7.


[135] Durch York's Corps verstärkt, überschritten nun die Russen die preußische Grenze und in der zweiten Hälfte des Monats Jänner 1813 begann die Einschließung Danzigs durch den russischen General Lewis. Da der Verkehr mit der See durch die Engländer gesperrt war, so wurden die Einwohner durch das französische Militär-Gouvernement aufgefordert, in Voraussicht einer langwierigen Belagerung sich in umfassender Weise mit Lebensmitteln zu versehen.

So eilig dies auch angestrebt wurde, so konnte doch die Schwierigkeit der Ausführung um so weniger ausbleiben, als alle disponiblen Vorräthe an Früchten und Vieh von den Franzosen requirirt worden waren.

Anfangs Februar waren die Einwohner schon genöthigt, eine ausgiebige Befriedigung ihrer Bedürfnisse in der nächsten Umgebung Danzigs aufzusuchen, wobei man noch sehr vorsichtig zu Werke gehen mußte, wenn man das etwa Aufgetriebene nicht an die französischen Proviantmeister verlieren wollte.

Obgleich ich, wie Andere, mir bereits einigen Vorrath an Lebensmitteln verschafft hatte, so war doch das dringendste[135] Bedürfniß, nämlich eingesalzenes Pöckelfleisch, nur in geringstem Maße in meiner Küche vertreten.

Ich hatte jedoch in Erfahrung gebracht, daß ein Wirth am äußersten Ende der Vorstadt Langfuhr noch eine Anzahl jener nützlichen Geschöpfe besitze, deren Genuß den Hebräern durch veraltete Religionsgesetze verboten war, und daß der beneidenswerthe Herbergsvater geneigt sei, einige Stücke von seinem Reichthume gegen gute Bezahlung abzutreten.

Am 17. Februar 1813 begab ich mich, begleitet von meinen Collegen Lell und Pauli, einem jungen Kaufmanne, Götz, und dem Sohne unseres Theaterarztes, Duisburg, auf die Entdeckungsreise nach den ersehnten borstigen Freunden.

Mitten in der Hauptstraße der Vorstadt war eine Wagenburg aufgerichtet, um einem etwaigen Handstreiche der feindlichen Cavallerie zu begegnen. Hier stand auch der letzte französische Vorposten. Weil aber die eigentliche Belagerung noch nicht begonnen hatte, sondern die Russen, in Erwartung weiterer Streitkräfte, sich vorläufig damit begnügten, die Stadt zu beobachten und die Zufuhr zu sperren, so machte der französische Vorposten keine Schwierigkeit, uns selbst über die Barrikade den besten Weg zu zeigen.

Als wir nach dem Namen des Wirthes fragten, wurden wir belehrt, daß das bezeichnete Wirthshaus, eine einfache Schenke, schon außerhalb der Vorstadt liege. Wir gelangten endlich zu dem Wirthshause. Als wir uns der Eingangsthür näherten, bemerkten wir, daß dieselbe an vielen Stellen von Stichen spitziger Instrumente bedeckt war.[136]

»Das sieht ja aus wie Lanzenstiche,« meinte Einer aus der Gesellschaft.

»Doch nicht Kosakenpiken?« bemerkte ein Anderer.

»Kommen etwa die Kosaken bis hieher?« fragte ich den Wirth.

»O ja,« erwiederte derselbe ». es waren schon öfters welche da; es sind ganz traitable Leute. Wollen Sie welche sehen, so gehen Sie nur ein paar hundert Schritte vorwärts bis um die Kirchhofmauer.«

Diese Aussicht war für unsere Neugier zu reizend. Wir schlichen um die Mauer herum und sahen nun wirklich die berühmten und berüchtigten wilden Gäste in einer lang ausgedehnten Vorpostenkette herumstreifen. Ein Wagehals in der Gesellschaft, Kaufmann Götz, ging sogar auf den nächsten Steppensohn zu, und weil er etwas polnisch reden konnte, ließ er sich mit ihm in ein Gespräch ein. Als wir Andern sahen, daß sich die Conversation bis zum Händeschütteln vertraulich gestaltete, nahmen auch wir keinen Anstand, näherzukommen und desgleichen zu thun.

