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Freundliche Leser und Leserinnen! Durch den Religionsunterricht erfahren wir, daß wir sammt und sonders von Adam abstammen.

Es dauerte aber nicht lange, so wurde dem separatistischen Geiste des Menschen, der sich unter verschiedenen Erscheinungsarten als Ehrgeiz, Hochmuth, Eitelkeit, Speculation u.s.w. ausspricht, diese allgemeine Brüderschaft beschwerlich. Jeder, der irgend etwas geleistet hatte, wollte vor seinen Mitgebornen etwas voraus haben. Schon am Klange des Namens sollte man den ausgezeichneten Mann erkennen. Gut! Der thatengekrönte Ehrgeiz genieße diese Auszeichnung. Nun aber kamen die Nachkommen dieses Ausgezeichneten. »Was,« sagten sie, »wir sollen mit Hinz und Kunz von Adam abstammen? Nichts da! Wir haben unseren Stammvater ganz apart. Wir wollen auch etwas voraus haben; wir haben das Verdienst, die Nachkommen des Ausgezeichneten zu sein; die Mittelmäßigkeit fand es bequem, zu ernten, was ein Anderer gesäet hatte, und man begann mit dem Namen des berühmten Ahnherrn zu prunken, Andere über die Achsel anzusehen, weil man nichts Anderes zu thun vermochte und dieses Gewerbe war so dankbar, daß es an Nachahmern nicht fehlen konnte und bald in allgemeine Anwendung kam.«

Aber was hilft uns der Name? Man fordert von dem Namen mehr als von anderen. Man braucht eine prachtvolle[3] Wohnstätte, man muß in Sammt und Seide stolziren, man muß eine reiche Tafel haben, edle Weine trinken; ein Dienertroß muß dem großen Herrn folgen. Wer sollte das bezahlen? Man kam auf den sinnreichen Einfall, die namenlosen Schwachen zu beschützen, das Recht der Unterdrückten zu verfechten. Man ließ sich von den Schwachen und Unterdrückten eine sichere Burg auf unzugänglicher Berghöhe bauen und dafür hielt man die Wache über seine Schutzbefohlenen. Fremde, Kaufleute, ja ganze Städte u.s.w., die vor Dieben und Räubern sicher sein wollten, erhielten das Schutzgeleit des Burgherrn gegen einen angemessenen Tribut.

Aber dieser Tribut lohnte nicht der Mühe. Man verfiel auf den witzigen Gedanken, bei Jenen, die sich diesem Tribute nicht unterzogen, die Rolle der Räuber selbst zu übernehmen. Man war der Stärkere, man überfiel die Karawanen der Kaufleute, die Fuhrwerke der Bürger und Bauern und schleppte Hab und Gut derselben nach der festen Burg. Die Besitzer größerer Burgen stutzten. »Schau,« dachten sie, »wie die kleineren Burgen an Kaufleuten, Bürgern und Bauern thun, könnten ja wir an den kleineren Burgen thun.« Die kleinen Burgen wurden nach und nach in Ruinen gelegt und dafür entstanden starke, prachtvolle Schlösser im Lande und glänzende Paläste in sicheren Städten. Die Raubritter machten den Adelsgeschlechtern Platz.

Noch am Ende des Mittelalters soll in der ehemaligen gefürsteten Grafschaft Henneberg, im heutigen Thüringen, eine Familie geblüht haben, von der man jedoch nicht recht weiß, ob sie zu den ersteren oder zu den letzteren gehört habe.[4]

Die Herren von Ramm und wie Andere gar behaupten, die Grafen von Ramm, waren nach Ueberlieferungen wohlbegüterte Leute im Hennebergischen. Sie erfreuten sich ausgedehnten Grundbesitzes, wohnten in bequemen Schlössern, waren wohl gelitten von hohen Herren und Fürsten, und kräftige Kinder und Enkel schienen dem Geschlechte eine blühende Dauer bis in die spätesten Zeiten zu versprechen. Friede und Eintracht herrschte in der Familie Ramm.

Da schleuderte der Augustinermönch Martin Luther durch seinen Anschlag an die Kirchenthüre zu Wittenberg am 30. October 1517 jene Leuchte in die Welt, welche für anderthalb Jahrhunderte zur unauslöschlichen Brandfackel wurde, Staaten von Staaten, Völker von Völkern, Familien von Familien losriß. Der Riesengeist der Reformation erfüllte Deutschland und bald die ganze bekannte Erde; Liebe verkehrte sich in Haß, Duldung in Verfolgung und auf den flammenden Holzstößen hoffte man die Glaubensbekenntnisse der verruchten Ketzer im Opferrauche zu ersticken.

