IV.

Wie benehme ich mich als Gast?

[301] 302. Das Beantworten von Einladungen. Auf eine mündliche Einladung gehört eine mündliche, auf eine schriftliche Einladung eine schriftliche Zusage, wenn der Diener oder der Bote, der die Karten austrägt, nicht besonders sagt, er hätte den Auftrag, die Antwort in Empfang zu nehmen. Man sollte es sich zur Regel machen, Einladungen stets an demselben Tage, spätestens am nächsten Morgen zu beantworten. Schon die Rücksicht auf unsere Wirte erfordert dies. Nur die wenigsten Menschen geben ihre offiziellen Gesellschaften, weil es ihnen Spaß und Vergnügen macht, sondern weil sie müssen, weil es nun einmal nicht anders geht. Es ist nun einmal Sitte, daß man die Herrschaften, die uns einen Besuch machen, auch einmal an seinem Tische sieht. Diejenigen Hausfrauen sind bei den offiziellen Abfütterungen, die in den meisten Fällen auch für die Gäste keine reine ungetrübte Freude sind, die glücklichsten, die das größte Eßzimmer haben und möglichst viel Personen auf einmal placieren können. Der Gedanke, daß man vielleicht mit einer, höchstens mit zwei Gesellschaften auskommt, läßt das Herz einer jeden Hausfrau höher schlagen, während die Vorstellung, vielleicht gar vier oder fünf Diners geben zu müssen, sie mit Schaudern erfüllt. Ich habe davon einmal ein eklatantes Beispiel erlebt. In einer kleinen Stadt, in der ich früher lebte und in der ein ungewöhnlich lebhafter geselliger Verkehr herrschte, wohnte ein höherer Beamter, der in seinen Wohnungsräumen sehr beschränkt war. Kam die Saison heran, nahten die Tage, in denen er sich seiner gesellschaftlichen Verpflichtungen entledigen und Gäste laden mußte, so wurde die ganze Wohnung thatsächlich auf den Kopf gestellt. Die Schlafzimmer wurden nach dem Boden verlegt und die anderen Stuben wurden ausgeräumt, um möglichst viel Personen auf einmal bewirten zu können. Ich sehe noch das traurige Gesicht der entzückenden Tochter des Hauses vor mir, als sie, beinahe weinend, zu mir sagte: »Wir hatten recht gehofft, mit drei Gesellschaften auszukommen, nun müssen wir doch noch eine geben. Sie wissen nicht, wie kalt es oben auf dem Boden ist, ich will mich freuen, wenn wir erst wieder in unseren Zimmern wohnen.«

[302] 303. Bestimmte Antwort. So wie es diesen Herrschaften ging, geht es vielleicht vielen, ohne daß wir es auch nur ahnen. Werden wir eingeladen, so sollen wir gleich zusagen oder ablehnen, damit die Wirte über den Platz, der durch unsere Absage frei wird, anderweitig verfügen können. Aus diesem Grunde sage man auch in zweifelhaften Fällen gleich ganz be stimmt ab. »Herr und Frau Justizrat lassen für die Einladung vielmals danken«, rapportiert der ausgesandte Diener seiner Herrschaft, aber ob sie kommen könnten, das wüßten sie leider noch nicht genau, sie erwarten den Besuch von einer Verwandten, die sich auf der Durchreise einige Tage hier aufhalten wird, und davon, wie lange die Dame bleibt, müßten sie es abhängig machen, ob sie kämen oder ob sie nicht kämen. Wenn sie irgend könnten, kämen sie.«

Bei dieser Botschaft sehen sich die Wirte an und gleichzeitig fragen sie sich: »Was soll diese Antwort nun? Kommen Justizrats oder kommen sie nicht? Wie lange sollen wir auf eine definitive Nachricht warten? Etwa gar bis zu dem Tag vor unserer Gesellschaft? Dann können wir niemanden mehr nachladen.«

[303] 304. Form der Antworten. Unsre Rede sei »ja, ja«, »nein, nein«, was darüber ist, das ist vom Uebel. Die Briefe, die eine Zusage oder Absage enthalten, sollen kurz, aber höflich sein. Nimmt man seine Visitenkarte, so schreibt man auf die Rückseite, nachdem man diese durch einen mehr oder weniger genialen Strich, den man von seinem Namen nach der rechten Ecke gezogen hat, mit der Vorderseite verband: – »wird sich die Ehre geben, der liebenswürdigen Einladung zum (Datum) abends (Stunde) Folge zu leisten.«