Wir waren von dem ersten Exemplar unserer Feinde ungemein erbaut. Wir nahmen den herzlichsten Abschied und wollten eben umdrehen, um nach dem Wirthshause zurückzukehren, als mit Windeseile ein Kosakenofficier über das Feld gesprengt kam und den Posten fragte, wer die Leute wären? die Antwort unseres Freundes Kosak: »Danzki,« erscholl plotzlich in unserem Rücken ein barbarisches »Stoi!«

Meine beiden Collegen hatten große Lust, als Erwiederung[137] auf dieses »guten Tag« Fersengeld zu nehmen. Aber ich beschwor sie, zu bleiben.

»Um Gottes willen, keine Widersetzlichkeit,« rief ich ihnen zu, »sonst könnten wir in der ausgiebigsten Manier Bekanntschaft mit dem Kantschu machen.«

Namentlich das erste: »Pascholl,« welches der Lieutenant dem Posten zukreischte, und wobei er auf uns deutete, ließ uns keinen Zweifel übrig, daß es dem Herrn Officier bitterer Ernst mit uns sei.

Der gutmüthige Kosak wollte sich für uns verwenden und bezeichnete uns, wie Götz verstand, als ganz unbedenkliche »gute Danzki«.

Nun aber machte sich der Officier mit einem unverkennbaren Fluch gegen seinen Untergebenen Luft, ein zweites »Pascholl« donnerte uns entgegen, worauf dann unser Kosak mit einem Achselzucken die Lanze einlegte und uns mit dieser beredten Pantomime bedeutete, wir sollten vorangehen.

Wir waren also Gefangene!

Wir trösteten uns nun damit, daß wir schon noch raisonnable Leute finden würden, die uns weiterziehen lassen.

Wir wurden einem nächsten Posten übergeben und merkten nun, daß man mit uns den Weg nach Kloster Oliva einschlug. Das war schon bedenklicher, weil es uns von Danzig entfernte.

Bei dem nächsten Commando trafen wir auf einen Officier, der deutsch sprach. Er erkundigte sich nach unserem Unfall und da ihm unser Bericht ganz unverfänglich schien, so meinte er, der Herr Vorposten-Commandant, General ***,[138] werde kaum eine Schwierigkeit machen, uns wieder los zu geben.

Ich nahm das Wort und erwiederte: »Das müßte aber gleich geschehen, denn wenn wir nicht bis zum Thorschlusse in Danzig eintreffen, so könnte es gar nicht mehr geschehen. Kommen wir morgen zurück, so gelten wir bei den Franzosen unbedingt für Ueberläufer und Spione und man gibt uns ohne alle Umstände einige schwarze Pillen zu kosten.«

»Ich will es dem General sogleich anzeigen. Warten Sie dort am Bivouak.«

Er sprach einige Worte mit den lagernden Soldaten und diese, voll Respect gegen Leute, mit denen ein Officier höflich geredet hatte, machten sogleich Miene, ihr Strohlager mit uns zu theilen. Vor dieser Gastfreundschaft schauderten wir aber begreiflicherweise zurück und hielten uns in möglichster Entfernung von der freundlichen Gesellschaft.

Nun kehrte der Officier zurück; sein Gesicht war ernst und niedergeschlagen.

»Meine Herren,« sagte er, »ich bedaure Sie, aber leider will der Herr General von einer Rückkehr nach Danzig nichts wissen. Das Einzige, was ich Ihnen rathen kann, ist, daß Sie Ihr Heil selbst bei ihm versuchen. Vielleicht wirkt Ihr Erscheinen und Ihr eigener Vortrag mehr als die Worte eines Vermittlers.«

Wir zogen das sehr in Zweifel, mußten aber natürlich den Versuch wagen. Wir wurden eingeführt und schöpften einige Hoffnung, als wir den General im Gespräche mit einem Herrn von Schwarz fanden, einem Gutsbesitzer bei Danzig,[139] dem wir bekannt waren, und der uns auf das Wärmste in Schutz zu nehmen suchte. Sogar der Abt vom Kloster Oliva, ein geborener Hohenzollern, der anwesend war, verwendete sich für uns, doch vergebens!

