Aus meinem Leben.
Eigene Schuld und fremde Schuld.
(Nr. 4. S.J.1)

Der Verbrecher und das Verbrechen! Seine Ursachen und Bekämpfung! In der Kammer, auf Kongressen und an Biertischen, überall wird dieses Thema besprochen; aber immer gehen die verschiedenen Meinungen auseinander. Alljährlich werden viele gelehrte Bücher und Abhandlungen geschrieben über dieses Thema, aber wie [75] einseitig sind diese Berichte, wie falsch die vielfach aufgestellten Hypothesen, und wie ungerecht werden in der Regel die unglücklichen Insassen der Strafanstalten verdammt. »Gehenkt ohne Verhör«, wie der Frankfurter sagt, denn sie sind bürgerlich tot.

Die Wissenschaft behauptet: »Der Verbrecher wird geboren«, also er folgt lediglich ohne jede Willensfreiheit dem angebornen Triebe. Wenn nun auch diese widersinnigen Lehren Lombrosos in den kriminalanthropologischen Kreisen unseres Vaterlandes so gut als abgetan gelten, so habe ich doch oft die Erfahrung machen müssen, daß wir gerade dort, wo wir Hilfe erwarteten, am schärfsten verurteilt wurden, nämlich in den gebildeten Kreisen des Mittelstandes. In den Salons der Bourgeoisie, die doch zuerst uns die Hand zur Rettung reichen sollte, sobald ein Gefangener mit ernsten ehrlichen Absichten zur Besserung die Anstalt verläßt, wird über uns der Stab gebrochen; von dort aus gehen die Fußtritte, die uns zum zweiten Male zu Fall bringen. Es ist für mich unzweifelhaft, daß hier die Lombrososchen Lehren mitgewirkt und die bestehenden Gegensätze noch verschärft und völlig unausgleichbar gemacht haben.

Andere, vor allem die Gefängnisgeistlichen, behaupten, daß das Verbrechen lediglich ein Produkt der Sünde, der Nichtachtung der Religion und der heiligen zehn Gebote Gottes sei, entstanden auf dem ureigensten Boden jedes einzelnen Individuums nach der Bibelstelle: »Aus dem Herzen heraus kommen arge Gedanken, Mord, Hurerei, Dieberei, falsches Zeugnis.« Sie beantworten die Frage nach den Ursachen des Verbrechens einfach und kurz: »Die Sünde ist der Leute Verderben!«

Wieder andere stellen die Behauptung auf, daß das Verbrechen nicht im Herzen des Menschen, sondern in der Organisation der modernen Gesellschaft zu suchen sei, und verlangen, die Strafgesetzbücher sollten die Tatsachen, welche sie zu Verbrechen stempeln, nach ihren Motiven, nicht nach den Resultaten beurteilen.

Nun ist man aber imstande, die traurige Tatsache festzustellen, daß in Deutschland 85% aller Gefangenen rückfällig werden! Wie kommt das?!

Sind diese 85% ohne Ausnahme unverbesserliche, immer wieder in Verbrechen zurückfallende, aus Lust zum Bösen frevelnde Menschen, bei denen selbst die strengsten Strafen keinen bessernden Einfluß hervorrufen? Oder hat man hier nach anderen Faktoren zu suchen?

Über alle diese Dinge habe ich oft in der Einsamkeit der Gefängniszelle nachgedacht, habe mich selbst als Objekt genommen, [76] bin in stillen einsamen Stunden hinabgetaucht in die Fluten meines Innern, um zu sehen, was da unten zu finden ist, ob Perlen oder giftiges Getier; habe mein ganzes bisheriges Leben noch einmal in Gedanken an mir vorüberziehen lassen, habe auch von den Tausenden meiner Mitgefangenen, die ich im Gefängnis an verschiedenen Orten Deutschlands kennen lernte, jeden Einzelnen, soweit ich das vermochte, unter die Lupe genommen und bin zu dem Resultat gekommen, daß nur derjenige obige Fragen richtig beantworten kann, der sich in die Verhältnisse des Rechtsbrechers hineinzudenken vermag, der sich in die Lage desselben hineinversetzt und nun von seinem Standpunkte aus obige Fragen beurteilt.

Ich will nun den freundlichen Leser in die Lage versetzen, über diese Fragen selbst ein Urteil abgeben zu können, indem ich die wahren Tatsachen – Geschichten aus meinem Leben – hier niederschreibe, die meine Ausstoßung aus der Gesellschaft zur Folge hatten. Diese Tatsachen können als typisch angesehen werden, insofern als Tausende gleich mir nur deshalb und trotz aller guten Vorsätze, ins Gefängnis zurückkehrten, weil sie von der Gesellschaft mit Verachtung, Spott und Hohn behandelt wurden und trotz aller Mühe keine Arbeit finden konnten, schließlich wieder in schlechte Gesellschaft gerieten und nun statt aufwärts – abwärts gerissen wurden. Ein altes Sprichwort wird hier immer wieder zur Wahrheit: »Müßiggang ist aller Laster Anfang!« –

Ich bin in Norddeutschland, in einer kleinen Provinzialstadt von kaum 6000 Einwohnern geboren. Mein Vater starb, nachdem ich kaum 10 Jahre alt geworden war, viel zu früh für uns Kinder, speziell für mich. Aber ich hatte eine fromme Mutter, deren ganzes Leben ein Gebet war, denn sie sorgte und arbeitete unablässig Tag und Nacht, um mich und meine Geschwister zu anständigen Menschen, zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen. Doch entging es ihren wachsamen Augen, daß ich halbe Tage über Büchern, Produkten der modernen Schandliteratur und Hintertreppen-Romanen, saß, die mein Inneres vergifteten und meine Gedanken verwirrten. Ich war ein frühreifer Junge, voller Energie und Unternehmungsgeist, mein ganzes Sehnen war auf die Großstadt gerichtet, wo ich ein wohlhabender Mann zu werden hoffte, um meiner guten Mutter all' ihre Liebe vergelten zu können.

Kaum 17 Jahre alt, schnürte ich mein Bündel: einige Anzüge, etwas Wäsche und einige Jugenderinnerungen, das war alles; so mit leichtem Gepäck, aber mit frohem Sinn und guten kaufmännischen Kenntnissen ausgestattet, zog ich hinaus in die weite Welt. Schmerzlich [77] war der Abschied von meiner guten Mutter; es war, als ahne sie, daß sie mich nie mehr sehen würde. Manche gute, ernste Lehre gab sie mir mit auf den Weg, dann reichte sie mir zum letzten Male die Hand, senkte ihre guten treuen Augen tief in die meinen und sprach so ernst und feierlich, daß es mir war, als sei ich in einer Kirche: »Mein Sohn, habe stets Gott vor Augen und im Herzen und hüte Dich, daß Du in keine Sünde willigest noch tust wider Gottes Gebot!«

Zehn Minuten später saß ich in der Eisenbahn und fuhr hinein in die schöne Gotteswelt, frisch und frei, die Brust geschwellt von Hoffnungen und kühnen Träumen.

Seitdem sind 15 Jahre vergangen, und ich habe sie nicht wieder gesehen – mein geliebte Heimat und mein liebes, altes Mütterlein.

Nachmittags traf ich in B., meinem Reiseziele, ein, und nachdem ich den Reisestaub abgeschüttelt, begab ich mich sofort nach der Wallstraße, um mich meinem neuen Chef vorzustellen. Dieser, eine wahrhaft hünenhafte, imposante Gestalt, unterzog mich einer scharfen Musterung, doch ich mußte ihm wohl gefallen haben, war ich doch ein großer starker Kerl, sogar mit einem Anflug von Schnurbart und machte den Eindruck eines Zwanzigjährigen, denn er reichte mir wohlwollend die Hand und bot mir einen Stuhl.

»Sie sind noch ein sehr junger Mann«, redete er mich an, »jedoch Sie sind mir empfohlen worden und haben in meinem Geschäft Gelegenheit, sich in allen Zweigen gründlich zu vervollkommnen, also machen Sie ihrer Empfehlung Ehre und – vor allem Pünktlichkeit, dann werden wir gut miteinander auskommen.« –

Am andern Morgen trat ich meinen Posten an. Der erste Buchhalter machte mich mit meinen Obliegenheiten bekannt und stellte mich auch den, gleich mir im Geschäft angestellten jungen Leuten, ungefähr zehn an der Zahl, vor; es waren dies lauter liebenswürdige junge Leute, mit denen ich bald bekannt wurde.

Die ersten Monate gingen vorüber wie im Fluge, was gab es da alles zu sehen: diese Prachtbauten, Theater, Panoptikum und andere Sehenswürdigkeiten, von denen ich bisher keine Ahnung hatte! Doch eine größere Freude war es für mich, als ich die erste kleine Geldsendung nach Hause schicken konnte; im Geiste sah ich mein Mütterlein, wie sie vor Freude weinend, ihren einzigen Jungen segnete. Streng hatte sie immer darauf gehalten, daß ich Sonntags zur Kirche ging, und da sie selbst so selten gehen konnte, so mußte ich nach Tisch ihr immer das Sonntagsevangelium vorlesen und die Predigt des Geistlichen, so gut es ging, wiederholen. Da konnte ich [78] sie denn ordentlich erzürnen, wenn mich einmal mein Gedächtnis im Stich ließ, d.h. wenn ich unaufmerksam gewesen war.

Auch in B. ging ich Sonntags zur Kirche, es war mir ein Bedürfnis, meinem Schöpfer zu danken. Mit meinen Kollegen hatte ich eigentlich außergeschäftlich sehr wenig Verkehr, da ich erstens kein übriges Geld hatte und auch wohl in Anbetracht meiner Jugend von ihnen noch nicht »für voll« angesehen wurde, zweitens aber, weil ich abends zu Hause blieb und mich mit Latein, Französisch und Englisch beschäftigte.

Es mochten ungefähr 6 Monate vergangen sein, als ich eines Sonntags, auf dem Kirchgang begriffen, einigen meiner Kollegen begegnete, welche zum Frühschoppen gehen wollten und mich so ungestüm drängten mitzugehen, daß ich schließlich nachgab, zumal ich noch fast eine Stunde Zeit hatte bis zum Beginn der Kirche. Es war mir zwar, als sei es nicht recht, vor der Kirche in's Wirtshaus zu gehen, doch mochte ich auch kein Spielverderber sein und so folgte ich denn meinen Kollegen in eine kleine Seitengasse, wo sich eine Weinstube befand. Hier waren schon fünf junge Leute aus unserm Geschäft, elegante Gestalten in Lackstiefel und Zylinder, in sehr animierter Stimmung versammelt und empfingen uns mit lautem Hallo! »Na Kinder! das ist recht, daß ihr kommt,« rief Kurt W., der Sohn eines Düsseldorfer Bankiers, »Ah! sieh' da, auch unsern Einsiedler haben sie mitgebracht!« dabei reichte er mir die Hand und zog mich neben sich auf das Sofa. »Aber Mensch, haben Sie denn nun endlich eingesehen, daß Sie Sonntags hierher in unsere Gesellschaft gehören, und nicht auf die Bude hocken wie ein Gichtbrüchiger?!« »Lieber Kollege«, antwortete ich, »Sie befinden sich im Irrtum, wenn Sie annehmen, daß ich zu Hause hocke, – ich gehe Sonntags in den schönen grünen Bürgerpark oder sehe mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt an. Vormittags allerdings bin ich bis 91/2 Uhr zu Hause, dann gehe ich zur Kirche, vorher –« »Was? Wohin?« wurde ich unterbrochen, »zur Kir–« ein homerisches Gelächter übertönte die letzte Silbe.

»Aber lieber Kollege,« meinte ein anderer, »was machen Sie denn in der Kirche? sind Sie etwa unter die Halleluja-Brüder geraten? Also deshalb sind Sie immer unsichtbar: ich glaube, Sie beten zu Hause auch den ganzen Tag!«

Ich war empört und fühlte, daß ich rot wurde, fragte aber trotzdem ganz naiv: »Aber meine Herren, gehen denn Sie nie zur Kirche? oder halten sie es nicht für notwendig, daß –«

»Ach was,« wurde ich wieder unterbrochen, »lassen Sie sich [79] doch nichts vormachen von den Pfaffen, – ist alles Schwindel! Am ehrlichsten war noch Luther, denn er singt: ›Wer nicht liebt Weib, Wein und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang!‹« Der ganze Chorus brüllte nun diesen Kantus.

»Prosit Kollege! Prosit!« erschallte es von allen Seiten, »Trink Mensch, der Wein erfreut des Menschen Herz; laß die Grillen fahren komm sei lustig!«

»Möchte wetten, unser Musterknabe denkt jetzt an das Sprichwort: ›Wenn Dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht!‹« höhnte Kurt W.

»Ja!« meinte ein anderer, »das Sprichwort ist sehr gut, doch heißt es: ›Wenn Dich die bösen Buben locken, so ziehe Dir die Stiefel aus und folge ihnen auf Socken.‹ Das ›folge ihnen nicht,‹ haben erst die Pfaffen aufgebracht.«

Erneutes Gelächter!

Mir war zu Mute wie einem Indianer, der zum ersten Male in eine große Ansiedlung der Weißen kommt. Ich hatte sehr rasch einige Gläser Wein getrunken, welche mir zu Kopfe stiegen, da ich nicht ge wohnt war, Wein zu trinken, und dachte in diesem Augenblicke daran, was wohl meine Mutter sagen würde, wenn sie mich hier so sehen würde. »Habe stets Gott vor Augen und im Herzen,« tönte es mir in den Ohren, und ich sprang auf, zahlte, riß mich gewaltsam los! – »Entschuldigen Sie, meine Herren, ein anderes Mal wieder!« und draußen war ich.

Es war der erste Sonntag, wo ich nicht zur Kirche ging, es war mir unmöglich, ich mußte allein sein, und der »Musterknabe,« der »Einsiedler,« der unter die »Halleluja-Brüder« Geratene, ging zu Hause und – weinte. –

Es wurde Weihnachten, und ich wäre gerne zu Hause gefahren, aber das viele Reisegeld – es war doch besser, ich verzichtete auf das Vergnügen und schickte das Reisegeld der Mutter. Im Geschäft hatte ich mich schnell eingearbeitet und die Zufriedenheit meines Chefs erworben, es wurde mir auch eine Gehaltserhöhung in Aussicht gestellt. So verging der Winter, welcher mir auch verschiedene Vergnügungen brachte, zu denen ich eingeladen wurde, und so oft es mir meine kleinen Ersparnisse erlaubten, besuchte ich das Theater.

Von meinen Kollegen wurde die Geschichte in der Weinstube mit keiner Silbe erwähnt, es schien, als sei Alles vergessen worden. An Fastnacht besuchte ich mit ihnen einen Maskenball, hatte ich doch noch nie so etwas gesehen, viel weniger mitgemacht. Meine Kollegen, meist Söhne sehr wohlhabender Eltern, trieben die tollsten [80] Dinge, der Champagner floß in Strömen und ich, der noch nie derartige Weine getrunken, war bald einer der Lustigsten. »Trinken Sie, Sennor!« sagte Kurt W., der Bankiersohn, der als spanischer Grande stolz an meiner Seite saß, »heute sind Sie mein Gast! Caramba! seien Sie wenigstens heute kein Duckmäuser. Prosit! Es lebe das Leben!«

»Nun, wie gefällt es Ihnen?« fragte Mynherr van E., ein junger Holländer, der bei uns als Volontär angestellt war, hauptsächlich um Deutsch zu lernen, »lauter lustige Bengel, unsere Kollegen, jeden Tag etwas anderes: Kneipen, Tingeltangel, Konzert, Weinstuben mit Damen. Famos! Schöner wie in Rotterdam. Nur nehmen alle es Ihnen übel, daß Sie sich überall ausschließen.«

»Lieber Kollege, ich will ehrlich mit Ihnen sein, sehen Sie, ich habe nicht die Mittel, um derartige Vergnügen mitzumachen, und es ist mir peinlich, mich von andern freihalten zu lassen.«

»Unsinn, Kollege! Unter uns ist doch ganz egal, wer zahlt. Kellner! Zwei Flaschen Heidsik! Aber etwas schleunigst!« –

Früh am Morgen brachte man mich nach Hause, besinnungslos betrunken, – der erste Rausch in meinem Leben. Am Nachmittag kamen die Freunde und weckten mich aus dem todähnlichen Schlafe, sie hatten sogar ein Katerfrühstück mitgebracht; dieses und ein kaltes Kopfbad brachten mich wieder auf die Beine.

»Nur weiter!« drängte Kurt W., »wollen den Kater schon vertreiben – den richtigen Trunk, und alles ist wieder gut!«

Ich wagte nicht zu widersprechen, und es gab in einer Weinstube eine Fortsetzung vom Abend vorher. Verschiedene Male wollte ich aufbrechen, aber ich wurde gehänselt und verspottet; und das falsche Ehrgefühl war stärker als die Stimme des Gewissens, ich blieb und – lange nach Mitternacht taumelten wir nach Hause.