Nimmt man einen Briefbogen, so schreibt man nicht: Sehr geehrter Herr! Für Ihre liebenswürdige Einladung sage ich Ihnen meinen besten Dank. Ich werde mit Freuden kommen und hoffe Ihre sehr verehrte Frau Gemahlin und Sie bei dem besten Wohlsein anzutreffen. Ich bin glücklich bei der Aussicht, einen Abend in Ihrem gastfreien Hause verbringen zu dürfen, und werde nicht verfehlen, mich pünktlich auf die Minute einzustellen, denn ich weiß sehr wohl, daß man seine Wirte nicht warten lassen darf.«

Das thut man nicht, sondern man schreibt, ohne jede Ueberschrift und Anrede. »Der freundlichen Einladung zum (Tag) abends (Stunde) wird sich die Ehre geben, Folge zu leisten

P.P. (Name).«

Ist man verheiratet, so sagt man: – »werden sich die Ehre geben, Folge zu leisten

P.P. und Frau.«

Solche Briefe schickt man durch die Post oder läßt sie durch das Dienstmädchen, den Diener oder einen Boten abgeben, aber man giebt sie nicht selbst ab.

[304] 305. Abschreckende Beispiele. Der Regierungsrat, der zu einer Gesellschaft eingeladen hat, sitzt mit seiner Familie bei dem Abendbrottisch. Da klingelt es an der Etagenthür, das Mädchen, das gerade serviert, geht hinaus, um zu öffnen, und kehrt gleich darauf zurück.

»Wer war da?« fragt der Hausherr, denn nicht nur die Frauen sind neugierig.

»Hauptmann von X.«, lautet die Antwort.

Der Hausherr springt in die Höhe, wirft noch einen Blick auf sein schönes warmes Abendessen, das nun sicher kalt werden wird, und sagt: »Haben Sie den Herrn Hauptmann in mein Zimmer geführt?«

Verwundert sieht die Donna Urarca ihren Herrn einen Augenblick an, dann sagt sie: »Er ist ja all lang wieder fort, er hat ja man bloß diesen Brief hier abgegeben und ich sollte ihn den Herrschaften geben und eine schöne Empfehlung machen.«

Der Brief enthält eine Zusage zu der Gesellschaft.

»Aber warum schickt er den Brief denn nicht durch seinen Burschen?« fragt die Hausfrau.

Sie begreift das nicht, andere begreifen es auch nicht, aber trotz alledem geschieht so etwas.

Es ist ungehörig, so etwas zu thun. Als ich vor einiger Zeit in Paris bei Bekannten zum Besuch war, gab der Portier der Herrin des Hauses, als wir von einer Ausfahrt zurück kamen, einen Brief den ein Herr während unserer Abwesenheit abgegeben hatte. Das Schreiben, vier Seiten lang, in den überschwänglichsten Ausdrücken abgefaßt, enthielt die Zusage eines pensionierten, in Paris lebenden, österreichischen Generals zu einem Diner. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß der General dadurch, daß er den Brief selbst abgegeben hatte, sich insofern seine ganze gesellschaftliche Position verdarb, als er nur noch als persona comica angesehen wurde. Man begriff sein Verhalten und Benehmen gar nicht und der Umstand, daß er ein General war, fiel erschwerend ins Gewicht.

[305] 306. Absagen. Ist man gezwungen, zu einer Gesellschaft abzusagen, so gebe man den Grund an, der es unmöglich macht, der Einladung Folge zu leisten, drücke aber zugleich sein Bedauern aus, nicht kommen zu können, aber auch hier fasse man sich kurz: »Der so freundlichen Einladung zum (Tag) abends (Stunde) nicht Folge leisten zu können, da ich bereits für diesen Tag eine Einladung angenommen habe, bedaure ich auf das lebhafteste.« Das genügt vollständig. Schreibt man zu viel, so entsteht leicht der Verdacht, daß der Grund zur Absage erfunden ist und daß man nur viel schreibt, um das Märchen als Wahrheit erscheinen zu lassen.

Bei der Zu- ober Absage den Tag und die Stunde anzugeben, empfiehlt sich schon deshalb, weil die Wirte häufig gleichzeitig für mehrere Tage einladen und dann nicht erst nötig haben, in ihren Listen nachzusehen, zu welchem ihrer Feste der betreffende Gast geladen war. Unumgänglich notwendig ist dies, wenn es sich um eine Einladung zu Hof oder bei einer sonstigen hochstehenden Persönlichkeit handelt, da bei diesen Herrschaften ja zuweilen an ein und demselben Tag drei Gesellschaften (Frühstücks-, Mittags- und Abendtafel) stattfinden.