Der General versetzte: »Es thut mir leid, weder der Bitte dieser Herren noch der Verwendung für dieselben Gehör schenken zu können. Meine Instructionen sind streng und gemessen. Ich muß bei Gefahr meines Kopfes jeden Danziger nach Wojanow in das Hauptquartier Sr. Excellenz des Herrn Generals Lewis senden.«

Wir konnten nunmehr unsere Bestürzung nicht verbergen. Herr von Schwarz sprach uns freundlichst Muth ein und wendete sich an mich mit den Worten: »Wenn Sie in das Hauptquartier kommen, so bestellen Sie Sr. Excellenz dem Herrn General Lewis, der mich persönlich kennt, eine Empfehlung von mir und theilen Sie ihm mit, daß ich selbst morgen nachfolgen werde, um die ganze Angelegenheit von dem richtigen Standpuncte mit ihm zu besprechen.«

Auf den frühen Winter, der Napoleons kriegerische Heuschreckenschwärme vernichtet hatte, folgte zeitiges Thauwetter. Es rieselte sein, theils Schnee, theils Regen, theils Nebel. Wir waren bekleidet, wie man es eben für einen kurzen Spaziergang zu thun pflegt. Wir baten daher wenigstens um einen Wagen. Aber nicht ein einziger war für uns aufzutreiben, denn alles Fuhrwerk wurde zum Gebrauche des Militärs in Anspruch genommen.

»Freunde,« hieß es, »hier hilft kein Sperren, Augen zu und frisch darauf los!«[140]

Wir wurden nun von unserem freundlichen Fürsprecher einem Piket Kosaken übergeben, die das mitleidwerthe Quinquevirat zwischen ihre Pferde nahmen und uns aufforderten, durch Dick und Dünn mit ihnen zu waten und zu traben.

Wir hatten uns noch nicht weit vom Kloster Oliva entfernt, als unserem auffallenden Aufzuge ein russischer Oberst begegnete, ein Ur-Moskowiter, aber eine prächtige, dralle Soldatennatur. Als er erfuhr, was es mit uns für eine Bewandtniß habe, fluchte er in recht ausgiebiger Weise über die Schwerfälligkeit des Vorpostencommandanten, der nichts verstehe als harmlose Leute zu belästigen, und forderte unsere Kosaken auf, uns vorläufig nach seinem eigenen Quartier zu escortiren und dort zu belassen, bis ein Fuhrwerk für uns beschafft werden könne.

Wir machten die unangenehme Erfahrung, daß dieses Quartier sehr weit aus dem Wege gelegen war, und hatten unterwegs volle Muße, unseren Gedanken nachzuhängen.

Mich beschäftigte natürlich in der peinlichsten Weise die Sorge um meine Familie, die ich in gänzlicher Hilflosigkeit und ohne jede Nachricht zurücklassen mußte, und ich fand nun Gelegenheit genug, meinen Vorwitz zu beklagen, daß ich meinen wagehalsigen Begleitern gefolgt war. Eine schwangere Frau, zwei unmündige Kinder und eine Dienstmagd sollten nun allein allen Drangsalen einer langwierigen Belagerung preisgegeben sein ohne männlichen Schutz. Es war eine Vorstellung so niederschlagender Art, daß ich es unseren Touristenerlebnissen nicht genug Dank wußte, die uns alle Augenblicke über die Unfälle dieses oder jenes Unglücksgefährten lachen machten.[141] Bald blieb der, bald jener stecken und umarmte wohl sogar, wie weiland Brutus der Aeltere, die geliebte Mutter Erde, deren weiter Schooß gar nicht zum Ausruhen einlud. Wenn wir im Tempo nachzulassen anfingen, munterte uns die Sicherheitsgarde mit deutlichen Geberden zum »Allegro« auf.

