2.


[8] Ich wurde am 8. Februar 1785 zu Luckau in der Niederlausitz geboren. Mein Vater, der in seiner Jugend sich dem Studium der Rechte, später aber dem Militärstande gewidmet hatte, erhielt zuletzt eine Friedensanstellung als Hausverwalter an dem Armen-und Waisenhause meiner Vaterstadt. Hier lernte er die Witwe seines Amtsvorgängers, Saalbach, kennen, mit der er sich im Jahre 1784 verehelichte und welche ihm einen Sohn aus erster Ehe zubrachte. Ich bin also der zweite Sohn meiner Mutter. Ich kam als Frühgeburt von acht Monaten zur Welt. Man war aus diesem Grunde lange für die Erhaltung meines Lebens besorgt und die vielen Kinderkrankheiten, denen ich schon im zartesten Alter unterworfen war, unterstützten diese Besorgniß. Die Folge hat jedoch diese Befürchtungen Lügen gestraft. Ich erholte mich, erstarkte, gedieh körperlich und kann sagen, daß ich nach Ueberstehung des Nervenfiebers in meinem siebzehnten Jahre, einige Unpäßlichkeiten und äußere Zufälligkeiten abgerechnet, mich bis in mein hohes Greisenalter einer ununterbrochenen und dauerhaften Gesundheit zu erfreuen hatte. Ich war ein aufgewecktes, mitunter muthwilliges Kind und, ganz im Gegensatze zu meinem späteren Leben, in hohem Grade mit dem Zerstörungstriebe begabt. Meine Mutter hat mir oft unter Lachen erzählt, wie sie mich am Christtage 1787, bitterlich weinend und mit[8] einem Spielzeuge der Christbescherung in der Hand, am Boden des Zimmers sitzend antraf, und daß ich auf ihre Frage, was mir begegnet sei, unter einem Strom von Thränen und mit von Schluchzen erstickter Stimme zur Antwort gab: »Das will gar nicht entzweigehen!«

Mein Vater war ein Mann von feiner Bildung, die Seele der gesellschaftlichen Zirkel der kleinen Stadt, und den schönen Künsten, vorzüglich der Musik, mit reinem Herzen ergeben. Er war selbst ein tüchtiger Orgelspieler und auf seine Veranlassung erhielt die Kirche der Anstalt, deren Vorsteher er war, eine neue große Orgel von beträchtlichem Werthe und das ganze Gotteshaus ein festlich schönes Ansehen. So wie die kirchliche, liebte er die dramatische Musik und vor allen großen Meistern, welche sich zur damaligen Zeit in diesem Fache auszeichneten, zollte er dem unsterblichen Mozart eine fast abgöttische Verehrung, die er auf seine ganze Familie und auf seine Freunde übertrug. In einer Stadt von kaum 4000 Einwohnern war freilich keine andere Gelegenheit, Mozart'sche Musik zu hören, als am Clavier. Für Executirungen im Style der Kammermusik fanden sich selbst Dilettantenkräfte eben so wenig wie für orchestrale oder Opern-Aufführungen; wie denn überhaupt dramatische Vorstellungen eine sehr seltene Erscheinung und wenn sie einmal vorkamen, durch herumziehende Wandergesellschaften höchst mangelhaft vertreten waren.

Ich führe diese Familienverhältnisse absichtlich an, weil diese Kunstrichtung meines Vaters, sowie seine Beziehungen zu Künstlern und Kunstfreunden, wovon später die Rede sein wird, wohl unstreitig den mächtigsten Einfluß darauf ausgeübt[9] haben, auch in mir die gleiche Neigung schon frühzeitig anzuregen und den Keim des in mir schlummernden Darstellungsvermögens zu Blüte und Frucht zu treiben.

