Tristan

[1015] Tristan heisst das höfische Kunstepos, das Gottfried von Strassburg hinterlassen hat. Die Sage ist wie diejenige des Artus eine britannische, scheint aber im Gegensatze zu dieser, welche einen historischen Hintergrund hat, mehr mythischer Natur zu sein; wie dieselbe, ohne Zweifel durch normannisch englische Sänger, in die nordfranzösische Litteratur geriet, ist nicht ausgemittelt; ebensowenig sind die französischen Gedichte erhalten, aus denen Gottfried seiner eignen Aussage zufolge seine Geschichte entnahm. Eine Verbindung der Tristansage mit der Artus- und Gralsage ist nur sehr äusserlich hergestellt worden. Auch das unterscheidet die Tristansage von der Artus- und Gralsage, dass jene von vornherein eine Liebessage ist, ähnlich[1015] den Sagen von Pyramus und Thisbe, Hero und Leander, Romeo und Julie. Von der Beliebtheit, welcher sich die Tristansage im Mittelalter erfreute, geben namentlich verschiedene bildliche Darstellungen Zeugnis, so Freskodarstellungen auf dem Schlosse Runkelstein bei Bozen, ferner mehrere Teppiche, ein geschnitztes Elfenbeinkästchen u.a.

Das Gedicht Gottfrieds beginnt mit der Geschichte der Eltern des Helden, Riwalin und Blanscheflur, welch letztere die Schwester des Königs Marke von Kurnewal ist; der Vater ist, von einem Feinde besiegt, kurz vor, die Mutter bei der Geburt des Söhnleins gestorben, das nun von dem getreuen Marschall des Vaters, Rual, als dessen eigenes Kind zu sich genommen und auferzogen wird. Norwegische Kaufleute entführen den 14jährigen Knaben, an dessen Gestalt und Begabung sie Gefallen gefunden, mit sich, setzen ihn indes, durch einen schrecklichen Sturm zur Erkenntnis ihrer Raubthat gekommen, wieder ans Land. Von zwei Pilgern begleitet, trifft er zufällig auf die Jäger seines ihm unbekannten Oheims Marke, deren Lob er sich durch seine meisterlichen Jägerkünste gewinnt; auch der König selbst fühlt sich so zu dem Jüngling hingezogen, dass er ihn zu seinem Jägermeister ernennt, ja ihm, nachdem jener sich auch im höchsten Grade der Sprache und des Saitenspieles kundig erwiesen, geradezu seine Freundschaft anträgt. Vier Jahre schon hält sich Tristan an Markes Hof auf, als sein Pflegevater Rual nach mühseligen Wanderungen, die er um Tristans willen unternommen hat, den Ersehnten findet und vor König Marke das Rätsel seiner Geburt löst, worauf sich dieser bereit erklärt, Erbvater seines Neffen sein zu wollen. Er folgt Tristans Schwertleite, bei welcher Gottfried Veranlassung nimmt, in einer berühmt gewordenen klassischen Stelle sein Urteil über die bedeutendsten deutschen höfischen Dichter auszusprechen. Nachdem Marke seinem Neffen versprochen; dass er seinetwegen unverehelicht bleiben wolle, kehrt dieser in seine Heimat zurück, rächt seinen Vater, übergibt aber sein wiedergewonnenes Land seinem geliebten Rual und kehrt zu seinem Oheim Marke zurück. Hier ist soeben Morolt von Irland erschienen, um für seinen Schwäher den seit mehreren Jahren auferlegten Zins und dreissig edle Jünglinge zu heischen; Tristan bewegt seinen Oheim den Zins zu weigern und besteht den in diesem Falle ausbedungenen Zweikampf mit Morolt; zwar besiegt, erschlägt er diesen im zweiten Waffengange, nachdem er freilich im ersten Waffengange durch Morolts vergiftetes Schwert eine Wunde erhalten, die nach Morolts eigener Aussage bloss durch dessen Schwester Isot geheilt werden kann. Da infolge des Ausgangs dieses Kampfes Irland für Tristan verschlossen ist, sieht er sich genötigt, als Spielmann verkleidet jenes Land zu betreten, wo es ihm wirklich durch seine List gelingt, bei der Königin Einlass und von ihr Heilung seiner Wunde zu erlangen; als Entgelt dafür hat er die Tochter der Königin, die junge Isot, in Saitenspiel und Sprachen zu unterweisen. Nachdem er zu Marke zurückgekehrt, sieht sich dieser auf den Rat von Neidern Tristans und auf dessen eigenen Rat hin veranlasst, an eine Verehelichung zu denken und zwar, wieder auf Tristans Rat hin, mit der jungen Isot. Natürlich kann kein anderer als Tristan selber der Brautwerber sein, und es gelingt ihm nach vielen Abenteuern, worunter auch ein Drachenkampf erscheint, die Einwilligung zu erhalten.[1016] Zur Heimfahrt gibt die alte Königin ihrer Tochter ihre Niftel Brangaene und zugleich einen Minnetrank mit, welchen Brangaene, nachdem sich Isot und Marke in Liebe vereint hätten, diesen statt Weines schenken möge. Während die Reisenden einmal Ruhe halten, und das Volk sich zur Erlustigung an das Land begeben hat, besucht Tristan die Königin und begehrt während des Zwiegespräches zu trinken; da reicht ihm eine der anwesenden Jungfrauen unwissentlich jenes Gefäss; Tristan bietet es zuerst der Herrin, dann trinkt er selber und sofort erwacht in beider Herzen glühende Liebe, und es nützt nichts mehr, dass die erschrockene Brangaene das Glas ins Meer wirft. Nun folgen verschiedene Abenteuer, welche alle darauf hinauslaufen, den mit Isot vermählten König Marke wegen der Treue seiner Gattin zu täuschen, wobei ausser dem Könige selbst bald dessen Truchsess, bald ein Zwerg der Betrogene ist. Endlich überzeugt sich dennoch der König der Untreue seines Neffen und seiner Gattin, doch sind ihm beide zu lieb, um sie zu töten, er verbannt sie. In der Wildnis halten sie sich in einer herrlichen Minnegrotte auf, wo sie der jagende König neuerdings findet und, durch eine List von neuem getäuscht, beiden vergibt. Wiederum aber überrascht Marke das Paar, worauf Tristan flieht und in der Fremde eine Liebschaft mit einer anderen Isot, Isot Weisshand, anknüpft. Die Dichtung bricht mit der Erzählung ab, wie Tristan dieser neuen Geliebten schöne Lieder gedichtet und gesungen habe.

Das unvollendet hinterlassene Gedicht hat zwei Fortsetzer gefunden: Ulrich von Türheim schrieb um 1240 seine etwas schwächere und notdürftige Weiterführung; er wurde wesentlich und mit Glück übertroffen von Heinrich von Freiberg, um 1300. Ausgabe des Tristan mit sämtlichen Fortsetzungen von Fr. H. v.d. Hagen, 2 Bände, Breslau 1823. Neueste Ausgabe von Gottfrieds Tristan, v. Reinhold Bechstein, 2 Bände, Leipzig, 1869. Von ebendemselben der Tristan des Heinrich von Freiberg, Leipzig.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 1015-1017.
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