Elftes Kapitel

Die erste sozialdemokratische Frauenkonferenz in Mainz

[79] Trotz der eifrigen Agitationsarbeit der Genossinnen entsprach der Erfolg in vieler Hinsicht nicht der aufgewendeten Kraft und Mühe. Die Versammlungen waren oft überfüllt – und man ging wieder auseinander. Die Sonderpflichten der Frau in der Familie, Kindererziehung und Erwerbsarbeit, der sehr lange Arbeitstag – elf Stunden und darüber – erklären vieles. Aber es mußten doch Mittel und Wege gefunden werden, um die Agitation zu einer dauernd fruchtbringenden zu gestalten. Eine größere Einheitlichkeit und Planmäßigkeit sowohl als eine engere Verbindung zwischen den Genossinnen der einzelnen Orte und Bezirke, wie auch mit der Vertrauensperson in Berlin, aber auch mit der allgemeinen Parteibewegung mußte erstrebt werden.

Zu diesem Zweck hielten die Berliner Genossinnen gelegentlich der Anwesenheit der Genossin Zetkin mit dieser eine Besprechung ab, deren Ergebnis der Plan war, vor dem Mainzer Parteitag im September eine Konferenz der Genossinnen Deutschlands im größeren Rahmen zu veranstalten.

Dieser Plan wurde in der »Gleichheit« zur Diskussion gestellt und fand überall Zustimmung. Von der für die Vorarbeiten eingesetzten Kommission wurde dann als Termin für diese erste sozialdemokratische Frauenkonferenz der 15. September 1900 – also unmittelbar vor dem Parteitag – festgesetzt, damit etwaige Beschlüsse dem Parteitag noch als Anträge vorgelegt werden konnten. Ich hatte dann, als Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands, die Konferenz einzuberufen und zur Stellung von Anträgen aufzufordern. Es liefen denn auch eine ganze Reihe von Anträgen zu den verschiedenen Punkten der Tagesordnung ein.

Delegiert waren 16 Genossinnen und 4 Genossen. Außerdem nahmen etwa 12 Genossen, auch aus dem Auslande, an den Beratungen teil.[80] Die hessische Regierung hatte die Assistentin der Fabrikinspektion in Mainz, ein Fräulein Schumann, zur Teilnahme beauftragt.

In drei erfolgreich und gut verlaufenen Sitzungen erledigte die Konferenz ihre Tagesordnung. Diese war in der folgenden, von der vorbereiteten kleinen Kommission vorgeschlagenen Fassung angenommen worden:


1. Der Ausbau des Systems der Vertrauenspersonen.

2. a) Die Agitation unter dem weiblichen Proletariat.

b) Die Agitation für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz.

3. Bildungsvereine für Frauen und Mädchen.

4. Allgemeines.


Das Ergebnis ist in einer Reihe von Beschlüssen und Resolutionen festgelegt, die wichtig genug sind, im Wortlaut festgehalten zu werden. Zu dem ersten Punkt der Tagesordnung wurden für die örtlichen, die Kreisvertrauenspersonen sowie für die Zentralvertrauensperson der Genossinnen Deutschlands die folgenden Regulative beschlossen, die ganz klar ihre Pflichten und ihre Befugnisse festlegen:


1. Für die örtlichen Vertrauenspersonen:

§ 1. In jeder größeren Stadt haben die Genossinnen nach voraufgegangener Besprechung mit den Genossen eine weibliche Vertreterin zu wählen, welche am Ort die Agitation und die Heranziehung des weiblichen Proletariats zur modernen Arbeiterbewegung planmäßig betreibt.

§ 2. Die Wahl muß in öffentlicher Frauenversammlung stattfinden. Die Vertrauenspersonen werden auf die Dauer eines Jahres gewählt und sind wieder wählbar.

§ 3. Die Vertrauenspersonen der einzelnen Orte eines Bezirks haben miteinander, mit der Vertrauensperson des Hauptortes und der Vertrauensperson für ganz Deutschland stets Fühlung zu halten und jährlich mindestens einmal zu einer gemeinsamen Besprechung zusammenzutreten.

§ 4. Des weiteren haben sie dafür zu sorgen, daß die Forderungen der proletarischen Frauen und Mädchen auf allen Gebieten des sozialen Lebens mit Nachdruck vertreten werden. Sie müssen darauf hinwirken, daß das weibliche Proletariat an allen Kämpfen und Aufgaben seiner Klasse teilnimmt, und daß den Interessen und Bestrebungen[81] der Proletarierinnen moralische und materielle Unterstützung seitens der organisierten Arbeiterschaft zuteil wird.