Einige Wochen später wurde ein Ausflug verabredet, der an einem Sonntag stattfinden sollte; ich ließ mich nicht lange bitten, denn ich hatte ja Zeit am Sonntag; zur Kirche war ich seit jenem Maskenball nicht mehr gewesen. Es war ein amüsanter fröhlicher Tag, nur den Damen gegenüber war ich befangen und konnte einer gewissen Schüchternheit nicht Herr werden. Am Abend waren die Herren allein und hielten in dem Hinterzimmer einer Weinstube Nachfeier. Hier wurde Karten gespielt und zwar sehr hoch. Kurt W. machte den Bankhalter, und der Holländer setzte Summen bis zu 50 Mark auf eine Karte. Ich kannte das Spiel nicht; kannte überhaupt kein Kartenspiel, denn meine Mutter litt keine Karten im Hause, sie war eine große Gegnerin jeglichen Kartenspiels und litt nur harmlose [81] Unterhaltungsspiele wie Domino etc. Solche durften wir Kinder an langen Winterabenden ab und zu um – Pfeffernüsse spielen. Alle Herren beteiligten sich am Spiel und sprachen tüchtig dem Weine zu. Ein junger Buchhalter erklärte mir das Spiel und sagte, man könne eine beliebige Summe auf irgend eine Karte setzen; der Bankier schlägt zwei Karten auf, liegt nun die besetzte Karte links, zieht der Bankier den Betrag ein, liegt sie aber rechts, zahlt er den Betrag, der gesetzt wurde, aus. Dies Spiel heißt »Tempeln« erklärte er weiter, oder man sagt auch: »Meine Tante, Deine Tante.«

»Na, mein lieber S.!« rief der Bankhalter zu mir herüber, »sind Sie der einzigste, der nicht spielt? Oder haben Sie Angst zu verlieren? Fortes fortuna adjuvat! lehrte man mich in meiner Jugend, lernten Sie nie derartiges?«

»Aber, lieber Herr, wie kann ich etwas spielen, was ich nicht verstehe? Außerdem halte ich es nicht für erlaubt, mich durch das Spiel zu bereichern!« erwiderte ich.

»O sancta simplicitas!« lachte Kurt W., »Sie werden nie ein guter Kaufmann werden; oder glauben Sie, daß unser Chef seinen Reichtum erworben hat, ohne sein Vermögen xmal auf das Spiel gesetzt zu haben? Glauben Sie, daß unsere berühmte Börse etwas anderes ist, wie ein Hazardspielhaus? – Aber ich wollte Sie durchaus nicht animieren,« fügte er hinzu, »Sie werden noch früh genug Vergnügen an solch' unschuldigem Spielchen finden.«

Vierzehn Tage später saßen wir am selben Orte. Es war der Erste gewesen, und ich war gerade auf dem Wege zur Post, um für mein Mütterlein 20 Mark abzusenden, mehr konnte ich nicht erübrigen, da ich für anständige Kleidung viel Geld gebrauchte und wohl auch in letzter Zeit einige unnütze Ausgaben gemacht hatte. Leider fand ich die Post schon geschlossen, dafür traf ich die Freunde, welche mich denn auch richtig mitlotsten. Diesmal hatte der Holländer die Bank und alle Anwesenden beteiligten sich eifrig am Spiel.

»Nichts für ungut,« flüsterte mir Kurt W. zu. »Sie kennen doch die Geschichte jedenfalls auch, von ›dem Bauern, der die dicksten Kartoffeln hatte‹; nun ich wette, wenn Sie jetzt 5 Mark auf die Dame setzen, gewinnen Sie todsicher! – Sie wollen nicht? Hier, bitte, setzen Sie für mich schnell diese 10 Mark auf die Dame, ich habe heute kein Glück!« Dabei drückte er mir 10 Mark in die Hand.

Ich setzte das Geld auf die Dame, die Dame fiel rechts, also gewonnen. »Jetzt schnell auf die Sieben!« wieder gewonnen. »Jetzt die 40 Mark auf den Buben!« flüsterte Kurt, – nach zwei Abzügen gewonnen.

[82] »Nun setzen Sie die 80 Mark hin, wohin Sie wollen, möchte doch einmal sehen, ob es wahr ist mit die dicken Kartoffeln.«

Ich setzte das Geld auf die Zehn – und wahrhaftig, im Zuge gewann die Zehn. Ich nahm die 160 Mark an mich und übergab sie an Kurt.

»Hier!« sagte er, »10% sind 16 Mark, das ist so Usus. Nun versuchen Sie Ihr Glück auf eigene Rechnung!«

Ich wollte ablehnen, doch er sagte kurz: »Sie dürfen nie etwas zurückweisen, was Ihnen gehört! Ich hätte das Geld auf den König gesetzt, und da wäre es futsch gewesen.«

Nun flüsterte mir der Versucher ins Ohr: Mit 10 Mark in einigen Minuten 150 Mark gewinnen! Sei kein Narr, mach es auch so! Da könntest Du Dir die Lackstiefel bestellen und den Seidenzylinder und noch mehr schöne Sachen. Das Leben ist ja so schön, genieße es doch! Sei kein –

»Na los!« rief Kurt W. herüber, meine Gedanken unterbrechend, »man muß dem Glücke die Hand reichen! Frisch gewagt ist halb gewonnen!«

»Tu's nicht!« tönte es in meinem Innern, »denke an Deine Mutter, und wo bleiben Deine Grundsätze? – Habe stets Gott vor Augen und im Herzen, und –«

»Ach Unsinn!« die andere Stimme, »gerade darum mußt Du Geld gewinnen, damit Du Deine Mutter erst recht unterstützen kannst, und denk an die Lackstiefel und –«

»Silentium! Meine Herren, unser Kollege S. hat seine ersten 10 Mark auf die Dame gesetzt; wollen sehen, ob sie ihm Glück bringt!« rief Kurt W. – »Natürlich! es ist wahr mit den dicken Kartoffeln, – hat schon gewonnen!«

Die Leidenschaft hatte mich gepackt, vergessen waren die Grundsätze, vergessen die Mutter, vergessen alles! Ich gewann, wo ich hinsetzte, floß mir das Geld zu; in kurzer Zeit hatte ich mindestens 400 Mark vor mir liegen.

Es lagen nur mehr 150 Mark in der Bank. Kurt W. gab mir einen Stoß: »Machen Sie Schluß! Machen Sie den Bankier kaput!«

Nun meinetwegen: »Va banque auf die Dame!«

Die Dame fiel rechts, die Bank war gesprengt. Ich hatte 550 Mark gewonnen und fühlte mich als Millionär, so viel Geld hatte ich noch nicht besessen; das Spiel wurde abgebrochen, dafür aber in einem Nachtcafé noch 10 Flaschen Heidsik getrunken, wofür ich 150 Mark bezahlte.

[83] Mit dem Versprechen auf Revanche für den nächsten Abend, trennten wir uns; ich rief eine Nachtdroschke an, und 10 Minuten später war ich zu Hause. Aber in welchem Zustande: zerschlagen am ganzen Körper, Kopfschmerzen, daß ich glaubte, man wolle mir den Kopf auseinandermeißeln. Die ganze Nacht träumte ich vom Spiel: ich setzte Tausende immer auf die Dame und gewann, bis ich an den Hals in Tausendmarkscheinen steckte, und zählte und zählte und konnte doch nicht zu Ende kommen. Erst gegen Morgen fiel ich in einen ruhigen Schlaf. Gerade noch rechtzeitig kam ich ins Geschäft, war aber zur Arbeit nicht zu gebrauchen; erst gegen Abend ward mir wohler. Das Gewissen regte sich noch einmal mächtig: »Kehre um, noch ist es nicht zu spät!« tönte es mir in den Ohren, und ich nahm mir vor, am Abend nicht zu spielen, sondern frühzeitig schlafen zu gehen.

Aber ich hatte die Rechnung ohne meine Freunde gemacht. Sie erklärten mir, es sei nicht anständig, nicht gentlemanlike, wenn ich mich zurückziehen würde, und dürfe unter keinen Umständen mein am vorigen Abend gegebenes Versprechen brechen. Was sollte ich machen? Die Herren waren alle um 4–6 Jahre älter als ich – also mit!

Das Spiel nahm seinen Anfang, einige Glas Wein hatten mich munter gemacht; mit 300 Mark hatte ich die Bank übernommen, und nach sechs bis sieben Taillen war das Geld fort. Ich war sehr erregt, jeder Nerv zuckte, der Schweiß stand mir auf der Stirne, hastig trank ich mehrere Glas Wein und wandte mich wieder dem Spiele zu, denn ein Anderer hatte eine Bank eröffnet.

Ich setzte 20 Mark auf die Dame – die Dame fiel links! 20 Mark auf die Achte – links! 50 Mark auf die Achte – wieder verloren! Jetzt raffte ich mein ganzes Vermögen zusammen, und da drei Damen verloren hatten, setzte ich alles auf die vierte Dame. Es waren qualvolle Minuten! Endlich kam sie – links! Mit einem tiefen Seufzer ließ ich den Kopf hängen.

»Ist eine launische Dame, das Glück!« meinte Kurt W.

»Ist alles fort?« Ich nickte nur.

»Donnerwetter!« rief der Bankhalter, »für den habe ich Angst, der pointiert ja wie ein Wahnsinniger; hätte er ein paar Mal gewonnen, so wäre die Bank futsch gewesen!«

»Das ist richtig!« antwortete Kurt W., »mit 50 Pfg. oder 1 Mark konnte er sein Geld nicht wiedergewinnen,« und zu mir gewendet: »Bin zwar auch im Verlust, aber 50 Mark kann ich Ihnen geben, wenn Sie wollen!«

[84] Hastig griff ich nach dem Gelde, setzte klein, gewann einige Male, verlor dann wieder und so ging es immer hin und her. Wieder fielen drei Damen links, und wieder setzte ich alles auf die 4. Dame – zwei Züge, – ich hatte wieder verloren!

Nun stellte sich auch wieder die Reue ein! Was hatte ich nur getan? Die gewonnenen 400 Mk. verloren, mein ganzes Taschengeld für den Monat verloren und – und die 20 Mk., die der Mutter gehörten; und außerdem noch 50 Mk. Schulden!

Die Atmosphäre kam mir plötzlich drückend heiß vor, der Wein, der Zigarrendunst, das grelle Licht, mir war, als müsse ich ersticken. Wie elektrisiert sprang ich auf, ergriff Hut und Überrock und stürmte hinaus wie ein Wahnsinniger; die halbe Nacht irrte ich in den Anlagen umher, und erst gegen Morgen suchte ich meine Wohnung auf.

Ich fühlte es, ich war nicht mehr derselbe, ich war ein anderer geworden und schloß mich immer mehr an meine Freunde an, vor allem an Kurt W. und den Holländer, diese waren die beiden Leichtsinnigsten; mit ihnen besuchte ich auch Kneipen, wo leichtfertige Dirnen als Kellnerinnen fungierten, und sonstige verrufene Häuser.

Kaum ein Jahr von Hause fort, und meine Unschuld war schon dahin! Ich war ja auch so ganz allein, hatte keinen ehrlichen Freund, keinen ehrlichen Berater; meine Briefe nach Hause wurden immer seltener, – ich hatte aufgehört, meiner Mutter eine Stütze zu sein.

So war es wieder Hochsommer geworden, als wie ein Blitz aus heiterem Himmel uns die Nachricht traf, daß unser Chef ganz plötzlich am Gehirnschlage gestorben sei. Einige Tage später hatten wir unsere Kündigung in der Tasche; die Firma sollte eingehen.

Es war schwer, wieder eine gute Stellung zu erhalten, doch gelang es mir durch eine besondere Empfehlung unseres alten Prokuristen, als Hotelbuchhalter unterzukommen. Drei Monate arbeitete ich mit allem Fleiß, um meine Schulden los zu werden, da wurde ich durch den Neffen meines Prinzipals, der in einer andern Großstadt Dummheiten gemacht hatte und nun unter der Aufsicht seines Onkels sich bessern sollte, aus meiner Stelle verdrängt. Nun hatte ich zwar meine Schulden getilgt, war aber auch ohne Erwerb, und alle meine Bemühungen, wieder festen Fuß zu fassen, waren vergebens.

Nach drei Wochen waren meine Mittel bis auf 10 Mk. zusammengeschrumpft, und ich hatte immer noch keine Stellung und auch keine Hoffnung, eine solche zu erhalten.

Ich packte meine Sachen und fuhr mit dem letzten Gelde nach [85] Bremerhaven, aber auch hier gelang es mir nicht unterzukommen, und nach einigen Tagen stand ich völlig mittellos da! Zuerst wurde nun Uhr und Kette versetzt, um die Einschreibegebühr auf dem Nachweisbureau zahlen zu können, dann folgte ein Kleidungsstück nach dem andern, bis ich nichts mehr hatte, als was ich auf dem Leibe trug. Der geringe Betrag, den ich für meine Sachen erhalten, konnte mich nur kurze Zeit vor Not schützen, dann brach es unaufhaltsam über mich hinein: ich irrte hungernd und frierend, obdachlos durch die Straßen von Bremerhaven.

In dieser meiner großen Not traf ich einen Kellner, der in B. mit mir in demselben Hotel beschäftigt gewesen war. Ich erzählte ihm meine Not und erfuhr, daß er selber auch stellenlos sei, jedoch sich auf dem in fünf Tagen in See gehenden Dampfer »Saale« als Steward anmustern lassen wolle. Er nahm mich mit in seine Wohnung und gab mir den Rat, mich ebenfalls als Steward anmustern zu lassen. Meine Einwendungen wußte er geschickt zu widerlegen, denn er meinte: »Wenn Sie auch kein Kellner sind, so haben Sie doch in den 3 Monaten im Hotel soviel gesehen, daß Sie das bischen Servieren schon können; im Decken werde ich Ihnen aber einige Stunden Unterricht geben, und ihnen dann einige Zeugnisse als Kellner schreiben, so schön, als wenn sie der Chef selber abgestempelt hätte. Habe das gelernt,« meinte er gutmütig, »war auch auf Wanderschaft und weiß, wie's manchmal in der Fremde geht!«

Am andern Morgen begaben wir uns zum »Heuerbaas«, wo sich viele Matrosen und Stewards versammelt hatten, die alle angemustert sein wollten. Mir klopfte doch mächtig das Herz mit meinen falschen Papieren, aber der Kellner, welcher schon öfter Seereisen gemacht hatte, machte mir guten Mut und meinte, es könne gar nichts passieren.

Zwanzig Minuten später war ich im Besitze eines Seefahrtsbuches, wonach ich für die Reise von Bremerhaven nach New-York und zurück als Steward, mit einem Gehalt von 30 Mk. angemustert war. Nun hatten wir noch zwei Tage Zeit, bis wir an Bord zu gehen brauchten, aber es gab auch noch viel Arbeit.

»Seh'n Sie,« meinte mein nunmehriger Kollege, »jetzt sind wir Stewards und wollen, wenn es Ihnen recht ist, ›Du‹ zu einander sagen.«

Ich hatte nichts dagegen und drückte ihm treuherzig die Hand; war ich ihm doch Dank schuldig, da er mich mit durchfütterte, als sei ich sein Bruder.

»Der Posten ist noch nicht der schlechteste,« erzählte er weiter, [86] »in drei Wochen sind wir wieder zurück, dann haben wir unsere 30 Mk. verdient, außerdem rechne ich für Dich auf 30–40 Mk., und für mich, da ich als Passagier-Steward angemustert bin, auf 80–100 Mk. Trinkgeld. Dann haben wir an Bord eine ausgezeichnete Verpflegung und können während der Fahrt nichts ausgeben. Doch nun komm, wir müssen einkaufen gehen!«

»Einkaufen? ich hab' ja keinen Pfennig Geld!«

»Komm nur! und steck' Dein Seefahrtsbuch ein!«

Nun führte er mich zum Kleiderhändler. Hier wurden zunächst Uniformen verpaßt, denn die Stewards des Norddeutschen Lloyd tragen die kleidsame blaue Uniform mit vergoldeten Anker-Knöpfen, ähnlich wie die Seekadetten.

»Oho! ein Kerl wie ein Hochbootsmann!« meinte der Händler, denn mir waren alle Hosen zu kurz, endlich war alles passend; nun wurden noch Matratzen ausgesucht, – denn jeder muß seine Matraze mit an Bord bringen – und das Kaufgeschäft war abgeschlossen.

Ich hatte 45 Mk. zu bezahlen, leistete eine Anzahlung von 10 Mk., denn ich hatte inzwischen die Hälfte meines Gehalts ausbezahlt erhalten, und blieb 35 Mk. Rest, welche der Händler mir bis zur Rückkehr nach Bremerhaven kreditieren mußte.

»Das kennt der Alte nicht anders!« sagte mein neuer Freund, »wenn die Saale wieder im hiesigen Hafen einläuft, ist er der erste an Bord und holt sein Geld.«

Abends um 9 Uhr begaben wir uns an Bord, und am andern Morgen lichtete die Saale die Anker.

Ich machte 3 Reisen mit der Saale hin und zurück und war dann gezwungen abzumustern, denn ich war gefallen und hatte den Fuß verstaucht, welcher bedenklich angeschwollen war. Einesteils war es mir auch recht, daß es so gekommen war, denn die Stewards führten ein recht ausschweifendes Leben, wie die meisten Seeleute; an Bord wurde heimlich gespielt, und an Land wurde das Geld mit vollen Händen hinausgeworfen. Wer da nicht mitmacht, ist ein Duckmäuser, oder wird, wenn er nicht ein paar kräftige Fäuste hat, als Prügelknabe benutzt. Ich hatte 150 Mk. erspart und hoffte, wieder eine Stellung als Kaufmann zu erhalten. Vierzehn Tage verbrachte ich im Krankenhause und fuhr dann nach Hannover.

