19. Brief.

[116] Unter die allgemeinen Regeln, welche Du, lieber Neffe, in Deinem Umgange mit Andern zu beobachten hast, und die aus den vorhergehenden fließen, gehören ferner folgende:

Sey diskret, das heißt: beobachte gegen des Andern Interesse, Ehre, Zufriedenheit und Vergnügen eine solche Schonung, daß diese Dinge nie durch Deine Schuld gefährdet und compromittirt und ihm nie unangenehme Empfindungen in dieser Rücksicht verursacht werden.

Die Diskretion setzt einen gefunden Verstand, eine scharfe Aufmerksamkeit und richtige Beurtheilung,[116] seine Gefühle und Bescheidenheit und genaue Kenntnisse der Vorzüge, Talente, Neigungen, Fehler und Tugenden, Wünsche und Erwartungen Anderer, ihrer allgemeinen und besondern Verhältnisse, voraus.

Der diskrete Mann weiß, was er überall zurück halten muß oder sagen darf; er macht nie des Andern Geheimnisse bekannt, und wären es auch die Geheimnisse seines Feindes, welche dieser ihm ehemals, als Freund, anvertraut hatte; er lauscht nie mit unzeitiger Neugierde, Anderer Angelegenheiten, Geheimnisse, Fehler und Vergehungen zu erfahren, und erfährt er sie, so ignorirt er sie, ohne sich ein Wort darüber zu erlauben, was Andere beschämen oder kränken könnte, und ohne Antheil zu nehmen, wenn der dritte sich dieses erlaubt. Er halt alles zurück, dessen Bekanntmachung Andern Verdruß und Misvergnügen verursachen könnte, ihre besondern Urtheile und Meinungen über gewisse Menschen und Sachen, gegebene Hoffnungen, erhaltene Versprechen. Ohne jemals mit seiner Person, seinem Rathe, seinen Diensten, seiner Freundschaft, seinen Besuchen zudringlich zu seyn, mischt er sich nie, [117] unaufgefordert und ungefragt, in die Angelegenheiten und Verhältnisse Anderer, macht sich nie lästig, gehet nie dahin, wo er überflüssig ist, oder nicht gerne gesehen wird, hört und sieht nicht, was er nicht hören und sehen soll. Seine Talente, Vorzüge und Kenntnisse stellt er nie zur Schau aus, sondern nur soviel, als an jedem Orte, vor jeder Person schicklich ist, ohne jedesmal einen zu hohen Werth darauf zu legen. Er spricht nicht über Dinge als entscheidender Kenner, was immer nur eingebildete Schwachköpfe thun; auch was er vollkommen versteht, darüber schweigt er oft oder spricht wenig, um Andere seine Ueberlegenheit nicht fühlen zu lassen; er sagt bescheiden seine Meinung, oft auch diese nicht, wenn man sie nicht wissen will, oder wenn es zeitwidrig ist. Er spricht nie von seinen erzeigten Wohlthaten, Diensten und Gefälligkeiten. Weit entfernt, an die Menschen große Forderungen und Ansprüche zu machen, verlangt er nie Dienste und Gefälligkeiten, deren Leistung Andern Beschwerde, Nachtheil oder Verlegenheit verursachen könnte, nie Dienste, deren Verweigerung er voraussehen kann, und trägt weder Andern Dinge auf, die er selbst oder durch die [118] Seinigen eben so gut verrichten kann, noch nimmt er die Anerbietungen Anderer zur Verrichtung solcher Dinge an. Er beschwert sich nie über Anderer versagte Dienste, übersieht ihre Vernachlässigungen gegen sich, macht nie den Controlleur der Handlungen Anderer, tadelt seine Untergebenen nie harte, nie herabwürdigend und nie anders als im Geheim. Er läßt Jeden gerne nach seiner Weise leben, bequemt sich gerne nach Jedem und respectirt das Interesse, die Zufriedenheit und das Vergnügen auch derer, die weit unter ihm sind.

Du stehest leicht, lieber Wilhelm, daß die Diskretion eine der ersten Tugenden des geselligen Lebens, und eine der wesentlichsten Eigenschaften des Mannes von seiner Lebensart ist. Sie macht den Umgang sicher, zuverlässig und dadurch angenehm; von einem diskreten Manne hat man nie etwas zu fürchten. Je höher die Person ist, mit welcher Du zu thun hast, und folglich, je wichtiger alles das ist, was sie angehet, desto mehr Diskretion mußt Du gegen sie beweisen.

[119] Gewöhne Dich ferner, Aufmerksamkeiten gegen Andere zu haben, das ist, alle jene, größtentheils kleinen Handlungen und Geschäfte zu verrichten, wodurch Anderer Wünsche erfüllt, ihre kleinen Bedürfnisse und Neigungen befriediget, unangenehme Dinge entfernt und angenehme herbeygeführt werden, ohne daß sie Dich zuvor dazu aufgefordert oder darum gebeten haben. Dieses freywillige Zuvorkommen, zumal wenn es mit einer geschickten, leichten Art geschiehet, ist die Seele, die Würze des geselligen Lebens. Es schmeichelt der Eigenliebe Anderer als ein Beweis der besondern Achtung und Zuneigung gegen sie und thut daher oft mehr Wirkung als große Dienste, welche höhere Pflichten, eingegangene und übernommene Verbindlichkeiten gebieten. Je seiner solche Aufmerksamkeiten sind, desto mehr verbinden sie. Sie kommen täglich im Umgange mit Andern vor. Nur einige Beyspiele. Du weißt, daß zwey Personen sich gerne sehen und bittest sie zusammen;. Du wirst von einem Fremden besucht, und bittest diejenigen, die er wünscht zu sprechen, oder die ihm eine gute Unterhaltung geben; Du läßt Personen zusammen spielen, die dasselbe Spiel gleich gerne, gleich [120] gut, die alle gerne höheres oder niederes Spiel spielen, Du ziehest Nachrichten ein, die Andere interessiren, schreibst Andern Briefe und gibst ihnen Nachrichten, die sie wünschen;, Du bietest Jemanden etwas an, was er nicht wagen sollte oder wollte, von Dir zu verlangen; Du leistest Jemanden Gesellschaft, der Dich gerne bey sich hat, und zu der Zeit, wo er Dich am liebsten siehet; Du machst Gebrauch von dem Geschenke, das Dir Jemand gemacht hat; Du setzest Jemanden Lieblingsgerichte vor; etc. Solche Aufmerksamkeiten kosten nicht viel und thun, zumal bey eiteln von sich eingenommenen Personen, die besten Wirkungen. –


[121] ** den 5. Oct. 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 116-122.
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