Menschenkenntniß.

[85] Ich halte dafür, daß es ein weit leichter Ding sei, Gott kennen zu lernen, als einen Menschen. Denn Gott wird mir ja in der heiligen Schrift gelehrt und geprediget, und ich erfahre es auch täglich und stündlich, wie er gesinnet ist, und wie er die Menschen so herzlich liebet. Und Gott kann ja nicht lügen, noch sich verstellen und anders scheinen, als wie er wirklich ist. Aber hilf lieber Gott, wie sieht es da mit dem Menschen aus. Des Menschen Herz weiß sich so zu stellen und zu scheinen, daß man gar nicht recht klug wird, wie man mit ihm daran ist. Da siehe du in sein Herz und du siehst so wenig, als du im Wasser einen Fisch[85] sehen kannst. Und Gott bleibet auch wie er von Ewigkeit gewesen. Nun alte dagegen die Menschen, die wie das Wetter sind, das alle Tage anders wird. Nimm ein Beispiel: du hast einen Freund, der dich heute liebet, aber du weißt doch nicht gewiß, ob er nicht morgen dein Feind wird, und seine Sinnesart umkehret. Daher ich dir wohl wollte gerathen haben, wie das Sprüchwort sagt: traue, schaue, wem? Du mußt deshalb nicht sein, wie die Pharisäer waren, die von allen Leuten Böses und Arges dachten, so auch selbst von dem Herrn Jesu, da er sie doch längst anders hätte lehren können. Sondern du mußt schauen und vorsichtiglich zusehen, was für Leute es sind, mit denen du dir zu schaffen machen willst. So höre ich wohl sagen und schreien: ach was für eine böse Frau habe ich mir genommen, die mir kein ruhiges Stündlein läßt! oder was habe ich für böse Dienstboten und Haußgenossen. Was hilft da dein Klagen? Siehe fein zu, ehe du etwas mit Leuten unternimmst, daß du von ihrem Herzen gewisse Erfahrung hast, wie sie es zuvor zu anderer Zeit und mit andern Menschen machten.[86] Sonst wirst du ein jämmerlicher Narre sein, der sich von allen trügen und schaden läßt.

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[Verfasser von Luthers Leben]: D. Martin Luthers Sittenbuch. Leipzig 1794, S. 85-87.
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