Nachdem ich meine Sachen einigermaßen in Stand gesetzt und an verschiedene Bureaux die üblichen 5 Mk. Einschreibegebühr bezahlt hatte, wartete ich von Tag zu Tag auf Beschäftigung. Alle Tage wurden eine Menge Zeitungen studiert und eine Menge Offerten[87] geschrieben, doch alles vergebens! Meine Ausgaben hatte ich auf das geringste beschränkt, denn ich sah in der Ferne schon wieder das drohende Gespenst des Hungers vor mir aufsteigen.

Mit den ewigen Offerten würde ich nicht zum Ziele kommen, das sah' ich ein; also mußte es auf andere Weise versucht werden.

Am andern Morgen las ich: W. & Co. suchen einen jungen Buchhalter. Sofort machte ich mich auf den Weg und stand zehn Minuten später vor Herrn W. Ich stellte mich sehr höflich vor und bat um die vakante Stelle.

»Weiter wollen Sie nichts?!« frag er, indem er sich schnell wieder niedersetzte, »das ist doch keine Art, persönlich zu kommen, sowas macht man doch schriftlich! – Übrigens die Stelle ist schon besetzt.«

An einer anderen Stelle hörte mich der Chef ruhig an, dann schrie er los:

»Bitte mich in Zukunft mit derartigen versteckten Betteleien zu verschonen! – Hier!« dabei hielt er mir ein Zweimarkstück hin.

»Danke!« erwiderte ich eisig, »ich bin gekommen, um Arbeit zu erbitten, nicht um zu betteln!«

»Habe keine Arbeit für Sie – packen Sie sich!«

Gallenbitter drängte sich's mir von der Brust herauf und legte sich's auf meine Zunge. Da stand ich nun mit meinen Kenntnissen und konnte sie nicht verwerten und das in einem geordneten modernen Kulturstaat.

Mit meinem Vermögen ging es rasch zu Ende, ich konnte bereits mit mathematischer Genauigkeit feststellen, wann der Hunger wieder seinen Einzug halten würde.

Und wieder war es ein Kellner, welcher das Gespenst des Hungers verscheuchte. Diesmal war es ein ehemaliger Steward von der Saale, den ich zufällig traf und der keine Ahnung hatte, daß ich eigentlich kein Kellner, sondern Kaufmann sei, deshalb frug er auch verwundert, ob ich denn Sonntags nicht zur Aushilfe arbeite.

»Ich,« berichtete er, »arbeite jeden Sonntag in einem Sommer-Vergnügungsetablissement und verdiene dann soviel, daß man sich in der Woche so leidlich durchschlägt. Aber nächste Woche, da ist in Celle ein großes Fest, nämlich das 500jährige Bestehen der Stadt. Da gibt es bei den achttagelang währenden Festlichkeiten etwas zu verdienen. Wie ist's, fährst Du mit?«

»Ich möchte schon,« antwortete ich, »aber ich habe keinen Frack, und ohne den wird's wohl nicht gehen!«

»O, das macht nichts,« meinte er, »ich habe einen übrigen Frack, [88] der könnte Dir gerade passen! Wenn Du mitkommst in meine Wohnung, kannst Du ihn gleich anprobieren.«

Ich war's zufrieden, und am Samstag fuhren wir nach Celle. Es kam mir vor, als hätten sich hier die Kellner von halb Deutschland ein Rendezvous gegeben: von Hamburg, Bremen und Hannover waren sie herbei geeilt, in der Hoffnung, hier Arbeit zu finden. Natürlich fand nur die Hälfte Beschäftigung.

Ich wohnte in einem kleinen Gasthause, dessen Besitzer für mäßige Bezahlung für unsere Bedürfnisse sorgte. In dem Bruder desselben, einem Ober-Steward des Norddeutschen Lloyd, welcher zum Besuch zu Hause weilte, lernte ich einen lieben Kollegen kennen, welcher mir auch, wenigstens für einen Tag, Arbeit verschaffte; durch ihn lernte ich auch einen jungen Mann kennen, welcher in einem der ersten Hotels der Stadt angestellt war, und mit welchem ich mich bald innigst befreundete.

Nach acht Tagen war das Fest zu Ende, aber mehrere Kellner, die keine Arbeit bekommen hatten, saßen nun da und hatten kein Geld zur Heimfahrt! Unter ihnen war auch ich. Da hörte ich, daß ein Vermittler eine Kellnerstelle im Ratskeller zu vergeben habe, aber eine Gebühr von 12 Mark beanspruche. Spornstreichs eilte ich zu dem Freunde im Hotel und bat, er möge mir 12 Mark leihen, damit ich die Stelle antreten könne. Dieser gab mir ein Zwanzigmarkstück mit dem Bemerken, ihm die übrigen 8 Mark zurückzubringen.

Ich traf den Vermittler nicht zu Hause, eilte ihm jedoch nach und traf ihn im Ratskeller in dem Augenblick, wo einer meiner Kollegen den Vertrag unterschrieb.

Ich war wütend! Mir vor der Nase den Posten wegzunehmen! Aber durfte ich zürnen, daß er, der gelernte Kellner, mir zuvorgekommen war? – Nein! – Aber was nun?

Hier in dieser kleinen Stadt ohne jede Mittel?!

Da gab mir der Teufel den Rat: »Du hast ja 20 Mk., fahre schnell fort! Du kannst ja später das Geld zurückschicken, wenn Du in bessere Verhältnisse kommst.«

Und ohne besonders auf meinen Weg zu achten, war ich am Bahnhof angekommen, löste ein Billet und fuhr nach Hannover. Auch ein paar Manschettenknöpfe im Werte von 1 Mark, welche mir der Ober-Steward geliehen hatte, vergaß ich zurückzugeben.

Während der Fahrt schlug mir aber doch das Gewissen.

»Du bist ein Lump!« rief es mir zu. »Du hast den Freund betrogen, der harmlos Dir vertraute!« Ich suchte zwar meine Notlage [89] als Entschuldigung geltend zu machen, es wollte mir aber nicht recht gelingen; doch fest nahm ich mir vor, jede Arbeit anzunehmen, um das Geld zurückzuzahlen.

Acht Tage später hatte ich eine gut bezahlte kaufmännische Stellung, wieder in B. Aber es gibt eine Vergeltung! Schon hier auf Erden folgt die Strafe der Sünde auf dem Fuße.

Kaum zwei Wochen in B., wurde ich plötzlich in meiner Wohnung verhaftet. Bei der Vernehmung wurde mir eröffnet daß ich wegen Diebstahls, Vorspiegelung falscher Tatsachen und Unterschlagung steckbrieflich verfolgt und verhaftet sei.

Ein Schuhmacher in Celle, der in der Gastwirtschaft, wo ich s. Zt. gewohnt hatte, Stammgast war, hatte mich aus Rache zur Anzeige gebracht, weil er von mir z. Zt. der Festlichkeiten, als er im angetrunkenen Zustande einen Streit zu provozieren suchte, hinausgeworfen worden war. Er hatte nun in der Wirtschaft von der Sache gehört und da die Beteiligten auf Anzeige verzichteten, hatte er das Gehörte dazu benutzt, um seine Rache zu befriedigen.

An dem Diebstahl war ich unschuldig, denn erstens hatte ich die Manschettenknöpfe geliehen erhalten und zweitens dieselben von Hannover aus zurückgeschickt. Auch war es eine Frage, ob die Vorspiegelung falscher Tatsachen aufrecht erhalten werden konnte, da ich doch tatsächlich die Stelle in Aussicht hatte, – aber die Unterschlagung! Die 8 Mark hätte ich zurückbringen sollen; die Unterschlagung lag klar zu Tage.

Nun saß ich in der engen Haftzelle und weinte – weinte bitterlich! Eine Angst hatte mich erfaßt, eine unerklärliche fürchterliche Angst! Die Angst vor dem Gefängnis.

Im Kopfe kreisten tausend Gedanken durcheinander, die Brust war mir wie zusammengeschnürt, ganz ratlos und verzweifelt dachte ich daran, meinem Dasein ein Ende zu machen.

Wohin war es mit mir gekommen! – Wie schön waren meine Knabenjahre! Wie hoffnungsvoll gestaltete sich alles in meiner Lehrzeit! Wohl war ich berechtigt zu den schönsten Hoffnungen. Alles war mir gut, alles ging nach meinen Wünschen. Da – später – da kam eine Zeit, o ich mag nicht an sie denken, und doch der Gedanke an sie will nicht weichen – es ist zum Rasendwerden! Von da an ist Unschuld, Freude, Leben – dahin, alles dahin; es verwandelt sich in Sünde, Qual und Schande! – Rauh wurde ich in meinem Sinnen aufgeschreckt, die Tür flog auf und ein Gerichtsdiener forderte mich auf, ihm zu folgen. Es ging durch einige Straßen bis zu einem düsteren Gebäude, dem Untersuchungsgefängnis. [90] Hier wurde ich mit einem Bankerotteur und einem Hochstabler in einer kleinen Zelle untergebracht; in einer großen irdenen Schüssel brachte man eine Suppe und drei hölzerne Löffel; doch ich hatte keinen Hunger, auch graute es mir, mit diesen Menschen aus einer Schüssel zu essen.

Nach 14 Tagen wurde ich nach Celle überführt und wieder 14 Tage später vom Schöffengerichte zu 13 Wochen Gefängnis verurteilt. Und zwar wurde ich nicht nur wegen Unterschlagung, sondern auch wegen Diebstahls der Manschettenknöpfe bestraft. Der Amtsrichter, ein düsterblickender, strenger Mann, glaubte mir gar nichts, nicht einmal, daß ich Kaufmann sei – in der Anzeige stand »der Kellner«, und so war ich eben Kellner.

In Betreff des Diebstahls hätte nun der Ober-Steward meine Unschuld bezeugen können, doch dieser befand sich auf einer Reise nach Australien; ich hätte nun zwar, in Anbetracht der hohen Strafe, Berufung einlegen können, aber hatte durchaus keine Lust, eventuell 2–3 Monate in Untersuchungshaft zuzubringen, denn solange hätte es mindestens gedauert, bis der Zeuge zur Stelle gewesen, oder Zeugschaft abgelegt hätte.

Ich verbüßte also meine Strafe, nachdem ich zuerst 6 Wochen lang mit Betrügern, Sittlichkeitsverbrechern und Einbrechern in Gemeinschaftshaft verbracht hatte, in der Strafanstalt Hameln in Einzelhaft.

Die Einsamkeit tat mir wohl, denn war ich auch selbst ein Entgleister, so hatte mich doch der moralische Schmutz, den ich in der Untersuchungshaft vorgefunden hatte, angeekelt. Hier in der Einsamkeit, hier söhnte ich mich aus mit meinem Gott, hier lernte ich wieder beten und froh in die Zukunft schauen.

Oft dachte ich an meinen Lehrherrn, der mir vor Jahren beim Abschied die Hand gereicht und gesagt: »Bete und arbeite! laß Deine Devise sein, und es wird Dir immer gut gehen.« Aber erst in der Einsamkeit der Gefängniszelle lernte ich den inneren Zusammenhang kennen zwischen Arbeit und Gebet; hier erst lernte ich begreifen, daß ohne Arbeit kein richtiges Gebet und ohne Gebet keine richtige Arbeit möglich ist. Luther sagte einmal: Fleißig gebetet, ist halb studiert. Aber auch das Umgekehrte ist richtig; denn der Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl sein, dann bringt Arbeit Segen, dann ist Arbeit Gebet, sagte einst Alfred Krupp. Wenn aber ein Sträfling die Scharte auswetzen, wieder ein anständiger Mensch werden will, so muß sein Wahlspruch heißen: Fleißig gebetet und fleißig gearbeitet! – Ora et labora! –

Alles in dieser Welt ist vergänglich, und so vergingen auch diese [91] drei traurigen Monate; vom Pfarrer, Direktor und noch einigen Beamten ernstlich ermahnt, stand ich eines Tages im Januar wieder außerhalb der düstern Kerkermauern. Es war bitter kalt, um ich fror entsetzlich, trug ich doch nur einen leichten Anzug, ohne Überzieher, ohne die warme Unterwäsche. Ich wurde an die Bahn begleitet, erhielt hier ungefähr 2,50 Mk. Arbeitsbelohnung und fuhr nach B. Hier angekommen, begab ich mich zu der Zimmervermieterin, bei der ich meine Effekten zurückgelassen hatte, und erfuhr hier zu meinem größten Schrecken, daß meine Sachen schon vor 2 Monaten durch einen Dienstmann, der einen Brief von mir vorgezeigt hatte, abgeholt worden seien. In dem Brief hatte gestanden, man möge Überbringer die Sachen übergeben, da ich mich schäme, persönlich zu kommen.

Ich war starr! Nun stand ich da mit einem Anzug, den ich während der fünf Wochen Untersuchungshaft getragen und sehr beschmutzt hatte – und keine Wäsche, rein nichts! Ärmer wie ein Handwerksbursche. Wer hatte mir das getan?

Ratlos, in der niedergedrücktesten Stimmung, irrte ich planlos durch die Straßen; auf einmal, ich weiß nicht wie, stand ich vor der Weinstube, wo ich so oft halbe Nächte mit meinen Freunden durchgezecht hatte. Ich beschloß, da es schon dunkel geworden war, zu warten, mich Kurt W., von dem ich bestimmt wußte, daß er noch in B. konditionierte, anzuvertrauen und ihn um Hülfe zu bitten.

Es dauerte lange, – endlich schlug es sieben, und mehrere bekannte Herren kamen die Straße herunter, um ihr Abendbrot in der mehrfach erwähnten Weinstube einzunehmen. Ich bat Kurt W., mir einen Augenblick Gehör zu schenken, und erzählte kurz meine Leidensgeschichte. Hochmütig zog er die Brauen in die Höhe und erwiederte: »Tut mir leid! Habe gestern Abend viel Geld verloren und muß mich diesen Monat selbst einschränken. Übrigens, warum kommen Sie denn gerade zu mir? und – wenn man soweit sinkt, verdient man kein Mitleid.«

»Ich würde mich lieber aufhängen, als mit diesem Makel auf der Stirn ehemaligen Kollegen unter die Augen zu treten,« meinte ein junger Mann, den ich nicht kannte. »Kommen Sie, meine Herren!«

Ich stand allein! Unsagbares Weh' erfüllte mein Herz. Am Himmelszelt funkelten der Sterne ungezählte Legionen. Konnte denn der Allmächtige, der all' diese Himmelskörper mit wunderbarer Ordnung regiert, konnte er nicht auch mir schwachen Menschen Beistand und Hülfe gewähren? »Rufe mich an in der Not, ich will Dich erretten,« [92] ertönte es wie ein leiser Weckruf in meiner Brust, und ich folgte der Stimme. –

Tief in Gedanken versunken und Pläne brütend, war ich bis zum Stadttheater gekommen, wo ich mich für einige Augenblicke auf eine Bank setzte, um auszuruhen. Ein anständig gekleideter Herr in mittleren Jahren ging einige Male an mir vorüber, mich jedesmal scharf fixierend und setzte sich schließlich neben mich, bot mir eine Zigarre an und erkundigte sich, ob ich denn die Kälte nicht spüre, ohne Überzieher. Ich erklärte ihm meine Lage, verschwieg jedoch, daß ich aus dem Gefängnis komme.

»So was ist bedauerlich,« sagte er teilnehmend, »im Winter ohne Stellung und mittellos! aber vielleicht kann Ihnen geholfen werden; einen noch gut erhaltenen Überzieher können Sie von mir haben, und eine Schreiberstelle oder dergleichen wird ja auch wohl zu finden sein.«

»O, lieber Herr, ich würde Ihnen unendlich dankbar sein, wenn Sie mir in irgend einer Weise zu meinem Fortkommen behilflich sein könnten,« erwiderte ich.

»Na ja! ich sehe schon, Sie sind ein Mann, mit dem man etwas machen kann! Haben Sie sich denn schon nach einem Nachtquartier umgesehen? – Und zu Abend haben Sie jedenfalls auch noch nicht gegessen! Kommen Sie!«

An ein Unterkommen für die Nacht hatte ich freilich nicht gedacht, aber der Hunger machte sich schon wieder bemerkbar und so dankte ich Gott, daß ich einen Menschen gefunden hatte, der sich uneigennützig, aus Nächstenliebe meiner annehmen wollte.

Er führte mich in ein kleines Hotel zweiten Ranges, wo wir im Restaurant uns niederließen und Abendbrot bestellten, auch eine Flasche Wein ließ er kommen. Es fiel weiter nicht auf, daß ich keinen Überzieher hatte, denn Hemd, Kragen und Krawatte waren sauber, ebenso Stiefel und Kopfbedeckung so gut wie neu; auch hatte ich mir am Mittag die Haare schneiden und mich rasieren lassen; man sah mir also den entlassenen Sträfling weiter nicht an.

Der Wein brachte mein Blut in Wallung, und ein wohltuendes Gefühl durchrieselte meinen Körper. Mein Wohltäter war ein sehr angenehmer Gesellschafter, nur wollte es mir nicht gefallen, daß er sich sehr eingehend erkundigte, ob ich viel mit jungen Mädchen zu tun hätte, und dabei sah er mich zuweilen so komisch, mit großen Augen an.