[306] 307. Rücksichtslose Absagen. Häufig genug kommt es vor, daß wir eine Einladung erhalten, die anzunehmen wir nicht die geringste Lust haben, und wir zerbrechen uns den Kopf, ob wir nicht unter einem Vorwand absagen können. Wie immer, wenn man etwas sucht, findet man nichts, und schließlich tröstet man sich mit den Worten: »Ach was, das ist mir ganz einerlei, ich sage erst zu und bekomme dann im letzten Augenblick Influenza, Schnupfen oder Husten.« So zu sprechen und so zu handeln ist sehr unrecht: wenn man es irgend vermeiden kann, sollte man eine Zusage, die man gemacht hat, nie wieder rückgängig machen. Die Rücksichtnahme auf die Wirte, die sich unseretwegen Mühe, Arbeit und Unkosten machen, verlangt und erfordert dies. Eine einzige Absage, womöglich am Tage der Gesellschaft selbst, macht es unmöglich, einen Gast nachzuladen, und wirft die ganze, in schlaflosen Nächten mühsam aufgestellte Tischordnung über den Haufen. Und die Tischordnung ist bekanntlich wenigstens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, als das Essen selbst: daß der Braten nicht ganz tadellos geraten ist und daß die Köchin sich vergriffen hat und anstatt des Salzes Zucker zur Sauce nahm, verzeiht der Gast unter Umständen. Ist er aber mit seinen Tischnachbarn unzufrieden, so nimmt er das den Wirten persönlich übel. Will man absagen, so sage man deshalb gleich ab, man schütze eine Reise vor oder behaupte, schon anderweitig über den Abend verfügt zu haben. Ungewandt aber ist es, als Hinderungsgrund den Besuch von Bekannten anzugeben, wenn die lieben Freunde nicht thatsächlich da sind.

[307] 308. Weh' dem, der lügt! In einer meiner Humoresken habe ich zu schildern versucht, wie es mir einmal ging, als ich den Besuch meiner Schwester vorschützte, um mich um eine Einladung »zu drücken«. Ich glaubte, die Sache sehr fein gemacht zu haben, bis ich am nächsten Morgen natürlich zu spät einsah, daß ich ein großer ... gewesen war. Meine Wirte forderten mich nämlich mit den liebenswürdigsten Worten auf, meine Schwester doch mitzubringen. Ich wohnte in Hamburg, meine Schwester in Königsberg, aber es half alles nichts, telegraphisch citierte ich meine soeur herbei und gemeinsam gingen wir zu dem Fest. Selbstverständlich mußte ich die Reise bezahlen und meiner Schwester, der ich absichtlich den Grund verschwiegen hatte, weshalb ihre sofortige Abreise unumgänglich notwendig sei, eine fertige Gesellschaftstoilette schenken – seit der Stunde schütze ich nie mehr den Besuch von Verwandten bei einer Absage vor. Probatum est, das heißt in diesem Falle: ich habe es probiert, aber das Mittel hat sich nicht bewährt.

[308] 309. Keine nachträgliche Zusage! Es können Gründe eintreten, die uns thatsächlich zwingen, eine Zusage rückgängig zu machen. Hat man aber abgesagt, einerlei ob gleich bei Empfang der Einladung oder erst hinterher, nachdem man bereits zusagte, so soll man niemals eine Absage in eine Zusage verwandeln, selbst dann nicht, wenn die Lust, das Fest zu besuchen, noch so groß ist. Man denke hier nicht an sich, sondern an die Wirte, die dadurch vielleicht in die denkbar größte Verlegenheit geraten, keinen Platz mehr frei haben und nun überhaupt nicht wissen, wie sie uns placieren sollen. Selbstverständlich gilt dies nur für offizielle Einladungen; handelt es sich um ein freundschaftliches Zusammensein, um ein Plauderstündchen bei einer Tasse Thee oder dergleichen, so liegt die Sache natürlich ganz anders: Da beweist eine nachträgliche Zusage sehr häufig, daß man wirklich ein Freund des Hauses ist und daß uns etwas an dem Verkehr und an dem Zusammentreffen liegt.

[309] 310. Verhalten bei mehreren Einladungen. Erhält man, wie dies in großen Städten sehr häufig vorkommt, zwei oder mehrere Einladungen für denselben Tag und für dieselbe Stunde, so geht man zu dem, der zuerst eingeladen hat. Eine Einladung, die man bereits annahm, hinterher abzulehnen, um einer später an uns ergangenen Aufforderung Folge leisten zu können, ist für die Wirte, denen wir einen Korb senden, eine direkte Beleidigung, die mit Recht häufig einen vollkommenen Bruch der bisher gepflegten freundschaftlichen Beziehungen zur Folge hat.

[310] 311. Besondere Umstände. Wenn bei einem Ehepaar der eine oder der andere Teil krank ist, so sage man für beide ab und überlasse es den Wirten, ob sie dann den Herrn oder die Dame allein bitten wollen; dasselbe gilt, wenn ein Teil krank wird, nachdem man schon eine Zusage gemacht hat.