Das soll erreicht werden, indem die Vertrauenspersonen

a) Versammlungen veranstalten, in denen allgemein wirtschaftliche und politische Fragen behandelt werden. Versammlungen, in denen die proletarischen Frauen vom Standpunkt ihrer Interessen aus Stellung zu den auftauchenden Tagesfragen sowie zu allen Kämpfen der Arbeiterklasse nehmen; Versammlungen, die dem Kampf für die Forderungen dienen, welche die Proletarierinnen stellen in ihrer Eigenschaft als Glieder der ausgebeuteten und unterdrückten Arbeiterklasse und als Angehörige des sozial unfreien weiblichen Geschlechts;

b) für die Herausgabe und Verbreitung zweckentsprechender, leichtfaßlicher Broschüren und Flugblätter sorgen;

c) darauf hinwirken, daß die lokale Arbeiterpresse die Aufklärung des weiblichen Proletariats mit dem gebührenden Nachdruck fördert und mit aller Energie für seine Interessen sowie für die Bestrebungen der Genossinnen eintritt;

d) Anknüpfungspunkte suchen für die Agitation und Organisation unter den Massen der Industriearbeiterinnen durch solche Mittel und Wege, welche nach den lokalen Umständen als praktisch erscheinen;

e) Material über die Lage der Arbeiterinnen sammeln;

f) für die Aufbringung materieller Mittel sorgen, welche für vorstehende Zwecke verwendet werden.


2. Für die Kreisvertrauenspersonen:

Die Kreisvertrauensperson muß alle Jahre einen Situations- und Tätigkeitsbericht für den ganzen Kreis einsenden.

Die Vertrauensperson des Hauptortes eines Bezirks hat die Beziehungen zwischend den Vertrauenspersonen der einzelnen Orte in die Wege zu leiten und eventuell zu vermitteln, sowie eine stete Verbindung mit der Vertrauensperson der Genossinnen für ganz Deutschland zu unterhalten. Letzterer muß sie alle sechs Monate einen Situations- und Tätigkeitsbericht für den ganzen Bezirk einsenden, der in der »Gleichheit« veröffentlicht wird.
[82]

3. Für die Zentralvertrauensperson:

§ 1. Der Sitz der Zentralvertrauensperson ist Berlin.

Die Wahl derselben findet auf der Konferenz statt.

Die Berliner Genossinnen wählen eine Revisionskommission, bestehend aus drei Genossinnen.

Vierteljährlich muß ein Revisionsbericht in der »Gleichheit« veröffentlicht werden.

§ 2. Die Zentralvertrauensperson hat dafür zu sorgen, daß die auf der Konferenz gefaßten Beschlüsse zur Ausführung kommen.

Sie hat im Sinne der oben angeführten Gesichtspunkte dafür zu wirken, daß die Agitation in ganz Deutschland einheitlich und kräftig betrieben wird.

Ihr liegt es ob, durch Wort und Schrift eine systematische Agitations- und Organisationsarbeit der Genossinnen in Orten und Gegenden anzubahnen und zu sichern, wo bisher die proletarischen Frauen und Mädchen dem Kampf für die Befreiung ihrer Klasse und ihres Geschlechtes verständnislos gegenüberstanden. Sie hat des weiteren für die Einheitlichkeit der Aktionen zu sorgen, durch welche die Genossinnen im ganzen Reiche den Kampf für diejenigen ihrer Forderungen führen, welche jeweilig in den Vordergrund geschoben werden.

Ein Hauptaugenmerk hat sie der Herausgabe geeigneter Flugblätter zuzuwenden, die der allgemeinen Agitation oder der Aufklärung über besondere Forderungen und Fragen dienen. Was Inhalt, Fassung und Ausgestaltung der Flugblätter anbetrifft, so hat sie tunlichst die Anforderungen und Wünsche zu berücksichtigen, welche von den Vertrauensleuten im Lande geäußert werden.

Die Vertrauensperson der Genossinnen in ganz Deutschland hat auf Grund der ihr zugehenden Einzelberichte jährlich einen Gesamtbericht auszuarbeiten, welcher in der »Gleichheit« veröffentlicht und in den Tätigkeitsbericht des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei aufgenommen wird.

§ 3. Publikationsorgan ist die »Gleichheit«. Dieselbe wird den Vertrauenspersonen gratis zur Verfügung gestellt.

§ 4. Das beschlossene Regulativ ist in Druck zu geben und allen Vertrauenspersonen zur besseren Orientierung zu übersenden.

Die Stellungnahme der Frauenkonferenz zu den weiteren Punkten der Tagesordnung ist in den folgenden Beschlüssen gekennzeichnet:

1. Zur Agitation unter den Arbeiterinnen sind, wie es schon der Parteitag[83] zu Gotha beschlossen, in bestimmten Zwischenräumen kurze, populär gehaltene Flugblätter herauszugeben, welche in knapper, kräftiger Darstellung einzelne Seiten der Arbeiterinneninteressen und der Frauenfrage behandeln (Lohnfrage, Arbeitszeit, Überstundenarbeit, sanitäre Bedingungen, gesetzlicher Schutz, Gewerkschaftsorganisation, Gewerbegerichte, Krankenversicherung usw.). Diese Flugblätter sollen die Form kleiner Broschüren erhalten, auf gutem Papier gedruckt und geschmackvoll ausgestattet werden. Mit ihrer Herausgabe wird eine Kommission betraut, die aus 5 Gliedern besteht und die von den Berliner Genossinnen gewählt wird.