Doch ich hatte keine Zeit, darüber weiter nachzudenken, denn [93] er frug den Wirt, ob wir ein Zimmer mit zwei Betten haben könnten, und als der Wirt dies bejahte, wendete er sich zu mir:

»Ich muß nun heute mit Ihnen zusammen im Hotel schlafen, denn ich habe mich sehr verspätet, habe einen langen Weg und das ist bei der Kälte kein Vergnügen; dabei klopfte er mir vertraulich auf die Schenkel.«

Kurz darauf ließen wir uns ein Zimmer anweisen, um zur Ruhe zu gehen. Doch kaum hatte ich mich des Rockes entledigt, als mir der Fremde um den Hals fiel und mich stürmisch küßte; dabei hatten seine Augen einen Glanz angenommen, der mich erschreckte, sie funkelten wie die eines sich auf seine Beute stürzenden Raubtieres. Ich gab ihm einen Stoß, daß er taumelte! War dieser Mann betrunken? oder war er einer jener Verbrecher, die –

Mir blieb keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu spinnen, denn der Fremde entnahm seiner Börse 50 Mk. in Gold, hielt sie mir hin und verlangte von mir solche scheußliche Gemeinheiten, daß ich entsetzt zurückfuhr! Abermals trat er näher an mich heran und machte mich in den freundlichsten Worten mit den Vorteilen bekannt, die ich hätte, falls ich mich seinen Wünschen fügen wolle.

Ich hätte diesen Hallunken am liebsten weidlich durchgeprügelt, aber ich war so entsetzt, so empört, daß mir zugemutet wurde mich zu erniedrigen, tiefer wie das niedrigste Tier, daß ich dem Elenden voll Abscheu ins Gesicht spie und drohte, den Wirt herbeizurufen, wenn er sich auch nur erlaube, mich anzurühren.

»Sie sind ein dummer Mensch, dem nicht zu helfen ist!« sagte er, reinigte sein Gesicht und verließ das Zimmer.

Ich schlief bis tief in den Tag hinein, suchte dann vergebens nach einer Arbeit und mußte mir dann sagen, daß es wohl schwer halten dürfe, in B. wieder eine Stellung zu erhalten.

»Aber was anfangen? Nichts sein Eigen nennen, als was man auf dem Leibe trägt! Wo gibt es einen Rettungshafen? Wo liebende Menschen, die mir die Hand zur Rettung reichen!«

Solchen Gedanken nachhängend, stand ich plötzlich vor einem großen Hause, aus dem Menschen herauskamen, welchen auch die Not aus den Augen schaute; ich blickte empor und las: »Herberge zur Heimat!«

Schüchtern trat ich ein. Ein großer düsterer Raum mit nackten Wänden; an vier langen Tischen hockten in den verschiedensten Stellungen ungefähr 30 blasse, teils in Fetzen gehüllte Gestalten, welche schliefen, sangen, schimpften und Karten spielten.

Links am Fenster saßen drei junge Leute, von denen zwei anständiger [94] gekleidet waren wie die anderen; ich setzte mich zu ihnen und holte mir für 20 Pf. einen Napf Essen. – Erbsen mit Kartoffeln. –

Doch kaum hatte ich mich wieder niedergelassen, als einer der mit mir am Tische Sitzenden seinem Nachbar einen Stoß gab und rief, indem er auf die Straße zeigte: »Sieh', da geht der Scharf vorbei, dem scheint's wieder gut zu gehen!«

»Scharf« hatte auch der Hochstabler geheißen, der s. Zt. mit mir in Untersuchungshaft gesessen und sich sehr eingehend nach meinen Verhältnissen erkundigt hatte.

Ich blicke auf! Ja, da ging er vorüber und – wahrhaftig, meinen Überzieher hatte er an.

Wie von der Sehne geschnellt sprang ich auf und stand im nächsten Augenblick auf der Straße; aber merkwürdig, als hätte die Erde ihn verschlungen! Es war nichts mehr von ihm zu sehen. Ich wartete noch einige Minuten und kehrte dann mißmutig zurück.

»Na Kunde!« wurde ich am Tische empfangen, »Du hast woll 'ne Knarre, rennst los, als wär' 'n Fauler2 hinter Dir, und läßt die Klappe sperrweit uff, denkst de denn, det wir hier Mangel an frische Luft haben?«

Ich entschuldigte mich und erzählte von dem Betrüger, der mich um meine Effekten gebracht.

»Ja siehst de, Kunde,« hörte ich den Vorigen, »die Welt is schlecht, und die jrösten Spitzbuben haben det merschte Jlück; ick könnte och mit'n Übermann3 rumlofen, wenn ick beim dalfen4 'nen Zottelberger5 machen mechte! Du scheinst mir übrigens noch neu uff de Fahrt zu sind, aber det sag' ick Dir, kriegst de keene Arbeet, solange Du in Kluft6 bist und willst sonst ehrlich bleiben, so wirst de noch traurige Erfahrungen machen. Übrigens, nichts für ungut: ick hatte mächtigen Kohlendampf,7 und habe Deinen Piktus verdrückt, – wäre doch kalt jeworden,« fügte er treuherzig hinzu.

Erst jetzt bemerkte ich, daß mein Essen fort war. Die anderen zwei erzählten, sie seien auch Kaufleute, während der Berliner Schriftsetzer war, und hätten die Absicht, in einigen Tagen weiter zu wandern und zwar nach Hannover, da hier an ein Unterkommen nicht zu denken sei.

Ich beschloß, dasselbe zu tun, denn was sollte ich in B.? Vielleicht waren die Aussichten in Hannover besser. Die neuen Bekannten ließen sich meine Begleitung gefallen, und so wanderten wir zwei Tage später zum Stadttore hinaus.

[95] Nach Verlauf einer Woche trafen wir – ich mit wunden Füßen und an Leib und Seele gebrochen – in Hannover ein. In diesen acht Tagen habe ich unsäglich gelitten. Hände und Füße waren voller Frostbeulen, und die einst eleganten Stiefel hingen mir in Fetzen an den Beinen. Hemd und Kragen starrten von Dreck. Was aber das Schlimmste war: der Hunger wühlte in meinen Eingeweiden, daß mir die Sinne zu schwinden drohten, denn es war mir unmöglich, zu betteln; so oft ich auch den Versuch machte, an der Haustür kehrte ich wieder um, und dann die Gesellschaft in den Pennen und Verpflegungsstationen, welche wir unterwegs berührten, und wo wir übernachteten: immer zwei zusammen in einem Bette, vollständig nackt!

Bewunderung flößte mir die Opferfreudigkeit meiner, mir doch so fremden Begleiter ein, mit der sie ihr erbetteltes Brot mit mir teilten; sogar das Schlafgeld in einer Penne, in der wir übernachteten, weil wir die vorgeschriebene Richtung der Verpflegungsstationen nicht eingehalten hatten, wurde von dem Berliner bezahlt.

In Hannover lief ich mir die Füße wund nach Arbeit, ich bewarb mich um Stellen als Auslaufer, Hausknecht etc. aber alles vergebens! Ein Kaufmann schenkte mir 3 Mk., die ich mit heißem Dank annahm; nun konnte ich mich wenigstens einmal satt essen und für einige Nächte ein Unterkommen schaffen.

Einer meiner Reisegefährten war verhaftet worden, weil er gebettelt, und da er schon zwei Mal mit je einem Tag Haft wegen »Arbeitsscheu« bestraft war, erhielt er jetzt 3 Wochen Haft und Arbeitshaus.

»Siehst de, Jungeken,« sagte am Abend der Berliner, »so jehts, wenn man ehrlich ist; der Aujust looft sich seit sechs Wochen die Beene ab nach Arbeet, und weil er keene jefunden und vor lauter Kohlendampf jebettelt hat, dafür haben se ihm 3 Wochen Kittchen8 und 6 Monate Zwangswinde9 uffjebrummt. Wäre er weniger ehrlich jewesen und hätte 'nen gediegenen Zottelberger jemacht, hätte er, im Fall die Faulen ihm geklappt10 hätten, höchstens 4–6 Wochen Gefängnis jekriegt. – Und dann, wenn ick wejen 'nen Zottelberger in's Kittchen komme, habe ick wenigstens die Strafe verdient, aber wejen Arbeitsscheu! det is 'ne Jemeinheit. Siehst de, ick tät Steene kloppen, wenn ick nur welche hätte und dafür bezahlt würde; bin jetzt 7 Monat ohne Stelle und wenn ick Kopp steh' – ick finde keene Arbeet nich! [96] In Berlin habe ick 5 Nächte in de Palme11 jeschlummert und bin beim ersten Mal verwarnt worden, als ick aber zum 6. Mal kam, weil ick in den 5 Tagen keene Arbeet und keen Unterkommen jefunden, aber ooch keen Schlummerkies12 hatte, um anderswo pennen zu können, da wurde ick einfach injespunt und wegen ›Arbeitsscheu‹ zu 3 Tage Haft verknaxt. Nu sage Du mir, wo bleibt da die Jerechtigkeit! Ick habe det ewige Tippeln13 und Dalfen satt, uff ehrliche Art kann ick zu nischt kommen – helf er sich, nu versuche ick et uff andere Weise.«

»Ja,« erwiderte ich, »Du hast Recht. Mir wäre auch jede Arbeit willkommen, wenn ich nur welche hätte.«

»Ich bin ganz verzweifelt und weiß nicht, was werden soll. Das Leben ist doch grausam, fürchterlich grausam.«

»Das Leben ist immer grausam,« antwortete er nachdenkend; »sieh' hin, wohin Du willst! Unerbittlich, Zoll für Zoll treiben die Ereignisse den Menschen dahin, wo sie ihn haben wollen. Und wenn er widerstandslos und gebrochen daliegt am Boden, dann kommen die Menschen und sagen achselzuckend: ›Er verschulde es selbst!‹ von wo ihm aber die Eigenschaften gekommen, denen folgend oder widerstrebend er seinem Schicksal anheimfiel – danach fragt niemand – es ist ganz gleich, der Arme unterlag.« –

Hungernd und frierend habe ich die Straßen der Stadt durchquert, in der Hoffnung: Arbeit zu finden; oder auch bei schlechter Witterung in zweifelhaften Kneipen die Zeit totgeschlagen, die Nächte aber in noch zweifelhafteren Cafés zugebracht, wo alle die Unglücklichen, die Verlorenen die Nacht durchjubelten und dem Morgen entgegen lachten, weinten oder schliefen. Eine Wohnung hatte ich nicht, darum schlug ich auch hier, meistens um Mitternacht, in einer verschwiegenen Ecke mein Nachtlager auf; ein Bekannter aus der Strafanstalt, welcher hier die Nächte durchspielte, hatte mich eingeführt, und es waren immer »Damen« und »Herren« genug da, die mit Freuden eine kleine Zeche bezahlten.

Hier lernte ich eines Tages, oder vielmehr eines Nachts einen jungen Kaufmann kennen; er war der Sohn wohlhabender Eltern, stand aber moralisch auf derselben Stufe, wie der Cafetier nebst seinen Gästen, welche sämtlich die Nacht liebten und den Tag und die Polizei haßten.

Mein Bekannter gab mir 50 Pf. mit der Weisung, in einem mir bezeichneten Gasthof schlafen zu gehen, da ich das Aussehen einer [97] wandelnden Leiche hätte und einmal ordentlich ausschlafen müsse. Nun schloß sich der Kaufmann mir an und meinte, ich solle ihn mitnehmen, denn er wäre doch fremd in der Stadt und wolle morgen weiterfahren, nach Leipzig; er hoffe auch ein Unterkommen in dem Gasthof zu finden.

Wir erhielten ein Zimmer mit 2 Betten und gingen zur Ruhe. Aber ich konnte nicht einschlafen. Erstens wurde ich vom Ungeziefer furchtbar gequält, und zweitens hielt mich der Versucher wach. Nämlich ich hatte gesehen, daß der Fremde viel Gold in seiner Börse, und wohl nur aus Geiz in einer solchen Penne logierte, wo er nur 50 Pf. zu bezahlen hatte.

Stundenlang wälzte ich mich auf meinem Lager, während der Andere schnarchte, und dachte an das Traurige, Deprimierende der letzten Monate, dachte an den Sumpf vor mir, aus dem ich nicht heraus konnte, dachte an das Geld des Fremden, durch welches ich gerettet werden könnte. Aber mit keinem Gedanken dachte ich an die etwaigen Folgen eines Diebstahls, oder an das siebente Gebot. Das Gewissen, das sich sonst immer gleich regte, schwieg; wohl hatte ich mit aller Inbrunst gebetet, d.h. bis zum Augenblick der Affaire im Hotel mit dem Päderasten, dann aber des Beten verlernt, und nun in der Stunde der Versuchung fehlte mir die Kraft, die Energie, der Versuchung standhaft entgegen zu treten. Der Morgen dämmerte, es war 5 Uhr und ich hatte noch kein Auge geschlossen, jetzt stand ich auf, nahm dem Schlafenden sein Geld, 280 Mk. in Gold, und verließ den Gasthof. Seine Wertsachen, Uhr und Ringe, sowie ungefähr 20 Mk. in Silber ließ ich ihm zurück.

Mit dem Frühzuge fuhr ich nach Berlin, kaufte sofort Wäsche, Anzug, Stiefel etc. und ging baden; und erst jetzt, wo ich gesättigt in einem anständigen Restaurant saß und die Ereignisse der letzten Monate und vor allem der letzten Woche an mir vorüberziehen ließ, da – da regte sich auch wieder das Gewissen.

»Was hast Du getan!« schrie es mir zu, »Du hast gestohlen!« »Du bist ein verlorner Mensch!«

Ruhelos durchschlenderte ich die Straßen, ich glaubte, jeder Schutzmann müsse es mir ansehen, daß ich ein Dieb sei; nur eine Nacht brachte ich schlaflos in einem Hotel zu, dann trieb es mich weiter. Ich fuhr nach Frankfurt a.M. Mir Stellung zu suchen, daran dachte ich nicht, denn ich war fest überzeugt, man würde mich sofort verhaften, wenn ich meinen Namen nennen würde.

Durch Zufall lernte ich in einem Café einen Glücksritter kennen und zwar einen Freund des vom »Klub der Harmlosen« bekannten [98] Spielers Wolf. Dieser lernte mir nicht nur sämtliche Kartenspiele, sondern auch sämtliche Vorteile, Finessen und Kunstgriffe, die man anwenden kann, ohne direkt Falschspieler zu sein. Sein Haupttrik bestand darin, daß er, als ehemaliger Lithograph, nur einen Blick auf die Rückseite jeder Karte zu werfen brauchte, um diese zu erkennen. Nämlich die meisten Kartenspiele sind auf der Rückseite karriert und nach Farben geschnitten, d.h. die Eckstriche laufen verschieden aus; also die 4 Damen laufen in den Ecken anders aus, als die 4 Achter oder Buben etc. Um dies jedoch erkennen zu können, muß man die Sache lange sehr sorgfältig studiert haben und einen scharfen Blick besitzen.

Also mit diesem »Künstler« fuhr ich von einer Stadt zur andern, durch ganz Rheinland und Süddeutschland, bis wir schließlich nach 3/4 Jahren in München uns niederließen.

An Geld war kein Mangel; ich hatte nun alles, wonach ich mich früher so oft gesehnt hatte: schöne Kleider, goldene Uhr und Kette, wertvolle Ringe etc., ein freies, fröhliches Leben, bis tief in die Nacht hinein, aber – mir fehlte doch etwas, und die ewige Unruhe, die sich nicht abschütteln ließ, sagte mir zu deutlich, was mir fehlte: der Friede! der echte, rechte Gottes- und Seelenfrieden, die richtige Herzensruhe, ohne die kein Glück möglich ist. Wie gerne hätte ich jetzt das gestohlene Geld zurückgegeben, hätte ich die Tat damit ungeschehen machen können.

In München, wo wir uns bereits 8 Wochen aufhielten, hatte ich einen jungen, sehr bescheidenen Menschen kennen gelernt, der aber ein sehr enragierter Hazardspieler und als Pechvogel immer in Geldverlegenheit war. Er stammte aus guter Familie und hatte mich derselben auch gelegentlich vorgestellt. Dieser Mensch sollte für mich der Stein werden, worüber ich abermals stolperte.

Im Hause seiner Eltern hatte er mir ein Fahrrad gezeigt mit dem Bemerken, wenn ich 'mal eine Radtour machen wollte, stände mir die Karre zur Verfügung. Ungefähr 8 Tage später bat ich ihn, er möge mir auf einige Stunden sein Rad leihen, da ich mit einigen Bekannten eine Tour verabredet habe; sofort dazu bereit, gab er mir die Weisung, ihm das Fahrrad am Nachmittag im Café, wo er verkehrte, wieder abzuliefern. Hier stellte er mir den Antrag, ihm das Rad abzukaufen. Ich lehnte ab, da ich auf der Reise kein Rad gebrauchen könne; nun bat er mich, da er seinen hellen Anzug schonen wolle, ihm die Karre nach der X-straße zu fahren, er wolle sie dort verkaufen, denn er brauche unbedingt Geld.