Am Quartier unseres barmherzigen Obersten machten wir Halt und durften verschnaufen. Zwei Kosaken gingen auf Wagenentdeckungen aus und diesen unermüdlichen Forschern nach allen irdischen Schätzen gelang es denn auch wirklich ein dürftiges Gefährte aufzutreiben, welches mit Mühe uns fünf Schicksalsbrüder aufnahm. Die Kosaken nahmen uns wieder in ihre beschirmende Mitte und nachdem ihnen eingeschärft worden war, den Kutscher allsogleich niederzustechen, wenn er Miene machen sollte, sich den französischen Vorposten zu nähern, oder sonst von der vorgeschriebenen Straße abzuweichen, ging es über Stock und Stein in die Abenddämmerung hinein.

Spät Abends kamen wir endlich zu einem jener schmucken Wirthshäuser, welche in diesem Vaterlande der Karschuben den Wanderer mit beredter Miene auffordern, lieber draußen zu bleiben auf öder Haide und wie König Lear die Elemente anzuklagen, als das bedenkliche Gastrecht in Anspruch zu nehmen. Aber da half kein Zieren. Unsere Begleiter stiegen ab, um Nachtquartier zu machen und luden uns pantomimisch ein gefälligst einzutreten.

Ein dunkler Raum nahm uns auf, dessen Lichtmangel uns vielleicht aus Mitleid den vollen Genuß des Obdaches verbergen wollte, den desto unverkümmerter die Nase einsog; wie denn überhaupt, wenn ein Sinn gehemmt ist, die übrigen[142] ihre Thätigkeit verdoppeln. Ein Mischgeruch von Rauch, altem Fette, Zwiebeln und anderen unnennbaren Ingredienzien strömte uns entgegen. Bald sollte auch das Ohr seinen Theil erhalten. Ein wohlbekanntes Grunzen wurde vernehmbar und munterte uns auf, auch das Auge zur Erforschung der Umgebung anzustrengen. Die Wirthsleute schienen sich in ihrer häuslichen Einrichtung an die Worte Thekla's gehalten zu haben: »Der einz'ge Fleck ist mir die ganze Erde.«

Der Raum, welcher das Gastzimmer vorstellte, war zugleich Schlafstelle, Küche, Hühnerhof und Schweinstall, denn in einem Winkel hatte eine recht stattliche Sau unlängst Junge geworfen.

Die Wirthsleute, welche schon Nacht gemacht hatten, wurden von den Kosaken herausgetrommelt, das liebe Vieh herausgejagt, zu beiden Seiten des Ehebettes Stroh aufgeschüttet und hiermit war die Lagerstätte geschaffen, auf der einen für uns, auf der anderen Seite für die Kosaken.

Bald prasselte ein Feuer im Camine, wodurch die Scene etwas deutlicher beleuchtet wurde.

Einer unserer Kosaken empfand das bei diesem kriegerischen Volke seltene Bedürfniß, Toilette zu machen. Er fing an sich auszuschälen. Unter dem weiten Winterrocke kam ein Civilrock, dann ein Weibershawl oder dergleichen, ferner eine französische Officiersuniform u.s.w. zum Vorschein. Kurz er hatte vier bis fünf Kleidungsstücke über einander und trug die Beute, welche er auf den Feldern Rußlands aufgebracht hatte, vollständig bei sich. Endlich entledigte er sich auch des Hemdes und schüttelte dasselbe über den Kaminflammen aus, aus welchen[143] sich ein seltsames Knistern erhob. Schaudern erfüllte unsere menschlich fühlenden Herzen und unwillkürlich drückten wir uns in den äußersten Winkel des Zimmers zurück. Die wohlthätige Natur milderte endlich diese Eindrücke, denn ungeachtet allen Grausens und aller Besorgniß für unser Schicksal versenkte uns die Erschöpfung in einen todtenähnlichen Schlaf.

Glücklich fühlten wir uns, als unsere unfreiwilligen Beschützer uns mit der Morgendämmerung weckten und sich wieder zum Aufbruche anschickten. Als wir wieder unter freiem Himmel waren, athmeten wir tief auf.

Nachmittags gegen 3 Uhr langten wir endlich in Wojanow an.

