20. Brief.

[122] Lieber Neffe,


Wenn Du mit Andern so angenehm als möglich leben willst, wenn Du besonders nicht nur Anderer Zudringlichkeiten, Vernachlässigungen und Beleidigungen verhüten, sondern auch Dich selbst immer in Sicherheit erhalten willst, daß Du Dich selbst nicht leicht gegen sie vergessest und gehen lässest: so beobachte die Regel, daß Du Dich nie auf einen familiären Ton mit Andern, als mit der größten Vorsicht setzest.

Die Familiarität bestehet darin, wenn man, um sich einander mehr zu nähern und leichter [122] mittheilen zu können, diejenigen Höflichkeitsbezeigungen unterläßt, die in conventionellen Gewohnheiten und besonders in jenem Ceremonielle bestehen, welches das Betragen gegen Höhere, seines Gleichen und Niedere unterscheidet, und deren Unterlassung nicht wesentlich der allgemeinen Achtung entgegen ist.

Diese Familiarität ist gegen Höhere jederzeit Unverschämtheit; nur auf ihren jedesmaligen, ausdrücklichen Befehl in jedem einzelnen Falle darfst und mußt Du sie brauchen, damit sie leichter und bequemer mit Dir umgehen können. Gegen Deines Gleichen ist jede Familiarität Unhöflichkeit. Es ist gar nicht rathsam, daß gleiche Personen, zumal wenn sie sich öfters sehen, sich auf einen familiären Ton gegen einander setzen; er erzeugt gemeiniglich Gleichgültigkeit und Verachtung, weil, wenn sie sich über unwesentliche Dinge hinweggesetzt haben, sie sich so leicht gehen lassen, dieses dann auch bey wesentlichen Dingen thun, Blößen geben, gegen die Achtung fehlen und so gegen einander verlieren. Es gibt sehr Viele, die sich gar zu gerne auf diesen familiären Ton mit Andern setzen, und es gibt manche, die ihn sogar affectiren, [123] um zu zeigen, daß sie mit aller Welt auf einem sehr vertrauten Fuße stehen. Diese vermeide oder halte sie in beständiger Entfernung von Dir. Folge nie der Gewohnheit so vieler jungen Leute, mit einem Andern, wer es auch sey, sogenannte Brüderschaft zu machen und Dich mit ihm zu dutzen; dieß ist der Weg zu den nachtheiligsten Familiaritäten. Nur gegen seinen vertrauten, erprobten Freund, mit welchem man die stillschweigende Uebereinkunft, alle jene unwesentlichen Umstände wegzulassen, voraussetzen darf, ist der familiäre Ton an seinem Platze, weil der Freund ihn jederzeit mit der äußersten Aufmerksamkeit begleitet, sich nichts zu erlauben, was der zärtlichsten Achtung entgegen läuft und nur soweit familiär und ohne Umstände ist, als er wünscht, daß Du es mit ihm seyn mögest. Gegen Niedere ist ein vertraulicher, familiärer Ton verbindende Höflichkeit, indem wir sie uns mehr nähern und ihren Umgang mit uns leichter und angenehmer machen. Nur muß man einerseits auch hier nie die Achtung vergessen, die man ihnen schuldig ist, andererseits aber sie nie aus den Schranken der Ehrerbietung lassen und ihnen erlauben, sich mit uns gemein zu machen und[124] auf einen gleichen Fuß mit uns zu setzen. Der Herr von ** vergaß diese Vorsicht gegen seinen Sohn, daher dieser einst, als sie beyde in einer Gesellschaft zur Tafel gingen, ihm einen tüchtigen Stoß mit dem Knie von hinten versetzte, damit er gehen sollte, und er nichts zu sagen wußte als: Sie sehen, meine Herrn, auf welchem Fuße der Vertraulichkeit ich mit meinem Sohne stehe.

Es würde unverschämt seyn, vor einem Höhern zu sitzen, unhöflich vor seines Gleichen, aber erlaubt vor seinem Freunde. Dieser wird, um ohne Zwang bey Dir zu seyn, es gerne sehen, wenn Du in seiner Gegenwart ein Geschäfte endigest, einen empfangenen Brief liesest; ein Anderer, obgleich Deines Gleichen, würde es als eine Unhöflichkeit sehr übel nehmen, und der Höhere würde es für unverschämt halten, wenn er Dir die Beendigung des Geschäfts oder die Lesung des Briefs nicht ausdrücklich anbefohlen hätte.

Es gibt aber noch eine andere Familiarität in sehr übler Bedeutung, wenn Personen ohne [125] Erziehung sich gegen ihres Gleichen, und noch mehr gegen Niedere, alles gerne erlauben, was ihre übeln Gewohnheiten, ihre Launen gebieten, wenn es auch gegen die Achtung ist, die sie Andern schuldig sind. Vor dieser häßlichen Familiarität und vor jeder Gesellschaft, worin sie herrscht, habe ich nicht nöthig Dich zu warnen. Kannst Du ihr nicht jedesmal ausweichen, so wirst Du wissen Deines Gleichen und Niedere von Dir in gehöriger Entfernung zu halten; ist es ein Höherer, der sich dieselbe gegen Dich erlaubt, so entferne Dich von ihm und zeige ihm; daß Du ein Mann bist, der seine Ehre und Rechtschaffenheit um keinen Preis verletzen läßt.


[126] ** den 12. Oct. 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 122-127.
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