Ich fuhr nun langsam, da er nebenher lief, nach der mir angegebenen [99] Straße, wo sich ein Privatpfandhaus nebst Tandlerei befand; nun bat er mich weiter, da er leider nicht seine Legitimation bei sich führe, doch für ihn das Rad zu versetzen, falls ich 50 Mark erhalten würde, andernfalls zu verkaufen, jedoch nicht unter 90 Mark.

Nun war mir zwar dieser heikle Auftrag nicht sehr angenehm, aber ich war ihm zu Dank verpflichtet und dann – ich bin trotz allem eben ein gutmütiger Kerl, der im Schauspielhaus weint, mit jedem Menschen Mitleid hat und in manchen Fällen statt zu mißtrauen, impulsiv handelt! Kurz und gut, ich verkaufte das Rad für 90 Mk. und händigte meinem Auftraggeber das Geld ein, welcher es noch am selben Abend verspielte. –

Zwei Wochen später wurde ich in Frankfurt verhaftet! Ein Weltuntergang hätte mich nicht so erschüttern können, wie meine Festnahme. Zwei lange Monate saß ich in Untersuchung, dann erst fand die mündliche Verhandlung statt. Es wurde festgestellt, daß das Rad Eigentum des Bruders meines Bekannten war; ich hatte selbst das Fahrrad aus dem Zimmer geholt und die Stiege hinabgetragen, während mein Bekannter, nachdem er mir das Zimmer geöffnet, in die Küche gegangen war, angeblich um schnell eine Flasche Bier zu trinken, in Wirklichkeit aber, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter von der Flurtür abzulenken und so mir einen Diebstahl zu erleichtern, den ich gar nicht im Sinn hatte. Von seinen Eltern hart zugesetzt, wälzte er alle Schuld auf mich und log, er hätte mir einen Teil der Verkaufssumme abgegeben; er glaubte jedoch, ich sei in der Schweiz, und vor Unannehmlichkeiten sicher, wie er mir später schrieb. Sein Bruder hatte nun Strafantrag gestellt, nicht gegen ihn sondern nur gegen mich. Der Präsident hob hervor: daß nicht ich, sondern der treulose Bruder des Bestohlenen, ins Gefängnis gehöre, welcher, obwohl nicht vereidigt, fest dabei blieb: er habe mir 30 Mk. abgegeben. Und da ich wegen Diebstahls vorbestraft und mir hätte auch wohl sagen müssen, daß es zum mindesten auffällig sei, so ohne weiteres sein Rad zu verkaufen für einen verhältnismäßig geringen Preis, so wurde ich, obwohl dem schurkischen Zeugen nichts geglaubt wurde, zu 4 Monaten Gefängnis, bei Abrechnung von 2 Monaten Untersuchungshaft, verurteilt.

Nach Verbüßung dieser Strafe wurde ich von Hannover reklamiert und dort wegen des Diebstahls der 280 Mk ebenfalls zu 4 Monaten Gefängnis verurteilt und zur Verbüßung nach Verden in ein kleines Landgerichtsgefängnis geschickt.

Hier lernte ich so recht den demoralisierenden Einfluß der Gemeinschaftshaft kennen; in München sowohl wie hier in Verden war [100] es mir, als seien die Schlechtesten unter den Schlechten zusammengekommen, um sich gegenseitig Konkurrenz zu machen.

Hier tritt die Gemeinheit, der moralische Schmutz noch auffälliger zu Tage, als in den wilden Pennen, die ich kennen gelernt; und was das Schlimmste ist: man wird mit hineingerissen, ob man will oder nicht. Zuerst sträubt man sich mit aller Macht dagegen, sofern man noch ein Atom von moralischer Scham im Leibe hat, aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran, dann lacht man über die schmutzigen Anekdoten und schließlich fühlt man ein wirkliches Interesse für die gemeinen Streiche der physisch und moralisch Verkommenen.

Und niemand hielt es der Mühe wert, wenigstens den Versuch zu machen, diesem verderbenden Einfluß zu steuern; hatte ich in München wenigstens einige Male einen jungen Vikar gesehen, welcher eine Bibelstunde hielt, so sah ich hier in den ganzen 4 Monaten keinen Geistlichen, keinen Gefängnisvorstand, keinen höheren Beamten, sondern nur das Aufsichtspersonal, das sich um das sittliche Wohl der Büßenden nicht bekümmerte.

So ist es in den kleinen Anstalten überall, wo nur 60–100 Gefangene untergebracht sind. Gebessert wird in diesen Häusern keiner, erbittert und den Haß im Herzen verlassen sie die Anstalt, um über kurz oder lang zurückzukehren.

Auch ich stand eines Tages wieder diesseits der Gefängnismauer! Ach hätte ich doch einen einzigen Menschen, einen Freund gehabt, der mir die Hand gereicht hätte zur Rettung; aber ich stand allein – allein in einem Lande von über 50 Millionen Einwohnern, von denen nicht Einer es der Mühe wert hielt, ein Menschenleben zu retten, das nach Hülfe schrie!

Aber solche Gedanken darf ein entlassener Sträfling nicht haben, denn seine eigenen Blutsverwandten, die Ehrlichen, die Makellosen, haben längst jede Beziehung mit ihm abgebrochen und wollen ihn nicht mehr kennen.

Ich fuhr nach Hannover zurück, wo ich einen Mann traf, den ich in Baden-Baden zur Zeit der Rennwoche kennen gelernt hatte und der im Begriff stand, nach Genf zu fahren, um den Winter dort zuzubringen. Er erkundigte sich sehr eingehend nach dem Woher und Wohin, und da ich keine Veranlassung hatte, ihm die Unwahrheit zu sagen, erzählte ich ihm, woher ich komme und daß ich mir in Hannover eine Stelle suchen wolle.

Lächelnd sah er mich an, klopfte mir auf die Schulter und sagte! »Lieber Freund! ich bin 15 Jahre älter wie Du und auch um [101] 15 Jahre erfahrener; auch ich habe zweimal Bekanntschaft mit der Strafanstalt gemacht, und habe dieselbe jedesmal mit der ehrlichen Absicht verlassen, ein arbeitsamer, anständiger Mensch zu werden; ich wollte mit aller Gewalt meinen Namen wieder zu Ehren bringen. Glaubst Du, die Menge, welche sich die Gesellschaft nennt, hätte mich herausgelassen aus dem Schlamm? Nein! immer wieder haben sie mich hineingestoßen, wenn ich den Kopf erhob! Sie sahen nicht die Sühne, nicht meine Qualen, meine Verzweiflung, für sie war ich der Strolch, der Schuft, der im Gefängnis gesessen, und der mit kalter Verachtung, mit allen Mitteln beseitigt werden müsse. Christen nennen sie sich und lehren die Liebe – aber fühlen sie nicht. Liebe im Munde, aber nicht in der Tat!

Oder glaubst Du noch an eine alles versöhnende Liebe in der christlichen Gesellschaft? Ich nicht! denn der, welcher langsam und sicher zu Tode gedrückt wird, kann nicht glauben, daß die Religion dessen, der ihn tötet, eine Religion der Liebe ist.«

Er hielt einen Augenblick inne, denn er hatte sich warm geredet ich hatte ihn mit keiner Silbe unterbrochen, denn was er sagte, das hatte ich alles – alles selbst empfunden.

Nun strich er sich die Haare aus der Stirn und fuhr fort: »Niemals kann derjenige, den die Gesellschaft einmal ausgestoßen und gebrandmarkt hat, sich wieder einen Weg zur Rückkehr öffnen, er wird immer wieder zur Hölle, die ihn einmal erfaßt, hinabgestoßen, und – so wird es auch Dir ergehen.

Für uns gibt es nur ein ›Vorwärts!‹ ein Rückwärts ist für uns gleichbedeutend mit Untergang und Tod! Ich bin der Sohn eines reichen Fuhrherrn, der mich verstoßen; weißt Du, wer mich vom Verhungern auf offener Straße gerettet hat? eines jener Mädchen, auf welche man mit so großer Verachtung herabblickt, reichte mir Nahrung, als ich in einer Ecke zusammenbrach, – sie teilte ihre Barschaft mit mir und entfloh meinem Dank!

Meine Reue, mein fester Wille der Besserung war verworfen, die Lehre der Liebe und Verzeihung, die ich in den Kirchen so oft predigen hörte, waren eine Lüge, – also blieb mir nur der Krieg gegen die Gesellschaft, die kein Erbarmen kennt.«

Er hielt erschöpft inne, und ich schwieg auch.

Wo waren meine Hoffnungen, wo mein Glaube an die Liebe, an die allgewaltige?! Hatte der Mann nicht Recht? Hatte ich mir dasselbe nicht schon tausendmal selbst gesagt? Aber ein gewisses Etwas in mir sträubte sich, trotz meiner Erfahrungen, immer wieder gegen diesen Glauben!

[102] »Und wie bist Du das geworden, was Du heute bist?« fragte ich, nur um etwas zu sagen.

»Das ist kurz gesagt,« erwiderte er, »einige Monate lernte ich das ganze Elend des Verbrecherdaseins in seinen untersten Schichten kennen, dann gewann ich eines Nachts im Spiel 500 Mk. – 100 Mk. verwendete ich auf anständige Garderobe und mit dem Rest besuchte ich die Rennbahnen Deutschlands als Buchmacher. Anfänglich auf den untersten Plätzen jede, auch die kleinste Wette annehmend arbeitete ich mich bald empor und fuhr einige Jahre später auch auf ausländische Rennplätze.

Das sind nun 8 Jahe her; ich hatte Glück auf der Bahn und im Spiel und habe heute ein Vermögen von 35000 Mk.

Zwar ist in Deutschland das gewerbsmäßige Buchmachen verboten, doch man läßt die Leute an den meisten Plätzen gewähren; liegt doch der Wettmarkt in den Händen der Buchmacher.

Und dann – mag man mich schließlich einen Abenteurer, einen Glücksritter nennen, ein Verbrecher bin ich doch nicht. In Frankreich und England sind die Buchmacher sehr angesehene Leute und arbeiten so frank und frei, wie bei uns der Totalisator. – Und was ich jetzt bin – bin ich durch mich selbst, und habe niemand zu danken!«

Er zahlte die Zeche und wir verließen das Kaffeehaus. Unterwegs erzählte er mir noch, daß sein Kompagnon verheiratet und sich etabliert habe und er nun allein stehe, da ich ihm aber äußerst sympathisch sei und aus verschiedenen Gründen die Buchmacher immer zu zweit arbeiten, wolle er, falls ich Lust habe, mich mitnehmen.

»Die Rennsaison ist zwar in Deutschland zu Ende,« sagte er, »aber die paar Wintermonate werden schnell vorübergehen und da Du ja, wie ich weiß, im Spiel über verschiedene sehr schätzenswerte Vorteile verfügst, so wirst Du mehr verdienen, wie Du brauchst. Werde Dich schon einführen, wo Du Deine Vorteile verwenden kannst.«

Was sollte ich sagen? Sollte ich die Hand von mir weisen, um wieder dem unbekannten Nichts gegenüber zu stehen? Nein! Ich glaubte selbst, mir sei der Weg zur Rückkehr in die Gesellschaft verschlossen.

Zwei Tage später reisten wir ab, nach Straßburg. Mein neuer Freund war überall bekannt, hatte überall Eintritt in den Spielerkreisen. War ich früher der geborene Pechvogel, wenn es sich darum handelte, ehrliche Arbeit zu suchen, so war hier Fortuna mir hold: ich gewann gleich am ersten Abend 800 Mk.

[103] Nun hatte ich reichlich Reisegeld und wir fuhren nicht, wie anfangs geplant, nach Genf, sondern nach Brüssel. Eine einzige Nacht in Brüssel – das Eldorado der Hochstapler für den Winter – brachte mir 7000 Frcs. ein. Nun begann ein Leben, wie es eben unter diesen Leuten Mode ist. Wie gewonnen, so zerronnen! Man kennt den Wert des Geldes nicht; hier 500 Frcs. für 1/2 Dutzend Anzüge, dort 1000 Frcs. für einen Brillantring nebst Busennadel, hier 200 Mk. für einen Reitkursus, dort 300 Frcs. für eine mit einer leichtfertigen Chansonette durchtrollten Nacht usw., usw. Man ist direkt darauf versessen, recht viel Geld zu gewinnen und – es bald wieder los zu werden; und hat man im ersteren Glück, so kommt man gar nicht mehr zur Besinnung, bis man den Becher der Lust bis zur Neige geleert hat und einen nun der Eckel packt, der uns für kurze Zeit wieder zur Besinnung kommen läßt.

Der Winter war vergangen, es war Frühling geworden; wir hatten schon längst die neuen Rennkalender in der Tasche und rüsteten uns, um ein Tourné durch halb Europa anzutreten.

Längst kannte ich sämtliche Namen der Pferde, welche dieses Jahr in Deutschland, England und Frankreich starten sollten; kannte ihr Pedigree, welches bei manchem bis nach Arabien führt; kannte aber auch ihre Eigenschaften, ob Stecher oder Flieger etc. und ihre Erfolge in den letzten Jahren.

Nachdem ich mir so alles angeeignet, was mit dem Rennsport in Verbindung steht, fuhren wir endlich nach Paris, um dem ersten Rennen in Auteuil beizuwohnen. Für den Buchmacher ist so ein Renntag ein anstrengender Tag. Schon morgens in aller Frühe reitet oder fährt er zur Rennbahn, um hier an der Quelle von allen eventuellen Zwischenfällen Kenntnis zu nehmen, auch der Vormittag läßt ihn nicht zur Ruhe kommen, kaum Zeit zum Essen, muß er einer der er sten auf der Bahn sein; steht er bei den Wettenden in gutem Ruf und Ansehen, so könnte er oft vier Hände gebrauchen, um alles Geld in Empfang nehmen zu können, welches die ungeduldige Menge ihm entgegen hält.

Hat er Glück und ist er ein gewiegter Sportsmann, so wird seine Arbeit reichlich belohnt, im anderen Falle kann ein einziges Rennen ihn um einige Tausend ärmer machen.

Schließlich verbringt er noch die halbe Nacht am Spieltisch und fährt am Morgen, ohne geschlafen zu haben, nach einer anderen Stadt oder gar in ein anderes Land, wo der grüne Rasen winkt, um auch ihm einen Sieg oder eine Niederlage zu bereiten.

[104] Eine Woche nach dem Rennen Paris-Auteuil ging es weiter nach Nizza, wo mehrere Rennen stattfanden und – wer könnte wohl in Nizza gewesen sein, zumal wenn man gewerbsmäßiger Glücksspieler und Glücksritter ist, um nicht sehnsüchtig hinüber zu schielen nach dem alten Raubneste – Monaco!

Mein Freund hielt sich jedes Jahr 8–14 Tage in Monaco auf, kannte die Verhältnisse dort aus dem ff. und erklärte mir dieselben. Gewonnen hatte er zwar noch nie! Seine Verluste waren aber auch nicht groß, denn er konnte zur Roulette kein Vertrauen fassen. Also wir fuhren – trotz der in Nizza erscheinenden Broschüre »Les misères de Monaco« mit dem an einem Baum hängenden Selbstmörder auf dem Titelbilde und der Unterschrift: »Ce que l'on y gagne« – eines schönen Tages nach Monaco und fanden in La Condamine ein gutes Unterkommen.

Welch eine Pracht und Herrlichkeit durfte ich hier schauen, ich glaubte mich in den Garten Eden versetzt!

Vor uns das Meer mit seinen zahllosen Fahrzeugen, rechts schweift der Blick nach Italien; Frankreich breitet seine wunderbarsten Landschaften aus, und selbst Corsika mit seinen zerrissenen schneebedeckten Höhen wird sichtbar. Und dann die reiche, südliche Vegetation, die herrlichen Orte der Umgegend: Mentone und das romantisch gelegene Roccabruna. Die – doch wohin gerate ich? will da Geschichten aus meinem Leben erzählen und langweile den freundlichen Leser mit einer Landschaftsbeschreibung. Am Nachmittag begaben wir uns ins Kasino und betraten, nachdem wir unsere Karten empfangen, den Spielsaal. Fast eine Stunde verfolgte ich aufmerksam das Spiel, um alle Kombinationen desselben kennen zu lernen, und hatte bald die Überzeugung, daß die Bedingungen zum Gewinnen dieselben sind, wie bei jedem anderen Hazardspiel: entweder schnell arm oder schnell reich! seine Ruhe bewahren und zur rechten Zeit aufhören! Wer kleine Summen setzt und stundenlang spielt, muß sich verbluten, zumal er immer hitziger und leidenschaftlicher wird.

Nun ließ ich auch einen Blick über die Gesellschaft gleiten: lauter Menschen comme il faut gekleidet; man weiß eigentlich nie recht, mit wem man es zu tun hat und doch diese Gegensätze! Ein Fürst neben einem ehemaligen Zuchthäusler und eine adelsstolze Gräfin neben der Halbweltlerin. Wer fragt aber hier danach? Hier sind sie alle gleich, hier funkeln alle Augen vor Begierde: Gold! – Gold wollen sie haben! Alles will gewinnen! Merkwürdig, ich blieb ganz kalt, und erst, nachdem ich eine Serie mit Interesse verfolgt hatte: 7mal war eine Nummer im schwarzen Fach herausgekommen, [105] und alles setzte auf Rot, nahm ich 100 Frcs. und setzte auf Schwarz, und richtig – Schwarz hatte zum achten Male gewonnen.