Als ich ungefähr sechs Jahre alt war, kam die Authenriethische Schauspielergesellschaft nach Luckau und schlug ihr breternes Schaugerüst auf dem dortigen Rathhaussaale auf. Mir und meinem älteren Stiefbruder Saalbach war das Glück verkündet worden, der ersten Vorstellung beiwohnen zu dürfen. Endlich erschien der ersehnte Tag und die Stunden trugen für uns Blei an den Füßen, wie am Weihnachtstage, ehe die Bescherung stattfindet. Als wir Knaben Mittags den gewöhnlichen Weg von der Schule nach Hause machten, mußten wir am Rathhause vorbeigehen. Die alten, düsteren Mauern blickten uns so geheimnißvoll entgegen, daß wir der Neugierde nicht widerstehen konnten, in das Innere derselben vorzudringen. Wir stiegen die Treppe scheu hinauf; in dem langen Saale herrschte ein schauerliches Dunkel, denn alle Fenster waren bereits für die Zaubermärchen des Abends verhängt; nur in der Tiefe des Saales brannte melancholisch ein schwaches Licht und ließ uns bei seinem trüben Scheine wie durch Nebelschleier den Wunderbau erkennen. Es unterlag für unsere lebhafte Kinderphantasie nicht dem geringsten Zweifel, daß an einem so außerordentlichen Orte ganz Ungewöhnliches und Herrliches vorgehen müsse. Eben wollte der Vorwitz uns verlocken, die Bühne selbst zu durchforschen, als ein Mann, der im Saale die Wache hielt, uns hinauswies. Voll Ehrfurcht wichen wir vor dem Gewaltigen zurück und glücklich, wenigstens etwas von diesen Geheimnissen früher als Andere erlauscht zu[10] haben, eilten wir nach Hause. Als beim Mittagstische die Frage aufgeworfen wurde, ob man wohl von der Abendvorstellung etwas Erträgliches zu erwarten habe, winkten wir Brüder uns bedeutsam zu, als wollten wir sagen: »Na, wenn die wüßten, was wir wissen!«

Der unsäglich lange Nachmittag machte endlich der glückverheißenden Abendstunde Platz und mit pochendem Herzen in ängstlicher Erwartung betrachtete ich den Mann, der mit rother Farbe zierlich auf den Vorhang gemalt war, und der sich bei der leisesten Berührung in geheimnißvollen Wellen bewegte. Die gemüthliche und sehr vereinfachte Talgbeleuchtung schien mir den Zaubertempel in Strahlenglanz zu versetzen und es hätte nicht viel gebraucht, mir einzureden, daß Jeder, der dort erscheint, ein übernatürliches Wesen mit einem Scheine um den Kopf sein müsse. Der »Bürgermeister« von Brühl war es, womit die Bühne eröffnet wurde. Der Bürgermeister und seine Schreiber in ihren schwarzen Kleidern, großen Perrücken und langen, weißen Halsbinden hatten etwas Grauenerregen des für mich; was ich aber platterdings nicht begreifen konnte, war die Thatsache, daß man um acht Uhr Abends Kaffee trank, was nämlich in einer Scene dargestellt wurde. Sonst erinnere ich mich aber keines besonderen Eindruckes, den diese Vorstellung auf mein kindisches Gemüth gemacht hätte. Wir sahen nachher noch mehrere Vorstellungen, die aber alle bis auf die letzte Spur aus meinem Gedächtnisse geschwunden sind.

Um diese Zeit ergriff mich und meinen Bruder ein hartnäckiges Wechselfieber. Wir litten, wie begreiflich, häufig an Durst. Da man uns nach unserer Meinung nicht genug Wasser[11] zu trinken gab, so suchten wir unser Bedürfniß auf eine Art zu löschen, welche Entsetzen hätte hervorrufen müssen, wenn sie entdeckt worden wäre. Wir hatten nämlich ausgespürt, daß hinter dem großen Kachelofen eine mächtige Flasche mit Essig stand, welche die laufenden Küchenbedürfnisse bestreiten sollte. Mit wahrer Begierde fielen wir über das köstliche Naß her, um den lechzenden Gaumen zu erquicken. Daß der Abgang nicht bemerkt wurde und daß der Genuß des Getränkes keine nachtheiligen Folgen zurückließ, ist eben so erstaunlich, als daß uns ein eben so verzweifeltes Mittel, uns vor dem Fieberfroste zu schützen, nichts geschadet hat. Wenn uns der Frost überfiel, so suchten wir die Backstube zu gewinnen, und wenn wir uns unbewacht sahen, legten wir uns auf die Oberfläche des Backofens, schliefen gewöhnlich ein und erwachten in glühender Fieberhitze. Es ist ein wahres Wort: Kinder stehen in Gottes Hand.