Als wir auf dem Wege zum Hauptquartiere, das sich auf dem Schlosse eines Herrn von Tiedemann befand, durch die langen Reihen russischer Soldaten fuhren, hörten wir von verschiedenen Seiten die tröstlichen Ausrufe: »Ah, Spioni! Spioni!« Wir saßen wie arme Sünder auf unserem Karren und ich machte mich so ernsthaft auf das Aeußerste gefaßt, daß ich mir bereits vornahm, bei der Execution um die Begünstigung zu bitten, man möge mich durch den Hinterkopf schießen, wie ich es einmal in Nürnberg nach dem Kriegsjahre 1809 mit angesehen hatte.

Unter dem Thorbogen des Schlosses erwartete uns General Lewis und nahm dem Escorteführer den Rapport über uns ab.

»Also Danziger?« war seine kurze Bemerkung.[144]

Ich nahm das Wort: »Eure Excellenz, der Gutsbesitzer Herr von Schwarz hat mir erlaubt, eine Empfehlung von ihm zu melden. Er wird selbst erscheinen, um Euer Excellenz über das seltsame Abenteuer die geeignete Auskunft zu erstatten.«

»Herr von Schwarz? So! so! Nun wohl, bis nach seiner Ankunft will ich mit der Untersuchung Ihrer Angelegenheit warten. Treten Sie einstweilen hier in meine Kanzlei.«

Wir wurden in die Militärkanzlei geführt, wo russische Officiere und Soldaten bei der Arbeit saßen. Als die ersteren erfuhren, daß Schauspieler unter uns wären, so meinten sie:

»Schauspieler? Prächtig! warum haben Sie denn nicht auch die Actricen mitgebracht, so könnten wir das Donauweibchen aufführen!«

Nun erschien der Herr des Hauses, Herr von Tiedemann.

»Wer unter Ihnen ist Herr Anschütz?« fragte er.

Ich trat vor.

»Ich habe dem Herrn General eröffnet, daß Sie ein Schauspieler von Ruf sind. Er stellt die Möglichkeit nicht in Abrede, daß hier ein unangenehmer Zufall obwalten könne und hat mir erlaubt, etwas zu Ihrer Erleichterung beizutragen. Wer ist der junge Herr Duisburg?«

Der Gerufene näherte sich.

»Ich kenne Ihren Herrn Vater und habe sogleich ein medicinisches Werk desselben Seiner Excellenz zur Einsicht vorgelegt. Womit kann ich den Herren dienen?«

»Mein Herr,« antwortete ich, »verschaffen Sie uns etwas Essen, denn wir haben außer einer schlechten Morgensuppe[145] heute noch nichts genossen und sind seit gestern Nachmittag unter Weges.«

»Schlimm,« versetzte Herr von Tiedemann, »es ist schon abgespeist. Sie müssen sich für den Augenblick mit den Ueberresten begnügen.«

Diese wurden uns gebracht und erschienen uns wie ein Klosterschmaus.

Kaum waren wir gesättigt, so hob sich auch der gesunkene Muth der Leidensgesellschaft. Ein Freudenschrei aber wurde laut, als man uns die Nachricht brachte, daß soeben Herr von Schwarz bei General Lewis vorgefahren sei. Er wurde sogleich gemeldet und vorgelassen. Seine einfache und eindringliche Auseinandersetzung in Uebereinstimmung mit manchen anderen Umständen, die zu unseren Gunsten sprachen, hatte den besten Erfolg.

Eine Ordonnanz erschien und kündigte uns das Ende unserer Hast an. Bald darauf besuchte uns Herr von Schwarz und meldete, daß alle Gefahr verschwunden sei. Mit dankbarem Jubel umringten wir ihn, zerdrückten ihm die Hände und er schloß uns gerührt in die Arme.

Abends speisten wir bereits als freie Männer und als Gäste des Herrn von Tiedemann an der Officierstafel.

Das Officierscorps bestand zumeist aus Deutschen und hatte der Garnison von Riga angehört. Da die Herren bereits wußten, daß drei Schauspieler zugegen seien, wurden wir sogleich aufgefordert, Vorträge zum Besten zu geben. Es wurde bis spät in die Nacht declamirt, gescherzt, gelacht und gezecht.[146]

Die Officiere wollten uns durchaus für Riga gewinnen und riethen uns, Pässe dahin zu nehmen.

