In geistlichen Dingen.

[127] Das ist vollends der häßlichste Stolz, der sich auf seine Heiligkeit und Frömmigkeit etwas[127] einbildet. Denn da sind alle Vermahnungen und Reden umsonst. Wenn ein solcher Stolzer eine Predigt anhört, oder in der Bibel lieset, und es könnte sein Herz gerührt werden, so deutet er alles auf andere, aber auf sich selbst nicht, und spricht: ach so bin ich nicht, das habe ich nicht gethan, aber mein Nachbar, mein Hausgenosse, muß sichs merken. Denn solche Stolze vor Gott haben die schändlichsten Zungen, schmähen und vergiften den Nächsten. Zu denen Jesus gar nicht sagen konnte: Du Heuchler ziehe zuvor den Balken aus deinem Auge und besiehe dann, ob du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen mögest. – Es hat auch gar wohl der Mann in dem Heidenthume recht gehabt, der da gesagt, der Mensch habe zwei Bündel zu tragen, einen auf dem Rücken, in welchem seine Laster und Sünden wären, und einen vorne hin, wo des Nächsten Sünden wären. Damit er gar schön gesagt hat, wie man seine Sünden auf den Rücken stelle und nicht sehen wolle, aber des Nächsten Sünden immer im Angesicht habe. Denn sie dünken sich so heilig und tadellos, daß nichts mehr von Heiligkeit in sie hineingehe[128] und Platz finde. Da ist dann an keine Buße und Besserung zu gedenken, so wie ein Kunstverständiger, der sich vollkommen glaubt, seine Werke niemals bessern und ändern wird, wenn man es ihm auch sagt. Und ich wollte wohl lieber einen Ehebrecher, Dieb und Mörder zur Buße bringen, denn einen Geistlichstolzen. Und, was den größten Schaden thut, es glaubt es niemand, daß er so stolz auf seine Werke sei, sondern spricht immer noch demüthig. Daher ich dafür halte, daß diese Sünde die größte unter allen ist, und kein Kräutlein, sie zu heilen, auf dieser Erde gewachsen ist, bis so lange der Mensch zur Erkenntnis kommet.

Quelle:
[Verfasser von Luthers Leben]: D. Martin Luthers Sittenbuch. Leipzig 1794, S. 127-129.
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