Auch die Familie Ramm wurde von den Folgen dieser Umwälzung ergriffen. Die evangelische Lehre fand in dem Haupte des einen Familienzweiges einen begeisterten Anhänger; mit seinem ganzen Hause wendete er sich den reformatorischen Glaubenssätzen zu und ein unheilbarer Riß zertheilte das Haus Ramm in unversöhnlicher Feindschaft.

Der katholisch verbliebene Zweig ging vielleicht mehr aus Habsucht als aus Glaubenseifer ohne Zaudern an das Werk der Verfolgung. Auf Grundlage der manifestirten Ketzerei wurden durch gesetzlichen Spruch die Güter der abgefallenen[5] Familie confiscirt und dem katholischen Familienhaupte zugesprochen.

Nachdem durch den Augsburger Religionsfrieden die evangelische Kirche anerkannt worden war, fing die beraubte Familie an, für die Rückerstattung der eingezogenen Güter sich zu verwenden. Mit den geringen Ueberresten ehemaligen Reichthumes versuchte die evangelische Familie ihre Rechte durch kostspielige Prozesse zur Geltung zu bringen; vergebens! Das Resultat war eine Bestätigung des Satzes: beati possidentes. Die katholische Familie blieb im unangefochtenen Besitz aller Ramm'schen Güter und der besiegte Theil mußte den Gewinn seines neuen Glaubens mit dem Verluste aller Existenzmittel bezahlen.

Am Bettelstabe verließen die Schwergeprüften ihre Wohnstätten und um doch das nackte Leben zu fristen, mußten sie sich zuletzt entschließen, gegen Taglohn Dienste zu leisten.

Die Goldlauter, ein Flüßchen in der ehemaligen Grafschaft Henneberg, soll noch heutzutage Spuren von Goldsand zeigen. In damaliger Zeit scheint diese Eigenschaft von großer Reichhaltigkeit gewesen zu sein, denn die Goldwäscherei wurde daselbst in ziemlicher Ausdehnung betrieben.

Das Schicksal, oder besser die herbe Noth, brachte denn die herabgekommene Familie zu dem Entschlusse, unter den Goldwäschern um das tägliche Brot zu arbeiten.

An den Stellen, wo nach Gold gesucht wurde, mußte natürlich das Wasser abgedämmt oder gestaut werden, und diese Arbeit nannte man: »Das Wasser anschützen.«

Nachdem die Mitglieder der Familie Ramm, welche zu[6] diesem äußersten Erwerbszweige greifen mußten, sich mehr und mehr an ihre armselige Beschäftigung gewöhnt hatten, kamen sie zu der ganz vernünftigen Betrachtung: »Was sollen wir noch ferner einen Namen herumschleppen, der uns keine Geltung verschafft und uns nur an unser Elend erinnert? Wir sind nichts als Anschützer und wollen auch fortan so heißen.«

Dies soll nach Familientraditionen der Ursprung unserer Familie und unseres Namens gewesen sein. An wirklicher Begründung fehlt es gänzlich und der einzige Zusammenhang dürfte darin zu suchen sein, daß in der That alle Anschütze, wenn sie ihrer Familie in eine frühere Zeit nachrechnen können, ihre Abkunft aus dem Hennebergischen ableiten.

Einzelne Mitglieder meiner Familie haben ihre adelige Abkunft stets mit großer Vorliebe behandelt und durchaus die Wahrheit dieser Ueberlieferungen vertreten.

Ich habe stets die natürlichste Lösung darin gesucht, daß wie an vielen Orten und zu allen Zeiten die Hantirungen der Menschen endlich als Bezeichnung der Individuen galten und daß sich die ehrlichen Arbeiter an der Goldlauter nach und nach auch in der Fremde N. N., vulgo Anschütz, nannten.

Auch muß ich aufrichtig gestehen, daß es mir gar nicht der Mühe werth schien, dem Grund oder Ungrund dieser Traditionen nachzuforschen. Ich dachte stets, ich bin einmal da, ich heiße Anschütz und wird einmal was Rechtes aus mir, so klingt der Name Anschütz viel besser als Ramm, mögen nun meine Vorväter Herren und Grafen, oder Deichgräber und Goldwäscher gewesen sein. Es ist mir gelungen, daß für das,[7] was ich gewollt und gestrebt habe, mein Name mit Achtung genannt wird, und so spreche ich mit der Familienchronik: »Ich bin Anschütz und will so heißen.«


Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 1,8.
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