Diesen Ereignissen reiht sich in meinem Gedächtnisse ein anderes an, welches zwar dem Leser gleichfalls sehr unbedeutend erscheinen wird, für mich aber von der größten Wichtigkeit war, denn auf dem Weihnachtstische des Jahres 1791 fand ich unter den Festgaben Christkindchens einen herrlichen, zierlichen – Zopf. Am ersten Feiertage wurde ich festlich gekleidet, mit dem Zopfe geschmückt, wohl frisirt, toupirt und gepudert und fühlte mich gar nicht gering, als ich so in den Straßen stolziren durfte. Die eigentlich practische Bedeutung des Zopfes wurde mir jedoch erst in der Schule beigebracht. Wenn sich unter uns Schulknaben Zwist erhob, so wurde der Zopf aus den Haaren gerissen, er wurde zum Schwerte, wir[12] prügelten uns damit und tumultuirten durch die Straßen. In einiger Entfernung von den respectiven Elternwohnungen hielt der Kämpfer an, der Zopf wurde so gut als möglich in aller Eile wieder eingeflochten und mit dem unbefangensten Gesichte betrat man das väterliche Haus.

Vielleicht auch sollte die Bekleidung mit dieser sinnreichen Manneszierde des vorigen Jahrhunderts für mich speciell andeuten, daß das Kind aufgehört und das Knabenalter begonnen habe, denn bald nach dieser Zeit war es, daß ich auf Anordnung meines Vaters zu meinem Hauslehrer in dessen Wohnung ziehen mußte. Die leitende Ansicht meines Vaters war, daß ein Knabe so bald als möglich aus der mütterlichen Erziehung kommen und lernen müsse, sich unter Fremden zu bewegen und Fremden zu gehorchen.

Mein Lehrer, der täglich in meiner Eltern Hause als Freund verkehrte, nahm mich daher jeden Abend mit in seine Wohnung, worin selbst ungünstige Witterung kaum eine Unterbrechung bewirkte. Vielmehr erinnere ich mich, daß mein Lehrer besonders bei Gewittern mich an das offene Fenster und bei mäßigem Regen sogar in den Garten oder auf die Straße führte, um mich mit dem großartigen Naturschauspiele vertraut zu machen. Ich kann dem wackeren Manne diese Maßregel nicht genug danken; ich habe dadurch die so vielen Menschen innewohnende Scheu vor Elementarereignissen nie empfunden und lernte solche Naturerscheinungen nur von ihrer wohlthuenden und erhebenden Seite schätzen.

Als ich das neunte Jahr zurückgelegt hatte, erhielt mein Vater einen Ruf nach Leipzig, um das dortige St. Georgenhaus[13] zu verwalten. Er reiste dahin, um diese Anstalt selbst in Augenschein zu nehmen und die dortigen Dienstverhältnisse näher zu prüfen.

Um diese Zeit war Mozart's »Zauberflöte« zuerst auf dem Leipziger Theater erschienen. Mein Vater wohnte einer Vorstellung bei und ganz erfüllt von der Vortrefflichkeit dieses herrlichen Werkes kam er zurück, brachte einige der vorzüglichsten Musikstücke im Clavierauszuge, sowie die sämmtlichen Costümezeichnungen dieser Oper mit.

Die Gesangstücke wurden fast jeden Abend, wenn die Familie und ein kleiner Zirkel von Freunden sich um das Clavier versammelt hatte, ausgeführt; die Figurinen, unter Glas und Rahmen gebracht, wurden an den Wänden aufgehängt und so der Enthusiasmus für dieses neue Werk des großen Meisters in Allen auf das Höchste gesteigert.


Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 8-14.
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