In der Kanzlei hatte man uns ein sehr gutes Strohlager hergerichtet und mit entlasteten Herzen schliefen wir einen tiefen und erquickenden Schlaf.

General Lewis war ein einsichtsvoller Mann. Von unserem edlen Beschützer, Herrn von Schwarz, über unsere Personen und unsere Absichten vollständig beruhigt, beklagte er mit Aufrichtigkeit unser Mißgeschick und hatte die Liebenswürdigkeit, unsertwegen einen Parlamentär nach Danzig zu schicken, der unsere Briefe an unsere respectiven Angehörigen abgeben und die Anfrage stellen sollte, ob man uns Wäsche und Kleider verabfolgen würde.

Bis die Antwort gekommen und unsere Weiterreise ermöglicht sein würde, nahm uns Herr von Tiedemann in eigene Verpflegung.

Der Parlamentär kam zurück. General Rapp ließ in ziemlich rauher Weise antworten, er habe zwar aus Rücksicht für Seine Excellenz die Briefe an die Adressen befördert, eine Ausfolgung von Effecten könne aber nicht stattfinden an Elende, die ihr eigenes Vaterland verrathen wollten.

Mit diesen echt französischen Ansichten von den Vaterlandspflichten eines Deutschen hatten wir nunmehr unseren Bescheid und konnten unserer Wege gehen. Aber wohin? Mit Ausnahme des jungen Duisburg, den Herr von Schwarz mit sich zurücknahm und bis nach der Uebergabe Danzigs auf seinem Gute behielt, entschieden wir uns sämmtlich für Königsberg[147] und man folgte uns im russischen Hauptquartiere die Pä sse dahin ohne Anstand aus.

Da wir sehr wenig Geld bei uns hatten, half uns Götz, der hier Credit fand, mit einigem aus.

Wir nahmen von Herrn von Schwarz und Tiedemann dankbaren Abschied und auf einem leeren Proviantwagen, der nach Dirschau ging, um Ladung einzunehmen, fuhren wir nach drei denkwürdigen Tagen aus den russischen Operationslinien hinweg.

Von Dirschau bis Marienburg konnten wir zum Glück auf einer Retourchaise als blinde Passagiere durch die Niederung fahren. Der aufgeweichte Lehmboden hinderte fast jeden Tritt der Pferde und jedes Herausziehen der Hufe zog einen Knall nach sich, als ob eine Pistole losgeschossen würde.

Was aber von Marienburg weiter? Zufällige Gelegenheiten fanden wir nicht und das Geld reichte zum Fahren nicht aus. Also zu Fuße! In dem grundlosen Erdreiche!

Als wir bis Elbing gekommen waren, war unsere Chaussure schon von so bedenklicher Lückenhaftigkeit, daß wir die Stiefel von innen mit Stroh ausfüllten, um uns einigermaßen vor der Nässe zu schützen. Auch hatte uns das Ungemach schon so gleichgiltig gemacht, daß wir einer Pfütze von größerer Ausdehnung nicht mehr auswichen, weil wir den Umweg ersparen wollten. Dabei litten wir nicht unbedeutend an der lästigen Einquartierung, die uns die intime Bekanntschaft mit Kosaken und Lagerleben als Erinnerung zurückgelassen hatte.[148]

Von Elbing an kamen wir endlich wieder in civilisirtere Gegenden. Um aber den Kelch des Leidens uns völlig leeren zu lassen, übergoß uns das tückische Schicksal eine Stunde vor Königsberg noch mit einem strömenden Regen, daß wir bis auf die Knochen durchnäßt und triefend im Gasthofe ankamen. Ich nahm sogleich ein Bad und legte mich dann zu Bette, um mich zu durchwärmen und vor weiteren Folgen der gehabten Strapazen zu bewahren. Vom Bette aus schrieb ich an meinen Freund Möller, der mir mit Wäsche, Kleidern und Geld zu Hilfe eilte.

Große Herzlichkeit, wahre Theilnahme und offene Arme erwarteten mich hier. Ich und Pauli traten schon am anderen Morgen in Engagement und wenige Tage nach meiner zweiten Ankunft begann ich wieder meine schauspielerische Thätigkeit in Königsberg.

Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 135-149.
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