigerung der égalité de droit zur égalité de fait: eines ergab sich hier mit psychologischer Notwendigkeit aus dem andern. Wenn überhaupt, so konnte nur auf diesem Wege der Widerspruch zwischen dem radikalen Gleichheitsprinzip der Demokratie und der gleichheitswidrigen Entwicklung der Gesellschaft seine Lösung finden.

Das hat schon Aristoteles klar erkannt und ausgesprochen. Die radikale Demokratie (ἡ τελευταία δημοκρατία) und jeder Staatsmann, der sie zur Tat und Wahrheit machen will (ὁ ἀληϑινῶς δημοτικός), müssen nach seiner Ansicht sozial sein. Sie müssen mit den Mitteln der Allgemeinheit die besitzlose Arbeit zu wirtschaftlicher Selbständigkeit erheben, der Masse des Volkes zu dauerndem Wohlstand verhelfen.635 Ja, Aristoteles geht in der Theorie noch weiter und meint, wenn die Bürger des Staates wirklich gleich sind, wie die Demokratie behauptet, dann fordert die Gerechtigkeit, kraft der Gleichen eben Gleiches zuteil werden muß, eine möglichst gleichmäßige Befriedigung ihres Glückstrebens durch den Staat. Der Staat muß das äußere, materielle Substrat menschlichen Glückes, den Besitz, unter alle gleich verteilen und so allen Klassengegensätzen, allen Verschiedenheiten des Vermögens und der Einkommensverteilung für immer ein Ende bereiten.636 Daher sind auch in der idealen Demokratie, die Aristoteles in seinem »besten« Staate zeichnet, und deren Bürger wirklich alle gleichwertig sind, die äußersten sozial-ökonomischen Konsequenzen des demokratischen Gleichheits- und Freiheitsprinzipes vollkommen durchgeführt.

Der bestehenden Demokratie allerdings muß Aristoteles die moralische Befugnis zu einer derartigen radikalen Ausgleichung absprechen, weil sie – wie er mit Recht bemerkt – die genannte Voraussetzung[299] eben nicht erfüllt, weil die von ihr behauptete Gleichheit aller ihrer Mitglieder nur eine Illusion ist. Allein wer könnte einen Augenblick zweifeln, daß auch die auf dem Boden der geschichtlichen Demokratie stehende sozialdemokratische Gedankenrichtung – trotz des Protestes aus dem Lykeion – für sich dieselben Konsequenzen aus dem Gleichheitsprinzip gezogen hat, nachdem sie eben nun einmal von derselben, d.h. eben ideologischen Voraussetzung, von der abstrakten Gleichheitsidee ausging? Wenn die reine Demokratie eine Gleichheit voraussetzte, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden war, so lag darin ein Widerspruch, der mit psychologischer Notwendigkeit zu einer Lösung drängte und zu einem Kampf gegen die gesellschaftliche Ungleichheit führen mußte.

Wenn daher Aristophanes das Bild des freien Volksstaates der Zukunft entwirft, in dem das Ideal der portion égale, der Gleichheit des Lebensinhaltes für jedermann verbürgt ist, so hat er damit nur ein Ergebnis formuliert, bei welchem eine tatsächlich vorhandene Gedankenströmung zuletzt unvermeidlich angelangen mußte. Sollte die Demokratie in der Tat und in der Wahrheit das Reich der Freiheit und Gleichheit, der Brüderlichkeit und Gerechtigkeit werden, als das sie sich angekündigt, dann mußte sie auch imstande sein, die Fesseln zu lösen, mit denen die zwingende Gewalt des materiellen Güterlebens den Aufwärtsstrebenden niederhielt, mußte sie die Schranken durchbrechen können, in welche dieselbe Zwangsgewalt das Dasein des Bürgers eingeschlossen hielt, auf daß alle ihre Kinder den Weg finden konnten zu Licht, Luft und Freiheit!


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 282-300.
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