11. Brief.

[72] Um Dir den möglichsten Anstand zu erwerben, lieber Wilhelm, bilde zuvörderst mit besonderer Sorgfalt Deinen Körper und Gliedmaßen, Deine Miene und Deine Sprache.

Die Reinlichkeit ist das erste höchste Gesetz der körperlichen Bildung. Die Natur hat den Trieb dazu in uns gelegt; nur ausgeartete, rohe Nationen und Menschen vernachlässigen sie. Sie gibt Kraft, Stärke, Gesundheit, sie empfiehlt beym ersten Anblick, so wie Unreinlichkeit Ekel erweckt, zurückstößt, entfernt; jene ist das Bild eines reinen, edeln Gemüths, diese zeugt von einer niedrigen verkehrten Denkungsart, von Trägheit oder Gleichgültigkeit.

[72] Gewöhne Dich daher zur höchsten Reinlichkeit des Körpers und dessen Theile, besonders des Mundes, der Zähne, Hände und Nägel (die sorgfältig gehalten und geschnitten werden müssen,) und zu allem, was sie erhält und befördert, zum Waschen, Baden, immer reiner Wäsche und Kleidung, die so oft, als möglich, zu wechseln sind, und fliehe alle ihr entgegengesetzten übeln Gewohnheiten, namentlich das beständige Räuspern, Husten, Spucken, (zumal in das Zimmer) Schnauben und Schnüffeln mit der Nase, das Ohrenkratzen, das Weintrinken außer der Tischzeit, weil es einen übeln Geruch aus dem Munde verursacht, besonders aber das Tabakschnupfen und Rauchen, beides gleich üble Gewohnheiten, bey welchen diejenigen, die sie haben, immer mit einem gewissen Schmutze und üblen Geruche umgeben sind, die Zimmer verunreinigen, und daher sehr oft, zumal wenn sie rauchen, Gesellschaften vermeiden müssen, aus welchen es verbannt ist.

Die Leibesübungen sind das zweyte Mittel der körperlichen Bildung. Laufen, Springen, Balanciren, Werfen, Exerciren, Tanzen, Reiten, Fechten, Voltigiren etc. geben dem Körper Kraft [73] und machen ihn geschickt, sich überall gut zu halten, zu bewegen und in jede Lage zu fügen.

Die Miene drückt den jedesmaligen Gemüthszustand aus, sie ist der Spiegel des innern Menschen. Bilde sie daher zum Ausdruck gefälliger Gemüthszustände, als der ruhigen Bescheidenheit, des Wohlwollens, der Freundlichkeit, der Theilnahme, der Ergebenheit, der verständigen Heiterkeit und Zufriedenheit. Entferne von ihr das Finstere, Düstere, Mürrische, das Kalte, Verdrüßliche, so wie das Wilde und das leichtsinnig und einfältig Lachende, alles Ausdrücke des Unverstandes oder jener niedrigen Empfindungen des Hasses, des Neides, des Zorns, der Verachtung, der Habsucht, des Eigensinns, der bösen Lüste. Aber glaubst Du denn, lieber Neffe, daß Du im Stande seyn würdest, Dir jene gefällige Miene zu geben, wenn Du nicht zugleich die guten Gesinnungen, die sie ausdrücket, im Herzen hättest, oder diese widrige Miene von Dir zu entfernen, wenn Dein Herz nicht von diesen bösen Gesinnungen frey wäre. – Nimmermehr! Und gesetzt, es gelänge Dir bisweilen, Andere mit einer falschen Miene zu betrügen, würdest Du Dich wohl mit diesem Betruge, der sehr [74] bald entdeckt wird, der Verachtung, den jeder Betrug nach sich ziehet, Preis geben wollen? Es ist wahr, wir müssen oft so Herr über unsere Miene seyn, daß sie die Gemüthszustände, die wir geheim halten wollen, nicht verrathe, zum Beyspiel, Unzufriedenheit, Verdruß, Langeweile, Gleichgültigkeit etc. Diese Zurückhaltung aber ist nicht Betrug, sondern nöthige Schonung gegen Andere.

Hüte Dich besonders vor allen Grimassen, diesen häßlichen, unnatürlichen Verzerrungen der Theile Deines Gesichts, als: Mund und Lippen verziehen, oder aufsperren, mit den Augen schielen, sie herausdrücken, von einem Winkel zum andern werfen, die Augenlieder zu weit aufziehen oder mit ihnen die Augen fast ganz zudecken, die Stirne runzeln u. s. w.

Was die Sprache betrift, so muß Deine Stimme helle, vernehmlich und angenehm seyn. Sprich gelassen, nicht polternd, nicht hastig, weder zu geschwind noch zu langsam, schreye nie, sprich aber auch nicht zu leise, passe den Ton den Personen, den Umständen an, und vermeide jene Fehler sorgfältig, als das Lispeln, das Lallen, das [75] Schnarren, das Anstoßen, das Stottern, welche alle ein großer Uebelstand sind, und misfallen, obgleich manche Personen, zumal Frauenzimmer sich einbilden, daß manches, besonders Lispeln und Schnarren vornehm und angenehm sey, und daher, wenn sie gleich diese Fehler von Natur nicht haben, sie doch annehmen, besonders, wenn sie in großen Gesellschaften oder vor Fremden recht gefallen wollen. Solche üble Gewohnheiten und Vorurtheile zeugen von einem schlechten Geschmacke und einer vernachlässigten Erziehung. In Paris darf kein Schauspieler auf dem Theater erscheinen, der solche Sprachfehler hat.

Um Deine Stimme, Deine Aussprache zu bilden, lies oft im Deutschen und Französischen laut, und wenn es möglich ist, vor einem Freunde, der jm Stande ist, Dir Deine Fehler anzuzeigen. –


[76] ** den 10. Aug. 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 72-77.
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