Demuth.

[123] Demuth ist, daß einer nicht zu viel von ihm selbst denke, und seine Schwachheiten und Gebrechen erkenne, auch sich dessen, was er mehr ist und hat, als andere, nicht rühme, sondern es als ein Werk seines Gottes ansehe und von ihm herleite. Und dasselbige aus Herzens Grunde, nicht blos zum Schein und Heuchelei, so wie Christus that, der nicht kommen ist, um ihm dienen zu lassen, sondern daß er diene. Ob nun diese Tugend seltsam ist, das ist nicht Wunder, sintemal die Leute gern groß von sich denken, und sich beßer dünken, als sie sind. Da gehen sie hin, und machen es, wie der Pharisäer im Evangelio, der sich auch von allen Sünden frei glaubte, aber doch der schändlichste Heuchler war, und keine Liebe zu Gott und seinem Nächsten hatte. Er brüstete sich seiner Tugend, und rühmte seine guten Werke, und sahe doch das Böse nicht, was in seinem Herzen wohnte. Aber so machen es die Demüthigen nicht. Sondern sie suchen und forschen immer[123] nach ihren Schwachheiten und Gebrechen, sind immer nicht zufrieden mit sich selbst, und, wo sie etwas Gutes an sich fänden, so verdanken sie es Gott, der ihnen Kraft und Beistand gegeben hat. Wie sie es in geistlichen Dingen thun, so machen sie es in weltlichen. Sie glauben nicht, daß sie mehr verdienen, geschickter und fleißiger sind als die andern, sondern sie halten dafür, daß sie es nicht allein sind, die Würdigkeit haben, und vergleichen sich mit andern, daß sie sehen, wo es ihnen noch fehle und gebreche. Das ist die rechte wahre Demuth, aber es giebt auch eine falsche. Diese ist bei denen, welche in Worten und Werken sich für klein ausgeben, sich arme Sünder bekennen, und sich vor jedem demüthigen, aber im Herzen stolz und aufgeblasen sind, und nur zum Schein so reden und sprechen, daß sie für recht fromm und heilig gehalten werden mögen. Das ist verfluchte schändliche Demuth! – Die Demuth fordert auch nicht, daß wir uns selbst Untugenden andichten oder so wir wirklich etwas gutes an uns hätten, dasselbe verkennen sollen. Denn es muß niemand so ein Lügner sein, daß er sich[124] selbst für einen Räuber, Unkeuschen, Dieb u.s.w. schuldig gebe, der ihm doch nichts bewußt ist, sondern muß die Wahrheit sagen, und den Ruhm des guten Gewissens ihm nicht nehmen lassen. Denn es kann ja wohl ein frommer Mann sagen: Ich danke es dem lieben Gott, daß ich kein großer Bösewicht bin, wenn er nur auch seine übrigen vorhandenen Untugenden erkennet und läßet. Wiederum kann auch wohl ein Schalk diese Worte reden: Gott sei mir Sünder gnädig! wie sie denn wohl mehr von Schalken, als von rechten bußfertigen frommen Leuten geredet werden, die sie sagen und bleiben immerfort, wie sie waren.

Quelle:
[Verfasser von Luthers Leben]: D. Martin Luthers Sittenbuch. Leipzig 1794, S. 123-125.
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