Auf meinen Einsatz flog, in elegantem Bogen, ein großes Goldstück, ich nahm es und sah mir das Ding an: 100 Frcs. in Gold, auf der einen Seite das Bildnis des Fürsten und auf der Reversseite zwei Mönche, ein Wappen tragend, mit der Inschrift: »Deo Juvante«. Ich konnte mich eines Lächelns nicht erwehren: diese Gesellschaft hier, und dann »Alles mit Gottes gnädigem Beistand«!

Ich ging an einen andern Tisch. Hier spielte ein Engländer seit einer viertel Stunde Maximum und gewann große Summen. Mit dem allergrößten Interesse verfolgte ich sein Spiel; plötzlich stand er auf, als ob er gehen wolle, aber trotzdem er alle Taschen voll Papiergeld hatte, mußte er wohl noch nicht zufrieden sein, denn er setzte sich wieder und spielte weiter. Aber er hatte die Sicherheit verloren, er wurde unruhig. Er setzte auf eine Nummer – en plein – und zwar das Maximum auf zèro, nahm aber das Geld wieder fort, schob es jedoch nochmals auf zèro und nahm es wieder fort, um mit 6000 Frcs. impair zu besetzen.

Schnell nahm ich nun 9 Louis – das Maximum auf eine Nummer – und besetzte zèro. Ich kam gerade noch zurecht, denn schon rollte die Kugel langsamer und der Croupier rief: »Rien ne va plus!«

Die Kugel stand einen Augenblick still und fiel dann in zèro; mein Mumm war also richtig gewesen, oder vielmehr der des Engländers, der seine Ruhe verloren hatte. Ein Haufen Papiergeld flatterte auf meinen Satz, 35 facher Gewinn, also 6300 Frcs.; ich spielte jetzt mit Glück wohl eine viertel Stunde lang, indem ich noir und rouge, manque und pair besetzte. Auf einmal wurde auch ich unruhig, ich hatte Bekannte aus Nizza gesehen, setzte aber doch 1000 Frcs. auf douze premiers, verschob den Satz auf douze milieu, verschob nochmals aufpasse – und verlor.

Jetzt hatte ich das Gefühl, als müßte ich alles verlieren, und entfernte mich; nahm am Büffet eine Erfrischung, suchte meinen Freund und verließ mit diesem das Kasino.

Ich hatte 18000 Frcs. gewonnen! Aber ich war nicht zufrieden, mich hatte das Goldfieber gepackt; ich verwünschte die Bekannten, die mich aus dem Konzept gebracht, und verwünschte mich selbst, daß ich nicht an einem andern Tisch weiter gespielt, statt davon zu laufen. Dabei malte ich mir die Zukunft in den rosigsten Farben, wenn es mir gelingen würde, mit 50–60000 oder gar mit 100000 Mark nach Deutschland zurückzukehren.

[106] »Dann kannst Du ein Geschäft anfangen,« erzählte ich mir selbst, »wieder ein anständiges, achtbares Mitglied der Gesellschaft werden! Denn bist Du jetzt auch kein Verbrecher, so gehörst Du doch zu den problematischen Existenzen!« –

Am andern Mittag war ich einer der ersten im Spielsaal, und eine Stunde später saß ich in einer Ecke und wischte mir den Schweiß von der Stirne: ich hatte den gestrigen Gewinnst und noch 500 Frcs. verloren. Ganz in der Nähe saß der Maximumspieler von gestern; der Engländer hatte 300000 Frcs. verloren. Mein Freund hatte ausnahmsweise auch 'mal 3000 Frcs. gewonnen und war damit zufrieden, er spielte nicht mehr.

Unsere Zeit war abgelaufen, und so verließen wir dies herrliche Stückchen Erde, welches ich in meiner Wut mit allen möglichen Schmeichelnamen wie: olles Raubnest etc. belegte. Die Eisenbahn führte uns nach Mailand und von dort via Chiasso nach Luzern; wir machten auf zwei Tage einen Abstecher nach dem herrlichen Jnterlaken und dann ging's nach Zürich, wo ich in einem Klub, dessen Mitglieder durchweg ausländische Studenten waren, 2600 Frcs. im Baccarat gewann.

Einige Tage später waren wir wieder in Deutschland, heute hier, morgen dort. Der Rennterminskalender diente als Wegweiser, im Fluge ging es nach all den Orten, wo die größeren Rennen stattfinden: Mannheim, Frankfurt a.M., Köln, Hamburg, Berlin-Hoppegarten, Dresden, Hannover, Harzburg, Doberan, Travemünde, Baden-Baden, Stuttgart. In den Zwischenzeiten auf einige Tage zum Rennen nach Ostende, Baden b. Wien, Paris und zum großen Derby nach London.

Es ist unglaublich, welche Summen hier in Wetten angelegt werden. An diesem Tage befinden sich alle Einwohner der Riesenstadt zu Pferd, zu Wagen und zu Fuß auf dem Rennplatze; jede Schneidermamsell, jeder Laufbursche, kurz jedermann hat sich ein Sümmchen gespart, um es beim Derby zu verwetten, oder auch, es zu verdoppeln, zu verzehnfachen. – –

Wieder war die Rennsaison zu Ende und wieder war ich in Hannover. Wie ein Magnet zog es mich immer dorthin, lebten doch hier Personen, die meinem Herzen nahe standen, und obwohl diese nichts von mir wissen wollten, zog es mich doch immer wieder in ihre Nähe.

Ich hatte nun alles was so viele Menschen glauben nötig zu haben, um glücklich sein zu können: Elegante Wohnung, Wäsche und Garderobe nach der neuesten Mode, wertvolle Pretiosen etc., hatte [107] die Welt bereist, mit Grafen und Baronen an einer Tafel gespeist, und verkehrte in den vornehmsten Restaurants.

Aber war ich glücklich? Nein! Mir fehlte etwas – für die Achtung, die ein braver Handwerker in der Gesellschaft genießt, hätte ich den ganzen Plunder hingegeben, und dann – ich hatte keinen Gott! Zwar galt es in den vornehmen Kreisen, wie ich sie in Ostende, Nizza, Baden-Baden etc. kennen gelernt hatte, zum guten Ton, an nichts zu glauben, aber es war mir doch nicht möglich, den Gottesfunken in mir ganz zu ersticken. Es gab Minuten, da klang das Abschiedswort meiner Mutter, die mich als verschollen oder gar als tot betrauerte, mir gellend in den Ohren, und dann riß es mich gewaltsam fort, um in den Armen der Demimonde oder beim schäumenden Champagner Lethe zu trinken.

Wohl gab es auch Minuten, wo die Vernunft mir sagte: »Kehre um!« Aber gab es für mich denn eine Rückkehr in die Gesellschaft?

Ja, so lange ich unter falscher Flagge segelte, und mit frechem Aplomb meinen Platz behauptete, so lange war alles gut, war ich doch erst neulich auf einer Wiesbadener Reunion einer der beliebtesten Tänzer gewesen. Aber so was kann nur in Weltbildern passieren, wo man es nicht so genau nimmt und Bekanntschaften ebenso schnell löst, wie man sie schließt. Sollten sie aber, wieder in ihre vier Wände zurückgekehrt, die Wahrheit erfahren, so würden sie sich voll Abscheu von dem Gebrandmarkten, dem Paria wenden, sie würden es als einen Affront betrachten, einen Strafentlassenen mit ehrlichen Absichten aufzunehmen.

So mit meinen Gefühlen in Widerstreit geratend, war ich auf dem besten Wege vollständig zu versumpfen. Da lernte ich in einem Variété den Komiker H. kennen, welcher mir so viel Angenehmes und Lustiges über das Artistenleben zu sagen wußte, daß ich auf seinen Rat nach Berlin reiste und mich mit einem Direktor einer Artistentruppe in Verbindung setzte.

Diese Truppe war eine der ersten in ihrem Genre, und ihre Burlesk-Pantomime ist in ganz Deutschland mit Erfolg aufgeführt worden. Der Direktor suchte einen jungen Mann von gutem Wuchs, höflichen Manieren und der nötigen Dosis Frechheit, der in besagter Pantomime eine Nebenrolle zu spielen hatte; dazu war nun wohl ich ganz der Mann, hatte ich doch schon früher bei Vereinsfestlichkeiten als Humorist reüssiert und mir ein wenig Bühnenroutine angeeignet. Zwei Tage später hatte ich einen Kontrakt in der Tasche, wonach ich mich auf zwei Jahre verpflichtet hatte für eine monatliche Gage von 200 Mk. nebst freier Reise; das war nun zwar im Vergleich zu den Summen [108] die ich im verflossenen Jahre verbraucht hatte, ein bischen wenig, aber ich hoffte doch, dieser Schritt würde mir wieder einen Platz in der Gesellschaft anweisen, dessen ich mich nicht zu schämen brauche. Und wer weiß – ich nannte ja ein ganz hübsches Sümmchen mein eigen, vielleicht konnte ich später einmal mir selbst eine Truppe zusammenstellen.

In 14 Tagen war ich ausgebildet, und nachdem einige Engagements in Deutschland erfolgreich absolviert waren, ging die Gesellschaft auf Tournè nach Amerika.

Wir waren in New-York in dem bekannten Variété von K. & B. engagiert, und in einigen Tagen sollte es weiter gehen, um andere Verpflichtungen zu erfüllen, als meine Artistenlaufbahn plötzlich ein jähes Ende finden sollte.

Im genannten Variété war auch ein junger Argentinier aus Buenos-Ayres engagiert, ein streitsüchtiger Mensch, der öfter auf Kosten seiner deutschen Kollegen Witze machte, als er aber eines Abends beleidigend wurde, bekam er von mir eine Ohrfeige, worauf er seinen Revolver zog, auf meine Brust richtete und drohte: »Mensch, ich schieße Sie zusammen wie einen Hund, wenn Sie nicht augenblicklich –«

Was ich augenblicklich sollte, erfuhr ich nicht mehr, denn ein Schuß krachte, ich erhielt einen Schlag gegen die Brust und fühlte gleich darauf einen heftigen Schmerz in der rechten Schulter. Der unglückliche Revolvermann hatte den Finger zu lose am Abzug gehabt, wenigstens schwor er hoch und heilig, es sei nicht seine Absicht gewesen zu schießen, der Schuß sei gegen seinen Willen losgegangen.

Nun lag ich im Bett und hatte das Wundfieber. An ein Auftreten war vorerst nicht zu denken und mein Direktor war froh, daß er gleich am andern Morgen einen Ersatz für mich fand; mein Kontrakt wurde gelöst, und als ich nach einigen Wochen wieder völlig hergestellt war, war meine Truppe längst in einer anderen amerikanischen Stadt und ich war, wenn auch nicht mittellos, so doch arbeitslos.

»Es hat so sein sollen,« dachte ich, »wenn Du hier deine kaufmännischen Kenntnisse verwerten könntest!« kalkulierte ich weiter, »vielleicht findest Du hier das, was die Heimat Dir versagte. Also frisch ans Werk, sehen wir, wie die kaufmännischen Aktien hier stehen.«

Ich zog verschiedene Erkundigungen ein und lernte dabei einen jungen Mann kennen, der sich mir als Disponent einer angesehenen [109] Firma vorstellte. Dieser erzählte mir im Laufe des Gesprächs, daß es durchaus nicht so leicht sei, bei einer guten Firma unterzukommen, hier müsse man eben zugreifen, was sich biete; vielleicht als Bar-keeper oder gar als Hausknecht oder Stiefelputzer müsse man hier anfangen. »Sie scheinen mir aber nicht mittellos zu sein,« erzählte er weiter, »und da würde ich raten, weiter ins Land zu gehen, vielleicht nach St. Louis, Memphis oder New-Orleans, da stehen die Chancen für Sie bedeutend besser, zumal in dieser Jahreszeit. Sollte ich Ihnen dienen können,« so schloß er, »so bitte, ganz über mich verfügen zu wollen.«

Ich bin im Auslande stets vorsichtig gewesen beim Schließen von Bekanntschaften, denn ich habe in meinem Leben viel erfahren. Ich habe den Verbrecherplebs im Vaterlande, das ganze Elend dieser Unglücklichen, im Gefängnis sowohl wie in ihren Schlupfwinkeln, aus eigener Anschauung kennen gelernt, aber was sind dies für arme, ich möchte beinahe sagen, harmlose Menschen gegen die Verbrecheraristokraten, die jahraus, jahrein vom Raube leben, als hätten sie das Einkommen eines Finanzministers, dabei nirgends zu Hause, heute hier, morgen da. In den Orient-Expreßzügen I. Klasse, auf der Rennbahn am Sattelplatz, in den Kurgärten der Weltbäder, in den American-Bars und in den ersten Wiener Café's, kurz überall, wo die feine Lebewelt zu finden ist, da habe ich auch diese Gauner getroffen, die vor den Spitzbuben in den Verbrecherkaschemmen nichts voraus haben, als daß sie Fin de Siècle sind und vor der Polizei keine Furcht zu haben brauchen, weil diese nicht auf der Höhe ist.

Ich kenne den Verbrecher, abgesehen von verschiedenen Individualitäten, die sich bei gewissen Spezies überall finden, am Blick, aber trotzdem war ich im Ausland stets sehr vorsichtig, besonders in London und Paris; so rauchte ich z.B. nie eine von einem Fremden angebotene Cigarre oder Cigarette, denn ich kann dem präparierten Cannabis indica, der event. darin enthalten sein könnte, keinen Geschmack abgewinnen, denn wie mancher hat schon im Orient-Expreß oder anderswo eine solche Cigarette mit seiner ganzen Barschaft und seinen Wertsachen bezahlen müssen.

So war ich nun auch mißtrauisch, als sich mir Mr. Hill so uneigennützig zur Verfügung stellte. Wir waren in eine Bar getreten, um einen Sherry-Cobler zu trinken, und ich betrachtete mir noch 'mal aufmerksam meinen neuen Bekannten. Aber ich konnte an diesem Gentlemann nichts finden, was irgend einen Verdacht rechtfertigte.

Dieser schlaue Schurke war mir aber doch überlegen, – [110] ich hatte eben noch nicht ausgelernt – er täuschte mich vollständig, am meisten dadurch, daß er sich nicht an mich festbiß, d.h. mich nicht festzuhalten suchte, sondern mir Glück wünschend sich von mir verabschiedete, ohne meine Adresse zu haben, oder mir die seinige zu hinterlassen. Da ich aber glaubte, dieser Gentlemann könne mir event. nützlich sein, so bat ich ihn um ein Wiedersehen am Abend. Er erwiderte, daß es ihm angenehm sei, meine Gesellschaft zu genießen, er habe sich aber mit einem Freunde, dessen Eltern Deutsche und mit seiner Mutter, welche ebenfalls eine Deutsche sei, aus einer Stadt stammten, schon verabredet, am Abend einen Klub zu besuchen; er würde sich aber freuen, wenn er mich dort, wo ich auch viele deutsche Kaufleute treffen würde, einführen dürfe.

Am Abend stellte er mir einen jungen, sehr schüchternen Menschen als Mr. Uting vor, und wir besuchten dann zunächst eines der fashionablen Restaurants am unteren Broadway; nachdem wir hier vorzüglich soupiert hatten, bestellte Mr. Hill, als wir schon gezahlt und zum Aufbruch fertig waren, während ich für einen Augenblick vom Tische abwesend war, noch 3 Liköre, welche wir stehend tranken und gingen.

Draußen aber wurde ich plötzlich so matt und schläfrig, als hätte ich zwei Nächte am Spieltisch gesessen; ich schrieb dies aber den schweren Speisen und Getränken zu; wir stiegen in ein Cab und rollten davon.

In der nächsten Viertelstunde kämpfte ich mit aller Macht gegen den rätselhaften Schlaf, meine Glieder wurden bleischwer, der Kopf glühte und sank zurück in das Polster – man hatte mich betäubt.

Am andern Morgen wurde ich durch einen kernigen Fluch aus meinen Träumen aufgeschreckt, ich blickte verwundert auf: ich lag auf einigen Holzbohlen unter freiem Himmel im Hof eines mir unbekannten Hauses, und um mich herum standen zwei fremde Männer, welche deutsch sprachen. Der eine sagte gerade: »Wenn er nicht so elegant gekleidet wäre, könnte man meinen, ein Pennbruder hätte sich bei uns eingeladen,« und zu mir gewendet: »Na endlich wachen Sie auf?! Mensch, haben Sie einen Schlaf!«

Ich erhob mich sehr langsam, mir schmerzten alle Glieder und mein Kopf, mein armer Kopf; wie kam ich denn hierher? Aber soviel ich auch dachte, ich konnte keine Antwort darauf geben. Da fiel mein Blick auf meine Weste: Uhr und Kette waren verschwunden, ich blickte auf die Hände: auch die Ringe fehlten. Wie ein Blitz kam mir die Erleuchtung, ungestüm riß ich die Weste auf, – Gott sei Dank, die Brieftasche war da; hastig öffnete ich die Fächer: sie[111] waren leer! Nur meine Börse hatte man mir, nachdem man das Gold herausgenommen, mit einer winzigen Summe gelassen.