2. Der Parteitag möge aussprechen, daß den Leitern der Arbeiterblätter aufgegeben wird, mehr wie bisher in den Ausführungen auf die Interessen der Arbeiterinnen Rücksicht zu nehmen, wie es von einigen Blättern bereits geschieht.

3. Als Mindestmaß an gesetzlichem Schutz für die proletarische Frau als Mutter ist zu fordern: Aufrechterhaltung der bereits gesetzlich festgelegten Schutzzeit für erwerbstätige Schwangere und Wöchnerinnen von 4 Wochen vor und 6 Wochen nach der Geburt; Beseitigung der Ausnahmebewilligungen zu früherer Wiederaufnahme der Arbeit auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses; Erhöhung des Krankengeldes auf die volle Höhe des durchschnittlichen Tagelohnes; obligatorische Ausdehnung der Krankenunterstützung der Wöchnerinnen auf die Frauen der Mitglieder.

4. Die Konferenz spricht ihre Sympathie aus für die Gründung von Frauenbildungsvereinen an solchen Orten, wo die Kräfte für die Leitung vorhanden sind. Wenn solche Vereine durch Belehrung erreichen, daß die Hausfrauen besser aufgeklärte Kindererzieherinnen werden, wenn sie das Solidaritätsgefühl der Frauen wecken, so haben sie ihre Aufgabe voll erfüllt.

5. Die ebenso notwendige als schwierige gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterinnen ist mit allem Nachdruck zu fördern. In Verbindung mit der Generalkommission und den Gewerkschaften haben die Genossinnen nach praktischen Mitteln und Wegen zu suchen, um die weiblichen Mitglieder der Gewerkschaften zu regerer Mitarbeit innerhalb der Organisation, insbesondere aber zur Leistung der erforderlichen, so hochbedeutsamen Kleinarbeit heranzuziehen.

6. In Erwägung, daß in Anhalt, Bayern, Braunschweig, Lippe, Preußen und den beiden Reuß nach den Bestimmungen der Vereinsgesetze[84] den Frauen die Teilnahme an den politischen Vereinen untersagt ist und deshalb die Frauen in diesen Bundesstaaten von der Teilnahme an der politischen Tätigkeit ausgeschlossen sind, sofern sich diese, nach Aufhebung der bisherigen Parteiorganisationen auf Grund des Systems der Vertrauenspersonen, auf die politischen Vereine allein erstreckt, beschließt der Parteitag: 1. in den Bundesstaaten, in welchen den Frauen die Teilnahme an den politischen Vereinen verboten ist, die bisherige Organisation der Vertrauenspersonen aufrechtzuerhalten; 2. die sozialdemokratische Reichstagsfraktion zu beauftragen, energisch und forgesetzt dahin zu wirken, daß die der gegenwärtigen Entwicklung des politischen und wirtschaftlichen Lebens nicht mehr entsprechenden, die Frauen rechtlos machenden Bestimmungen dieser Vereinsgesetze durch Reichsgesetz aufgehoben werden.

7. Die Vertrauenspersonen der Genossinnen sind überall, wo die Vereinsgesetze dem nicht entgegenstehen, von den Organen der allgemeinen Bewegung zu allen Arbeiten und Sitzungen als gleichberechtigte Mitarbeiterinnen heranzuziehen.

8. Die Wahl der Delegierten zum Parteitag hat in öffentlichen Versammlungen überall dort stattzufinden, wo die Vereinsgesetze dies nicht hindern.

Die unter 2, 6, 7 und 8 aufgeführten Resolutionen und Beschlüsse wurden dem Parteitag als Anträge der Frauenkonferenz eingereicht. Von diesen wurde die das System der Vertrauenspersonen und die Beseitigung des Vereinsunrechts gegen die Frauen betreffende Resolution einstimmig angenommen.

Der andere Antrag: die Vertrauenspersonen der Genossinnen überall, wo das Vereinsgesetz nicht hindernd im Wege steht, als Gleichberechtigte zu den internen Beratungen und Arbeiten der Gesamtpartei heranzuziehen, wurde abgelehnt, weil durch die zwingende Macht der tatsächlichen Verhältnisse dies bereits verwirklicht ist dort, wo Genossinnen und Genossen in richtiger Fühlung miteinander arbeiten.

Zum Schluß ihrer Tagung hatten die Frauen die Wahl der Zentralvertrauensperson der Genossinnen Deutschlands vorzunehmen. Einstimmig wurde mir dieses Amt übertragen.

Die Fülle der Aufgaben ließ es fast vermessen erscheinen, diesen wichtigen Posten zu übernehmen, denn die Agitations- und Organisationsarbeit mußte neben der recht anstrengenden Erwerbsarbeit geleistet werden, allein die Liebe zur Sache und das Versprechen der Genossin[85] Zetkin, mir hilfreich zur Seite zu stehen, sowie die Zuversicht, daß die Berliner Genossinnen meine getreuen Mitarbeiterinnen sein würden, gab mir den Mut, das Amt zu übernehmen. Nun hieß es, an die Arbeit herangehen.

Quelle:
Baader, Ottilie: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin. 3. Auflage, Berlin, Bonn 1979, S. 79-86.
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