10. Brief.

[67] In meinem letztern Briefe sprach ich mit Dir, lieber Wilhelm, von dem so nöthigen Zwange, dem man sich in jeder guten Gesellschaft unterwerfen muß. Um diesen Zwang so zu erleichtern, daß er Dir am Ende nicht nur nicht schwer falle, sondern zur Fertigkeit und Gewohnheit werde, will ich Dir noch zwey Mittel angeben, deren Gebrauch ich Dir nicht genug empfehlen kann.

Erstlich: Laß Dich nie gehen. So wie Du, um in Deiner ganzen Bildung zur nöthigen Vollkommenheit zu gelangen, immer strenge gegen Dich selbst seyn mußt, so mache es Dir immer zur Pflicht, Höflichkeit und Anstand überall, ohne die geringste Nachsicht gegen Dich [67] zu beobachten, zu Hause, so wie auswärts, unter den Deinigen, so wie in der Gesellschaft Fremder, unter Deinen Freunden und Kameraden, so wie unter Deinen Vorgesetzten. Ohne diese Strenge wirst Du es nie zu einiger Vollkommenheit in der guten, seinen Lebensart bringen. Erlaubst Du Dir zu Hause unschickliche Nachlässigkeiten im Aeußern, so wirst Du sie leicht mit in die Gesellschaft bringen; erlaubst Du Dir bey den Deinigen, bey Deinen Freun den, Grimassen, schlechte, niedrige Ausdrücke im Reden, üble Gewohnheiten beym Essen, etc. so werden Dich diese Dinge in der Gesellschaft, bey aller Deiner Aufmerksamkeit, doch übereilen, Du wirst oft anstoßen, beleidigen und misfallen; auf jeden Fall wird Dir jene Fertigkeit, die nur durch beständige Uebung erlangt wird, jene Geschmeidigkeit, jenes natürliche Wesen fehlen, welches den Mann von seiner Lebensart auszeichnet und ihn so liebenswürdig macht. Ich habe manche Personen gesehen, welche, ohne unwissend zu seyn und eingeschränkte Fähigkeiten zu haben, in großen Gesellschaften gemeiniglich ganz stumm waren, bloß aus der Ursache, weil sie zu Hause und in dem engen Cirkel ihrer Vertrauten sich[68] ganz gehen ließen, und bey dem Gefühle, daß sie in jenen Gesellschaften anders sprechen mußten, fürchteten, etwas unschickliches, unanständiges oder lächerliches zu sagen.

Hierin liegt hauptsächlich die Ursache des großen Unterschieds derer, welche, bei allem Bestreben recht artig zu seyn, doch öfters anstoßen und misfallen, und derer, welche in seinen Sitten und einem wohlgefälligen Betragen nie fehlen; jene lassen sich zu oft gehen, diese niemals, weil sie sich in ihrer Jugend nie haben gehen lassen dürfen.

Zweytens: Gewöhne Dich zu einer beständigen Gegenwart des Geistes.

Mit dieser Geistesgegenwart, die überhaupt verbindlich ist, gefällt und einnimmt, weil wir uns Andern ganz widmen, wird Deiner Aufmerksamkeit, Deiner Beobachtung und Beurtheilung nichts von allem, was Dich umgibt, entgehen, Du wirst überall und jedesmal die Personen und ihre Verhältnisse gegen Dich und Andere, die Zeit, den Ort, die Umstände zu unterscheiden [69] und richtig zu behandeln wissen, Du wirst Dich überall mit Schicklichkeit benehmen, Niemanden übersehen, vernachlässigen oder beleidigen, Aufmerksamkeiten, Schonungen überall haben, und die Fertigkeit erlangen, Dich Jedem angenehm zu machen. Je leichter Dir diese Geistesgegenwart wird und je natürlicher sie Dir ist, desto weniger wirst Du in Gefahr seyn, die Miene des Beobachters anzunehmen, der eben so sehr misfällt als beleidiget.

Der Unaufmerksame, im Geiste Abwesende, Zerstreute, der gedankenlose Träumer, macht sich nicht nur überhaupt höchst misfällig, weil seine Abwesenheit Mangel von Achtung gegen die Gesellschaft zu erkennen gibt, sondern er stößt auch in einzelnen Dingen überall an, ohne es zu ahnden, er beleidiget und muß sich damit entschuldigen, daß er es nicht böse gemeint habe, er vernachlässiget und verabsäumt, und muß mit Beschämung bekennen, daß er es nicht bemerkt, daß er nicht daran gedacht habe. Es gibt Menschen, die aus Schwachheit des Verstandes, oder aus Leidenschaft, Geistesabwesenheiten haben. Diese sind zu bedauern. Es gibt aber Andere, welche diese Abwesenheiten [70] affectiren, um sich die Miene eines tiefdenkenden Genies zu geben. Diese machen sich lächerlich. Sie haben gehört, daß Leibnitz einst in einer Gesellschaft durch ein Gespräch so zum Nachdenken hingerissen wurde, daß er seine Pfeife mit dem niedlichen kleinen Finger einer neben ihm sitzenden Dame stopfen wollte, und nicht eher zurück kam, als bis die Dame schrie. Dem großen Manne vergab man diese Unachtsamkeit. Wird man sie aber seinen kleinen Nachäffern vergeben?

Solche Abwesenheiten und Unachtsamkeiten sind in keinem Falle verzeihlich, als etwa im Ausbruche einer gerechten höchsten Freude oder Traurigkeit. –


[71] ** den 3. Aug. 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 67-72.
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