4. Kapitel.

Gegen Geschwister.

[25] »Siehe, wie sein und lieblich ist's,

Wenn Geschwister einträchtig leben;

Wie köstlicher Balsam, wie Himmelstau«.

Psalm 133.


Zank und Streit,

Mißgunst, Neid,

Bringt nur Leid.

Verträglichkeit schafft Segen

Stets und allerwegen.


Streit und Zank –

Ein Gifttrank,

Vom Teufel gebraut.

Frieden ein köstliches Balsamkraut.
[25]

Der kleine Hans war ein hübsches und braves Bürschchen, auch recht fleißig im Lernen. Aber einen großen Fehler hatte er, er war neidisch auf seine Geschwister. Strich die Mutter Butterbrot auf, so sah er nicht auf seine Portion, sondern auf die seiner Geschwister und paßte auf, ob auf ihrem Brot die Butter vielleicht ein wenig dicker aufgestrichen wäre als auf dem seinigen, und wenn er sich einbildete, daß dem so wäre – und das war oft der Fall, denn der Argwohn sieht manches, was in Wirklichkeit nicht vorhanden – dann war er mürrisch und verdrießlich, prudelte und weinte. So machte er es auch, wenn Fleisch und Obst verteilt wurde, und bei manchen anderen Gelegenheiten. Daher hieß man ihn den Neidhannes. Vater und Mutter gaben sich alle Mühe, dem Hans den bösen Geist auszutreiben, aber da halfen weder Ermahnungen noch Strafen.

Eines Tages sagte die Mutter zum Vater: »Ich fürchte, lieber Wilhelm, unser Hans ist krank. Sieh doch, wie gelb seine Gesichtsfarbe ist. Früher hatte er ein so frisches Gesicht wie ein Borsdorfer Apfel«. Der Vater antwortete: »Das kommt bei Kindern manchmal vor. Sehen wir einige Tage zu; es geht vielleicht vorüber«.

Es ging aber nicht vorüber, sondern das Antlitz des kleinen Hans ward im Gegenteil täglich gelber und sah bald ans wie eine Citrone. Da schickte man zum Doktor Pflasterstreicher. Der Doktor kam, setzte seine Brille auf und untersuchte den Hans lang und gründlich.[26]

Dann machte er ein ernstes Gesicht und sagte: »Der Hans hat eine merkwürdige Krankheit. Ihm sitzt ein bissiger Käfer im Herzen, dieser Käfer heißt Neid. Vom Geifer dieses Käfers ist sein Blut gelb geworden«. Da erschraken die Eltern, und auch der Hans erschrak, weinte und schrie: »O helft mir, helft mir!« Der Doktor legte den Zeigfinger an die Nase, sann nach und sagte: »Da ist nichts anderes zu machen, als den Hans zu operieren und den Käfer herauszunehmen«. Und so wurde der Haus auf einen Schragen gebunden, der Doktor Pflasterstreicher nahm ein großes Transchiermesser, schnitt ihm die Brust auf, nahm das Herz heraus und öffnete es. Richtig, dalag ein abscheulicher Käfer, so ein kleiner Drache, mit scheelen Augen und einem Maul wie eine Beißzange.

»Haben wir dich, du Scheusal«! sagte der Doktor, packte das Tier und warf es in eine Schüssel, wo es sich in heftigen Zuckungen wand und krümmte. Dann nähte der Doktor das Herz des Hans wieder zu, that es wieder an seinen Platz und verpflasterte die aufgeschnittene Brust. »Es ist gut«, sagte der Doktor, »daß ihr mich rufen ließet; in einigen Tagen wäre es zu spät gewesen, der Käfer wäre so groß geworden, daß ich ihn nicht mehr hätte herausnehmen können, ohne das Herz zu beschädigen.« Das Tier nahm er mit nach Hause, that es meine mit Spiritus gefüllte Flasche und stellte diese in einen Schrank. Dort ist es neben Totenschädeln und andern ärztlichen Kuriositäten noch jetzt zu sehen.[27]

Der Hans stand große Schmerzen aus, aber er trug sie geduldig, und nach wenigen Wochen war er vollständig hergestellt. Seitdem war er ein ganz anderer, von Neid auf seine Geschwister keine Spur mehr. »O wie froh bin ich«, sagte er oft, »daß das bissige Tier, das mich so arg gequält hat, nicht mehr in meinem Herzen haust«.


Merke:


Neid

Schafft Leid.
[28]

Quelle:
Adelfels, Marie von: Des Kindes Anstandsbuch. Stuttgart [1894], S. 25-29.
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