Ich stand wie betäubt; ich, der ich die Verbrecher kannte und stets so vorsichtig war, hatte mich von schlauen Schurken betäuben und berauben lassen. Um 5 Tausendmarkscheine, 8 Hundertmarkscheine, ungefähr 50 Dollars in Gold und Wertsachen im Werte von 1500 Mk. hatten diese »Gentlemans« mich erleichtert, bevor sie mich auf einem Grundstück der Greenwich-Street absetzten. Ich habe nie wieder von ihnen gehört, sie waren selbst der Polizei zu schlau.

Um meinen Verpflichtungen im Boarding-House nachzukommen, mußte ich einige Anzüge und sonstige Sachen veräußern und stand sehr bald auf derselben Stufe, auf welcher ich in Deutschland so böse Erfahrungen gemacht hatte. Doch nein, die Verhältnisse lagen hier doch anders, denn hier bekommt jeder Arbeit, der arbeiten will; das ist aber in Deutschland nicht der Fall. Also ich suchte Arbeit und fand auch scließlich solche, – nämlich als Lastträger am Hafen fand ich Beschäftigung.

Aber ich hatte meine Kräfte doch überschätzt, zwar hatte ich den festen Willen zu arbeiten, und sei es auf der untersten Stufe, doch auf die Dauer kann die Geisteskraft die Körperkraft nicht ersetzen, ich konnte die Lasten nicht mehr heben, brach eines Tages zusammen und war wieder – arbeitslos.

Doch Hunger tut weh und betteln habe ich nie lernen können, so verheuerte ich mich als Kohlenzieher auf einem Dampfer der Red Star Line für die Strecke New-York-Rotterdam. Was ich auf dieser Fahrt erduldet habe, diese Qualen sind unbeschreiblich und doch hatte ich nicht den Mut, wie schon so mancher vor mir, über Bord zu springen, sondern war nur darauf bedacht, meinen verweichlichten Körper mit seinen entnervten Muskeln glücklich wieder in die Heimat zu bringen.

In Rotterdam ging ich an Land und kehrte nicht mehr an Bord zurück. Von einem deutschen Restaurateur, den ich kannte, borgte ich 10 Gulden und fuhr nach Köln und von hier nach Hannover.

In dieser Stadt giebt es viele kleine Verbindungen, in denen Hazard gespielt wird, und ich hoffte, mich hier von den Strapazen der letzten Monate zu erholen, aber es sollte anders kommen.

Kaum 8 Tage in Hannover, traf ich einen Bekannten von der Rennbahn und zwar einen Mann, der unter dem Spitznamen »Bereiter-Joseph« auf verschiedenen Rennplätzen bekannt war, wo er, bekannt mit den Stallgeheimnissen, Tips verkaufte. Es war Ende Oktober, und so wunderte ich mich nicht, daß dieser Mann sich hier aufhielt, war [112] doch die Saison beendet. Wir traten in ein altdeutsches Bierhaus und mein Begleiter bat mich, da er eine ganz miserable Handschrift habe, doch für ihn einen Brief zu schreiben, dessen Konzept er mir reichte. Ich las seinen Wisch und sah, daß es ein Bettelbrief an einen Offizier war, der gebeten wurde, weil Schreiber sich in großer Verlegenheit befinde, eine angegebene Summe unter einer gleichfalls angegebenen Chiffre poste restante zu deponieren.

Nun werden täglich soviel Tausende von Bettelbriefen geschrieben, speziell auch solche an Homosexuelle, daß ich mir nicht den geringsten Vorwurf daraus machte, zumal für einen andern, einen solchen Brief zu schreiben oder eigentlich nur abzuschreiben; natürlich ziehe ich eine strenge Grenze zwischen einem Bettel- und einem Erpressungsbrief.

Der »Bereiter-Joseph« – seinen richtigen Namen kannte ich nicht – sagte mir noch, daß er auf zwei Tage in Celle zu tun habe und bei seiner Rückkehr das Geld vorzufinden hoffe, und da es mir anscheinend auch nicht sehr gut gehe, sich erkenntlich zeigen werde.

Zwei Tage später am Nachmittag erfuhr ich von einem Bekannten, daß ein großer Spielabend verabredet sei, wo sich etwas verdienen lasse; ich hatte aber nur einige wenige Mark im Vermögen, und so gab mir der Teufel ein: »Gehe zur Post und schaue, ob der Bereiter schon sein Geld abgeholt hat, ist es noch da, dann nimm es, und da Du sicher gewinnen wirst, kannst Du es ihm morgen zurückgeben!«

Ich ging zur Post und – wurde verhaftet! Der Offizier hatte den Brief der Polizei übergeben. Sechs Wochen Untersuchung, dann Hauptverhandlung und ich erhielt wegen Erpressungsversuchs: 6 Monate Gefängnis und 5 Jahre Ehrverlust.

Das Gericht sah in einem Passus des fraglichen Briefes, welcher ungefähr lautete: »Bitte, mich nicht abzuweisen, denn Sie sind mir zum Dank verpflichtet, da ich Ihnen Leute vom Halse gehalten habe, die den Weg zum Regiment nicht gescheut haben würden!« – eine indirekte Erpressung, und da der Bereiter-Joseph nicht aufzufinden war, hielt man ihn für den großen Unbekannten und verurteilte mich, obwohl der Offizier behaupten konnte, mich nie gesehen zu haben, und obwohl ich beteuerte, daß ich den Brief nur abgeschrieben und den fraglichen Passus nicht als eine Drohung angesehen habe. Aber niemand glaubt ja einem entlassenen Sträfling, einem Ausgestoßenen, einem Paria etwas, warum sollte nun gerade ein Gerichtshof ihm Glauben beimessen?!

Man schickte mich zur Strafverbüßung in ein kleines Land [113] gerichtsgefängnis und zwar nach Göttingen, wo ich mich zur Außenarbeit meldete, um mich an harte Arbeit zu gewöhnen und wohl auch, um mich selbst zu strafen für meine Gutmütigkeit oder Leichtsinn; ich war mir selbst nicht klar darüber, wie ich meine Handlungsweise zu nennen habe.

Bei harter, mühevoller Arbeit vergingen die Tage, schneckenartig folgte ein Monat auf den andern; morgens in aller Frühe ging es zum Arbeitsplatz und abends kehrten wir totmüde und hungrig ins Gefängnis zurück, dabei fühlte ich mich totunglücklich in der rohen und gemeinen Umgebung. Nirgends fand ich Mitgefühl. Niemand spendete mir einen Trost, oder versuchte es, mich aufzurichten, wenn die Verzweiflung mich packte. In sechs langen Monaten sah ich weder einen Gefängnisvorstand noch einen Geistlichen; einen Gottesdienst gab es hier nicht, kein freundliches Wort wurde mir zu teil; die einzige Vorlesung, die uns gehalten wurde, war die des Oberaufsehers, daß der Aufseher nach Paragraph so und so berechtigt sei, uns bei einem etwaigen Fluchtversuch oder sonstiger Ungehörigkeit über den Haufen zu schießen. Diese Vorlesung wurde so oft gehalten, daß sie jeder auswendig kannte.

Doch alles geht vorüber, und eines schönen Tages im Rosenmonat Juni saß ich in der Eisenbahn, um die kleine Strecke von Göttingen nach Hannover zurück zu fahren; ich suchte nun sofort Arbeit, aber ich mußte abermals erkennen, wie schwer es ist für einen ehrlichen, gebesserten Strafentlassenen, Arbeit zu finden.

So vergingen drei Wochen, endlich hatten meine Bemühungen Erfolg; ich erhielt durch Empfehlung eines Fabrikanten, der von meiner Bestrafung nichts wußte, einen Posten als Geschäftsführer in einem großen Vergnügungs-Etablissement. Meine schwieligen Hände und mein sonnenverbranntes Gesicht gaben mir ein gutes Zeugnis, denn ich erzählte, ich hätte einen Bruder, der Landwirt sei, in seiner Arbeit einige Wochen unterstützt.

Es gelang mir, durch Pünktlichkeit, Aufmerksamkeit und Pflichttreue in kurzer Zeit das vollständige Vertrauen meines Chefs zu erwerben; ich bekleidete einen Vertrauensposten und hatte ein Einkommen von monatlich 250–300 Mk. Ausschließlich widmete ich mich meinen Pflichten, keine Karte berührte meine Hand, es war mir vollständig toute même chose, ob Flunkermichel oder Tokio das deutsche Derby gewinnen würde, mein Denken und Dichten war nur darauf gerichtet, die eroberte Position zu befestigen und zu behalten. Ich war glücklich, daß ich arbeiten konnte.

So vergingen 3/4 Jahre, als eines Tages ein Kriminalschutzmann [114] meinem Chef die Frage vorlegte: »Nun Herr F. wie macht sich denn der S.?« und auf die erstaunte Gegenfrage meines Chefs, wie er dazu komme, sich nach mir zu erkundigen, entgegnete er: »Ei! Sie wissen wohl gar nicht, daß der S. schon verschiedene Male im Gefängnis war und jetzt noch 5 Jahre Ehrverlust hat?!« –

Meine Stellung war erschüttert, ich mußte gehen, mein Chef zwar ließ mich ungern fort, aber einer der Hausdiener war Zeuge des Gesprächs gewesen, und nach 10 Minuten kannte das ganze Personal meine Vergangenheit. Der Kriminalschutzmann, ein Mensch, der sich ungemein wichtig zu machen suchte, war einmal in einem der Gesellschaftssäle, wo er übrigens nichts zu suchen hatte, von mir darauf aufmerksam gemacht worden, daß man den Hut abzunehmen habe, falls man nicht als unhöflich gelten wolle, worauf er meinte, er sei Kriminalschutzmann und habe das nicht nötig. Da nun der Präsident des Vereins, welcher seine Festlichkeit in diesem Saal abhielt, sich über die Störung des Schutzmanns beschwerte, die Festlichkeit aber polizeilich angemeldet war und der betr. Schutzmann keinen speziellen Befehl hatte, den Verein zu überwachen, so forderte ich denselben auf, das Lokal verlassen zu wollen.

Um sich für die erhaltene Lehre zu rächen, machte er meinem Chef obige Mitteilung. Später verlor dieses Muster von Polizeibeamten wegen verschiedener Machinationen seinen Dienst und führte dann selbst eine sehr zweifelhafte Existenz. Vielleicht hat auch ihn die Nemesis erreicht.

Ich fuhr nach Hamburg und bemühte mich vergebens 3 Monate lang eine Stellung zu erhalten; mir fehlten eben die glänzenden Empfehlungen, ohne die heutzutage niemand einen jungen Mann anstellt. Einmal bewarb ich mich mit gefälschten Zeugnissen um einen Posten, entging aber nur mit knapper Not der Verhaftung, da die Firma Erkundigungen eingezogen hatte.

Meine Ersparnisse schrumpften immer mehr zusammen und mißmutig, in deprimierter Stimmung fuhr ich nach Berlin. Aber hier wiederholten sich nur meine alten Erfahrungen: ich suchte Arbeit – Stellen als Schreiber, Diener, Kellner – alles vergebens. – Bei Bekannten, bei denen ich früher etwas gegolten, erzählte ich wahr und aufrichtig mein Schicksal, meine Schuld und meine Vorsätze, überall wies man mich zurück mit kalten Ermahnungen oder mit schnöder, verletzender Härte. Mein Geld war aufgezehrt – eine kurze Zeit lebte ich noch von dem Erlös meiner Kleider, und dann stand ich eines Tages, Ende August 1897, mittellos und obdachlos auf der Straße.

[115] Wie viele Tausende, die von dem glänzenden Äußeren der Großstadt angelockt, gehen hier jährlich zugrunde! Hier werden sie arbeitslos, heimatlos, obdachlos und gottlos! Pastor Statle sagt in seinem Buche »Gefängnisbilder«: »Die Kaufleute, Schreiber, kleine Beamte etc., sind, wenn eine Gefängnishaft über sie hinweggehen mußte, bei ihrer Entlassung so gut wie vogelfrei, sie finden überall, wo sie anklopfen, verschlossene Türen.« Er hat den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er auch den ganzen Jammer, das ganze Elend nicht kennt.

Nun irrte ich hungernd durch die Friedrichstraße und da stieg in mir der Gedanke auf: »Ach wäre ich doch fort, weit fort, an einem Ort, wo ich Ruhe und – satt zu essen hätte!« Wahrhaftig! – ich schämte mich des Gedankens, aber ich hatte ans Gefängnis, gedacht!

Wie ich so die Straße 'runterschlenderte, traf ich bei Café Bauer einen Menschen, einen Verbrecher aus Hamburg; dieser erzählte mir seine Erlebnisse: er komme aus Danzig, habe dort einen Homosexuellen um 1000 Mk. geprellt und für weitere 500 Mk. dessen wertvolle goldene Uhr in Pfand erhalten; habe aber diese Uhr, da er sein Geld mit vollen Händen fortgeworfen habe, für 50 Mk. versetzt bei einem Uhrmacher F. – Er wollte nun seinen Brillantring versetzen und ich solle mit ihm nach Danzig fahren und von dem Päderasten eine größere Summe erpressen helfen.

Dies »Geschäft« schien mir aber zu gefährlich und ich beschloß, nicht mitzufahren, sagte aber nichts, sondern versetzte den Ring auf meinen Namen und verabredete mich mit ihm auf den andern Tag.

Er war im Kaiserhof abgestiegen und wurde dort verhaftet, aber dies erfuhr ich erst später, vorläufig glaubte ich, er sei zu der Überzeugung gekommen, daß das Geschäft für ihn allein einträglicher sei und sei allein abgereist, nun beschloß ich, auf eigene Faust ein weniger gefährliches Geschäft zu arrangieren: ich schrieb an den Päderasten in Danzig, daß der Erpresser bei mir seine Uhr für 150 Mark versetzt habe und bat um Nachricht, ob er geneigt sei, dieselbe auszulösen.

Dies war lediglich ein Geschäft, zwar ein schmutziges, aber immerhin ein Geschäft, wobei ich 100 Mk. verdiente, wenn es einschlug.

Da jedoch nicht umgehend Antwort erfolgte, schrieb ich in meiner kritischen Lage und Aufregung – ich hatte die Nacht in einem der zweifelhaftesten Nacht-Café's zugebracht, da ich in eine Penne nicht gehen wollte, einen Gasthof aber nicht bezahlen konnte – einen zweiten Brief, worin der Passus vorkam: »Wenn ich nicht umgehend Antwort erhalte, sehe ich mich veranlaßt, die [116] Uhr Ihrer Frau anzubieten, vielleicht komme ich dann schneller zu meinem Gelde!« Dies war eine Drohung, aber man bedenke meine Lage, mir blieb ja nichts übrig, als zu verhungern oder ein Verbrechen zu begehen; und war dieser Päderast ein nicht viel größerer Verbrecher als ich?

Ich hatte mit einem fingierten Namen unterzeichnet und als Adresse ein Restaurant angegeben; statt einer Antwort kamen aber 2 Kriminalschutzleute, um mich zu verhaften.

Ich saß im Restaurant, da sie mich aber nicht kannten, blieb ich ruhig sitzen. Drei volle Stunden warteten die Herren auf mich; der Wirt, der Kellner, die Gäste – alle wußten, wen sie haben wollten, aber die Solidarität unter den Gästen dieses Restaurants war zu groß, als daß auch nur einer eine Andeutung gemacht hätte. Schließlich entfernten sie sich, beim Wirt die Nachricht hinterlassend: ich solle am Nachmittag um 4 Uhr ans Aquarium kommen, die Sache würde erledigt werden.

Kaum waren sie fort, da brach ein homerisches Gelächter los! – O, heilige Hermandad, Du bist nicht auf der Höhe! –

Wenn ein Sträfling mit den besten Vorsätzen die Anstalt verläßt und nun einsieht, daß er dieselben nicht betätigen kann, weil ihm Niemand die Hand reichen will, dann sucht er, sobald er in Not und Elend gerät, die Verbrecherkneipen auf. Hunger tut weh' und hier unter den »Brüdern« bekommt er zu essen und trinken; daran denkt er gewöhnlich nicht, daß ein Überschreiten der Schwelle der Verbrecherbeize (Kaschemme) seinen Rückfall bedingt, sondern er fühlt nur den Hunger und weiß, daß er hier Menschen findet, welche mit ihm ihr Letztes teilen, wenn er sagt, daß er aus Strafhaft kommt.

Und – es ist ja so schwer, ehrlich und brav zu bleiben, wenn der Hunger in den Eingeweiden wühlt und man vor Müdigkeit und Ermattung dem Umfallen nahe ist; bei anständigen Menschen aber nur Verachtung findet.

So ging es auch mir, ich hatte in einer Kaschemme in der Markgrafenstraße einen Bekannten aus Frankfurt getroffen, welcher für mich in der freigebigsten Weise Alles bezahlte und mir seine Erlebnisse erzählte. Er war von Dresden aus zum Markt nach Görlitz gefahren, hatte dort einen reichen Mühlenbesitzer kennen gelernt, der sich in unsittlicher Weise an ihm vergriffen hatte, und an diesem nun eine Erpressung verübt. Da der Müller aber wenig Geld bei sich gehabt, hatte er ihm die Uhr genommen, in dessen innerem Deckel die vollständige Adresse des Besitzers eingraviert war. Von Dresden aus hatte er nun einen groben Erpressungsbrief geschrieben, wonach [117] der Mühlenbesitzer bis zu einem bestimmten Tage 50 Mk. unter einer angegebenen Andresse – Berlin – postlagernd Zimmerstraße zu senden habe.

