betrachten

[96] betrachten heißt 1. allgemein, beobachten, forschen, untersuchen; 2. im besonderen, etwas genau ansehen oder auch anhören; was den Menschen interessiert, betrachtet er. Die Betrachtung spielt ihre Rolle nicht nur in der exakten Naturwissenschaft, deren Hauptmittel Beobachtung und Experiment ist, sondern auch in der theoretischen Philosophie, welche das Wesen der Dinge zu erfassen strebt. 3. In der Moral heißt praktische Betrachtung die Abschätzung des Verhältnisses, in welchem ein Gegenstand zu uns steht. Diese Abschätzung kann sich entweder auf den Nutzen oder auf den sittlichen Wert des Gegenstandes richten. 4. Der Begriff[96] der Betrachtung gehört auch in die Ästhetik. Schön heißt nur ein mit den Sinnen wahrgenommenes, nie ein bloß gedachtes Objekt; die sinnlichen Wahrnehmungen, auf die sich jedes ästhetische Urteil gründet, sind aber nur die der höheren Sinne, des Gesichts und Gehörs. Durch die niederen Sinne erfaßt der Mensch die Dinge nur leidend, empfindend, bleibt mit ihnen eins. Durch die höheren Sinne aber stellt er sie außer sich, sondert seine Persönlichkeit von ihnen ab, betrachtet sie; es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit den Dingen eins auszumachen. »Die Betrachtung ist das erste liberale Verhältnis des Menschen zum Weltall, das ihn umgibt.« Auf der Betrachtung beruht jedes ästhetische Urteil, nicht auf physischem Genuß. (So Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, Br. 25, 1794 und schon in dem Gedichte »Die Künstler« (1789); und so jede Ästhetik außer der des Naturalismus.) – Die Betrachtung ist also eine allgemeine menschliche Geistes- oder eine wissenschaftliche Tätigkeit oder ein praktisches oder ein ästhetisches Verhalten des Menschen.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 96-97.
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