Casuistik

[112] Casuistik (franz. casuistique) heißt derjenige Teil der Moral, welcher von den Gewissensfällen (casus conscientiae) oder der Kollision der Pflichten handelt. Casuist ist derjenige Moralist, welcher solche Fälle zu lösen sucht. In Wahrheit kollidieren freilich viel weniger die Pflichten untereinander, als[112] die menschlichen Wünsche. Spuren von Casuistik finden sich zuerst bei den Stoikern (um 260 v. Chr.). So stritten Diogenes und Antipater darüber, ob ein Kaufmann, der zur Zeit einer Hungersnot Getreide nach Rhodos bringe, aber unterwegs erfahre, daß mehr Zufuhr komme, dies sagen und einen geringeren Preis fordern solle oder nicht. Auch den Fall erwogen die Stoiker, wie sich zwei Schiffbrüchige verhalten sollten, die sich auf ein Brett retteten, das doch nur einen tragen könnte. Aber erst die Talmudisten und die Scholastiker haben diese meist fruchtlosen Untersuchungen fleißig ausgeführt. Bekannt sind von casuistischen Schriften die Summa Raimundiana des Raymund de Pennaforti (1176-1273), die Summa Astesana vom Franziskaner Astesanus und die Summa Bartolina vom Dominikaner Bartholomäus de Sancta Concordia. Auch die Jesuiten Escobar, Sanchez und Busenbaum sind als Casuisten bekannt.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 112-113.
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