Der Mühlenbesitzer hatte solche Angst gezeigt, daß er unbedingt das Geld schicken würde, anders lag aber der Fall, wenn der Brief in fremde Hände, vielleicht in die der Frau, geraten sei, dann konnte der Briefschreiber böse Unannehmlichkeiten haben, darum bat er mich, auf der Post nachzufragen, ob der Brief eingetroffen sei.

Wir waren nun wohl beide fest überzeugt, daß das keine strafbare Handlung sei, wenn Jemand für einen andern einen Brief von der Post abholt, selbst wenn es sich um die Antwort auf einen Erpressungsversuch handelt.

Es war kein Brief da; wir wurden aber, als wir die Zimmerstraße entlang schlenderten, von 2 Kriminalschutzleuten festgenommen. Ich war der festen Meinung, ich müsse sofort wieder entlassen werden, da ich ja an der Straftat weiter nicht beteiligt war, wurde jedoch ebenfalls nach Görlitz geliefert und vom Schwurgericht zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt, während der Frankfurter 5 Jahre Zuchthaus erhielt. Die Wegnahme der Uhr, welche in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt erfolgt war, wurde als Raub angesehen.

Ich dagegen erhielt ein Jahr Gefängnis, wegen Erpressungsversuchs, trotzdem ich von dem Briefe nicht das Geringste wußte, nur auf Grund meiner Vorstrafen. Der Mitangeklagte gestand seine Tat unumwunden ein, nur glaubte man ihm nicht, dem man den Päderasten auf 10 Schritt Entfernung ansah, eine unsittliche Handlung begangen zu haben, hielt es vielmehr für möglich, daß ein Mensch sich an einem Markttag, wo tausend Menschen in der Nähe sind, sich seine Uhr abnehmen läßt, ohne Hülfe herbei zu rufen oder den Verbrecher zu verfolgen.

»Kein Mensch kann Sie bestrafen!« meinte Herr Rechtsanwalt D. vor der Verhandlung und mein Mitangeklagter bat, man möge mich freisprechen, da ich nur aus Gefälligkeit für ihn zur Post gegangen sei, – vergeblich! – In dem Wiederaufnahmeverfahren wurden meine Anträge mit der Begründung verworfen, daß nicht ersichtlich sei, was die Geschworenen zu meiner Verurteilung veranlaßt habe! –

Ich hatte bereits 6 Monate verbüßt, als man endlich in Danzig auch so weit war, einzusehen, daß derjenige, der den Ring versetzt und dessen Name auf dem Pfandschein stand, eventuell der Schreiber der beiden Briefe sein könne, um deretwillen ich früher schon in Berlin gesucht wurde. Hier lag ja nun die Erpressung näher, denn ich hatte im Eifer gedroht, der Frau des Adressaten Mitteilung zu [118] machen. Mein Leugnen erschwerte die Sache, und ich erhielt auch hier 1 Jahr Gefängnis und hatte nun eine Gesamtstrafe von 2 Jahren Gefängnis und wiederum 5 Jahre Ehrverlust.

Auch hier wurde der Urheber des ganzen Verbrechens nicht zur Rechenschaft gezogen. Dieser Mensch, der einem Gauner 1000 Mk., seine Uhr und Trauring gab, beschwor, keine unsittliche Handlung mit dem jungen Manne vorgenommen zu haben, er habe lediglich das Geld aus Angst, er könne unschuldig kompromottiert werden, hergegeben. Der Erpresser erhielt auch hier 5 Jahre Zuchthaus.

Auch in Danzig wurde ich wieder verschickt, und zwar kam ich zur Strafverbüßung nach einem kleinen Kreisstädtchen in der Kassubei. Ein kleines Gefängnis mit einem Bretterzaum umgeben, welches im Durchschnitt etwa 70 Gefangene beherbergte, wurde nun meine Heimat; ich wurde hier 18 Monate lang mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt, genoß das Vertrauen sämtlicher Beamten, wurde zeitweise auf dem, am Gefängnis angrenzenden, Amtsgerichte beschäftigt und führte eine Zeitlang sogar sämtliche Gefängnisbücher; erhielt dann auch vom Herrn Amtsrichter B. das Kompliment, ich habe mich zu einen tüchtigen Verwaltungsbeamten herausgearbeitet.

Aber was nützen mir alle Kenntnisse, wenn nicht draußen die Menschen von meiner Vortrefflichkeit überzeugt sind und an meine guten Vorsätze glauben? wenn sie mir nicht die Hand reichen zur Rettung?!

Ich erfuhr denn auch sehr bald, noch vor meiner Entlassung, daß viele Menschen glauben, man müsse die Rechtsbrecher wie wilde Bestien behandeln. Solch ein Mensch war der Anstaltsarzt, der nebenbei gesagt, für das sehr anständige Honorar von 4 Mk. pro Kopf und Jahr, nur das Gefängnis betrat, wenn einer krank geworden war und er extra geholt wurde; dies geschah aber alle 2–3 Monate 'mal.

Diesen Herrn, der wegen seiner Barschheit und Inhumanität bei der Bevölkerung in sehr schlechtem Ansehen stand, bat ich nun einmal, er möge mir doch, mit Rücksicht auf meine lange Strafzeit und weiter, mit Rücksicht darauf, daß ich die schwere Kost schlecht vertrage und jeden Abend bis 10 Uhr arbeiten müsse, während die anderen Gefangenen um 7 Uhr schlafen gehen durften, täglich 1/2 Liter Milch verordnen.

Er war nun anscheinend empört, daß ich ihn wegen solcher Kleinigkeit hatte rufen lassen und sagte: »Sie bekommen keine Milch! Sie sind ganz gesund!«

[119] »Aber verehrter Herr Doktor« entgegnete ich, »Sie können doch dies unmöglich konstatieren, ohne mich untersucht zu haben!«

»Ich bin Kreisphysikus! verstehen Sie! Kreisphysikus! Sie bekommen nichts!«

»Verzeihung, Herr ›Kreisphysikus‹! mein Verlangen ist –«

»Sie haben garnichts zu verlangen, Sie sind wegen Betrugs bestraft, haben 5 Jahre Ehrverlust!« –

»Herr Kreisphysikus! erstens bin ich nicht wegen Betrugs bestraft und zweitens bin ich doch deshalb noch ein Mensch, der –«

»Garnichts sind Sie! vor allem sind Sie nicht hier, um gemästet zu werden, sondern um langsam abzusterben!«

»Das sind sehr löbliche Ansichten, mein Herr Doktor, ich begreife nur nicht, wie Sie mit solchen Anschauungen das Physikum bestanden haben.«

Nun brüllte er vor Wut, erstattete Anzeige wegen Beleidigung, und ich erhielt 14 Tage Gefängnis.

Bei meiner Entlassung sagte mir der Gefängnisvorsteher, ich solle die Sache ja nicht weiter verfolgen, sonst ginge es mir schlecht; empfing noch einige Verwarnungen in anderer Beziehung, dann noch einige Trostsprüche und ich durfte die herrliche Gegend verlassen, wo unter 100 Menschen, die man höflich anspricht – 60 ein Gesicht machen, als hätten sie Galle getrunken, schließlich eine »nie rezumie Pan« murmeln und weiter trollen, 25% aller Dorfbewohner Analphabeten sind und wo die Rechtsbrecher eingesperrt werden, um langsam abzusterben.

Ich wandte mich wieder nach Berlin und erhielt schon in den ersten 8 Tagen eine Stelle als Kellner, wurde aber nach 4 Wochen wieder entlassen, da mein durch die lange Haft ausgemergelter Körper nicht widerstandsfähig genug war, von Morgens 9 Uhr bis Nachts 1 Uhr in Tätigkeit zu sein.

Nachdem ich mich von meiner Krankheit erholt, wurde ich eine Zeitlang Krankenwärter in einer Klinik für Hautkranke, fuhr dann nach Hannover, wo ich 9 Monate Teilhaber einer kleinen Zigarettenfabrik war; der Besitzer hatte abgewirtschaftet, weil er ein ganz guter Zigarettenmacher aber kein Geschäftsmann war, es gelang mir nun zwar uns über Wasser zu halten, aber ohne jegliches Kapital leistungsfähig zu sein, ist unmöglich. Nach 3/4 Jahren mußte die Firma eingehen.

Im Sommer 1900 sollte ich durch Vermittelung eines angesehenen Kaufmanns eine sehr einträgliche Stelle als Reisender erhalten und begab mich zuerst zum Kriminalinspektor H., der meine Vergangenheit[120] kannte, ich bat ihn, nachdem ich von meinen guten Vorsätzen gesprochen, mir doch zu helfen, damit ich einen Paß bekäme. Er gab mir auch einen Kriminalbeamten mit, welcher dem Beamten am Paßbureau meldete, daß gegen mich nichts vorläge. Ich gab dem Beamten die Bescheinigung des Fabrikanten und erhielt in 10 Minuten den Bescheid, daß ich einen Reisepaß nicht erhalten könne, da ich 5 Jahre Ehrverlust habe und überhaupt 5 Jahre unbescholten sein müsse.

Nun hätte ich beichten müssen und der Fabrikant hätte mich wahrscheinlich hinausgeworfen, und wenn auch nicht – ohne Paß läßt kein Fabrikant für sich arbeiten, da er nicht Lust hat, sich eventl. seine Muster beschlagnahmen zu lassen.

O, diese Polizeivorschriften, welche einen Strafentlassenen am Arbeiten verhindern! – Und doch kenne ich Hunderte von Hochstaplern und Gaunern, welche alle im Besitze von Reisepässen sind, nur weil sie schlau genug waren, der Polizei mindestens 5 Jahre lang ein Schnippchen zu schlagen; diese Herren gebrauchen den Reisepaß lediglich als Waffe gegen die Polizei, denn ein solcher Paß ist die vortrefflichste Legitimation, womit schon mancher Schutzmann irre geführt wurde. –

Ich fuhr dann nach Frankfurt a.M., wo ich als selbständiger Agent für verschiedene Firmen tätig war; ich habe mich ungefähr 3 Jahre lang von allem fern gehalten, was mich mit dem Strafgesetz in Konflikt bringen konnte, und doch sitze ich jetzt wieder in der Einzelzelle und schreibe diese meine Lebensgeschichte, dessen Schluß, d.h. alles was mit meiner jetzigen Bestrafung in Verbindung steht, nicht in den Rahmen dieser Abhandlung gehört, sondern ein Bild für sich bildet, welches ich später schreiben werde.

Diese meine lange Lebensgeschichte, welche mich allein schon als einen Unglücklichen dokumentiert, falls das englische Sprichwort: »Happy the man, whose life – story is brief« auf Wahrheit beruht, schrieb ich nur, um eine der Hauptursachen aufzudecken, welche einen bestraften Menschen geradezu zum Rückfall zwingen.

Zwar muß ich zugeben: es gibt Hunderte von Verbrechern (der Abschaum der Menschheit), die gefühl-und herzlos, tiefer stehen als das niedrigste Tier, welche immer wieder die Freiheit erhalten, d.h. losgelassen werden wie wilde Tiere gegen alle, die Menschen sind, und alles, was menschlich heißt, anstatt sie durch Deportation vor die Alternative zu stellen: entweder sich bessern und ein arbeitsamer, gebesserter Mensch werden oder fern von allen ehrlichen Menschen sein Leben in Schande und bei harter Arbeit zu beschließen.

[121] Aber auch Hunderte gehen jährlich durch die Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit der Gesellschaft gegen die Gefallenen – gegen solche, die gerettet sein wollen, zugrunde.

Ich habe diese Unglücklichen kennen gelernt, welche, da sie mehrere Male mit dem Strafgesetz in Konflikt gerieten, in den Akten und Statistiken als unverbesserlich hingestellt wurden, doch nur den einen Wunsch hatten, wieder anständige Menschen zu werden; aber ihnen fehlte, wie so manchem einem schimpflichen Untergange geweihten Menschen, die richtige Leitung und eine passende Verwendung Man sollte solche Unglücklichen, welche gute Zeugnisse aus der Anstalt vorzeigen können, mit Liebe behandeln, ein wenig Vertrauen zu ihnen fassen, denn wer die Menschen wahrhaft kennt, der wird zwar auf niemanden unbedingt bauen, aber auch niemanden ganz und vollständig aufgeben. Man darf den Menschen nicht nach dem beurteilen, was er ist, sondern darnach, wie er es geworden ist, dann wird sich auch manche Härte in Milde verwandeln. Auch darf man denjenigen, der eine Sünde, ein Verbrechen begeht, nicht ohne weiteres für den allein Schuldigen halten. Man forsche nach der Vorgeschichte jeder solchen Tat. Welche Mengen von Sünden und Verbrechen hat die millionenköpfige Hydra, welche wir Gesellschaft nennen, auf dem Gewissen! Aber grade diese Gesellschaft sitzt mit wahrer Wonne zu Gerichte, wenn die Eiterbeule an einem einzelnen ihrer Glieder platzt! Mit welchem pharisäischen Gebahren, mit welchem abweisenden Nasenrümpfen, mit welcher Angst vor fernerer Berührung zieht man sich da von dem Unglücklichen zurück, der das Unglück hatte, daß die allgemeine Blutentmischung grad an seinem Leibe zum Ausbruch kam. –

Einen kranken Mann macht man doch nicht tot, sondern man macht ihn gesund, denn er hat ein ebenso heiliges Recht, zu leben, wie jeder andere. Man entziehe seinem Körper die Krankheitsstoffe, welche ihm schädlich sind und reiche ihm dagegen das Mittel, welches ihn heilt und wieder zu einem leistungsfähigen Menschen macht.

Aber der Staat, die Gesellschaft kümmert sich nicht um den Arbeitlosen, so lange dieser das Gesetz nicht übertritt. Dann aber bekommt er Alles: Wohnung, Kleidung, Kost, Arbeit, Arzt und Bibliothek etc., aber damit ist ihm auch das Brandmal der Schande unauslöschlich aufgedrückt. Der Makel der Bestrafung verfolgt den Unglücklichen von Ort zu Ort, durchs ganze Leben. Das Verbrechen bewältigen, heißt aber nicht, wie der Instinkt in der ersten Aufwallung über irgend eine böse Tat glauben machen möchte, sämtliche Verbrecher vernichten, d.h. zum primitiven jus talionis zurückkehren. [122] Das Verbrechen überwinden, heißt vielmehr, es verstehn, auf seine Motive zurückführen und die Quellen, aus denen diese Motive fließen, so weit es überhaupt möglich, verstopfen.

Die Gesellschaft, sollte sich endlich bequemen, endgültig mit den bestehenden Vorurteilen zu brechen und eine den wirklichen Sachverhältnissen Rechnung tragende Stellung einnehmen. Man muß sich überzeugen von der Tatsache, daß der Verbrecher kein Subjekt ist, das man mit allen Mitteln beseitigen muß, sondern daß man in ihm ein schwaches, schutzbedürftiges und schutzberechtigtes Wesen vor sich hat. Eine solche Anschauung aber legt den Starken die Verpflichtung auf, ihn mit allen Mitteln zu unterstützen, ihm die Hand zur Rettung zu reichen. Nicht durch Almosen, Geld, Kleidung, nein! eine solche äußerliche Hülfe genügt nicht. Man muß den Strafentlassenen vor Rückfall schützen, indem man ihm innerlich hilft, d.h. ihn nicht verachten, ihn nicht verletzend abweisen, sondern ihm Arbeit geben. Arbeit! dies ist die einzige Stütze, an der sich der Gefallene wieder aufrichten kann; durch die Arbeit lernt er sich wieder selbst achten, die Arbeit schützt ihn vor neuen Gefahren.

Aber so lange das Gros der Bevölkerung in dem entlassenen Sträfling nur den Gefallenen, den Gebrandmarkten sieht und an dem Irrtum festhält, man müsse den Verbrecher unschädlich machen, indem man ihn eliminiert und nicht aufhört, einem Menschen, der sich bessern will, Schwierigkeiten in den Weg zu legen, anstatt ihm darüber wegzuhelfen – solange wird es heißen:

In Deutschland werden 85% aller Strafanstaltsinsassen rückfällig! – – –[123]

1

4. S.J. von A., ehelich geboren 1874 prot., lediger Kaufmann. Nicht tätowiert. Vorstrafen seit 1892: einmal Haft und 7mal Gefängnis (in mehreren Anstalten) wegen Betrugs, Diebstahls, Erpressungsversuche, Beleidigung. Zuletzt wegen Zuhälterei 3 Jahre 9 Monate Gefängnis und Arbeitshaus. Buchmacher bei Rennen. Bewegte Vergangenhelt, Spieler und Zuhälter. Als Schreiber wiederholt beschäftigt in der Gefangenenbibliothek. Nierenleidend. Gute Führung. Wollte wieder in die Höhe kommen. Gute Volksschulbildung und ein paar Jahre bessere Bürgerschule.

Kriminalschutzmann.

2

Kriminalschutzmann.

3

Überzieher.

4

betteln.

5

Diebstahl.

6

Garderobe.

7

Hunger.

8

Gefängnis.

9

Zwangsarbeitshaus.

10

verhaftet.

11

Asyl in der Fröbelstraße.

12

Schlafgeld.

13

Wandern.

Quelle:
Jaeger, Johannes: Hinter Kerkermauern. Berlin 1906, S. 11-12,75-124.
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