Je jünger man selbst ist, je älter unsere Wirte sind, desto genauer und gewissenhafter sei man mit den Beantwortungen von Einladungen – man darf es einfach nicht vergessen, die Antwort umgehend abzusenden. Für eine solche Vergeßlichkeit giebt es gar keine Entschuldigung, wie überhaupt nach einem sehr harten, aber doch wahren Wort jede Vergeßlichkeit ein Mangel an Pflichtbewußtsein ist.

[311] 312. Vergeßlichkeit. Aus der Zeit, da ich noch Leutnant war, entsinne ich mich einer kleinen Episode. Wir Offiziere waren zu einem Bierabend bei dem in unsrer Stadt wohnenden Oberpräsidenten geladen. Wir schickten alle unsre Antwort, nur ein junger Leutnant nicht – der vergaß es oder, richtiger gesagt, er verbummelte es. Nach acht Tagen schickte Exzellenz seinen Diener zu dem Offizier und ließ um gütige Auskunft darüber bitten, ob er die Freude haben würde, den jungen Herrn bei sich zu sehen oder nicht.

Aber anstatt direkten Bescheid zu geben, erwiderte der junge Leutnant dem Diener: »Sagen Sie Seiner Exzellenz, ich würde ihm meine Antwort schriftlich zusenden.«

Das that er denn auch glücklich drei Tage später.

Exzellenz war ein jovialer Herr und amüsierte sich über den jungen Herrn, unser Oberst aber hatte für eine derartige Komik leider sehr wenig Verständnis und wurde dem armen Leutnant, als er durch Zufall viel später die Geschichte erfuhr, ganz maßlos grob. Wie jeder zugeben wird, nicht ohne Grund. Leider haben wir aber nicht alle Vorgesetzte, die uns auf unsere Fehler aufmerksam machen, die da sagen: Dies darfst du thun, dies darfst du nicht thun.

Erkenne dich selbst und erziehe dich selbst, es ist schwer und langweilig, aber leider geht es nicht anders.

Blüte edelsten Gemütes ist die Rücksicht, doch zu Zeiten, aber auch nur zu Zeiten sind erquickend, wie Gewitterschauer, holde Rücksichtslosigkeiten.

[312] 313. Dankbesuche. Darüber ob man nach einer Gesellschaft einen sogenannten Dankesbesuch macht und sich nach dem Befinden der Hausfrau erkundigt, gehen die Ansichten der Gelehrten weit auseinander, vor allen Dingen aber sind in den verschiedenen Städten die hierüber bestehenden Meinungen sehr verschieden. In einer Stadt wie Berlin verbieten schon die große Geselligkeit und die weiten Entfernungen solche Besuche – unter Umständen müßte man ja jeden Tag seinen Cylinder aufsetzen. Das geht schon deshalb nicht, weil die meisten Menschen ja eine Thätigkeit und einen Beruf haben, der nicht nur ihre Zeit, sondern auch ihre körperlichen und geistigen Kräfte in Anspruch nimmt. In kleinen Orten dagegen sind diese Dankesbesuche üblich, und wer sie unterläßt, oder wie man sagt: »sie sich schenkt«, wird abfällig beurteilt.

[313] 314. Entschuldigungsbesuche. Ueberall aber, einerlei, ob in Berlin oder Pasewalk, ob am Ugleisee oder am Vierwaldstädter See, gehört ein Entschuldigungsbesuch, wenn man eine Einladung ablehnen mußte, zur guten Sitte. Mit vollem Recht kann es jede Hausfrau verlangen, daß man ihr sein Bedauern ausspricht, den Abend nicht bei ihr haben zubringen zu können. Hat bei einem Ehepaar nur der Mann oder die Frau an der Gesellschaft nicht teilgenommen, so macht natürlich auch nur der Teil, der fehlte, den Entschuldigungsbesuch.

Vorsichtig sei man, wenn man einen Grund zur Absage erfunden hatte. Es ist schon oft vorgekommen, daß jemand bei seinem Entschuldigungsbesuch lang und ausführlich von seinen Verwandten erzählte, die ihm die Annahme der Einladung durch ihren Besuch zur Unmöglichkeit gemacht hätten, während er in seinem Absagebrief geschrieben hatte, er sei leider schon zu einem anderen Diner gebeten.

So etwas macht keinen guten Eindruck.

[314] 315. Wann komme ich? Der Herr Oberleutnant, verheiratet und Vater zweier Kinder, liegt der Länge nach auf seiner Chaiselongue und ruht sich aus von den nicht unbedeutenden Mühen und Lasten des verflossenen Tages. Es ist nachmittags fünf Uhr, für den Abend steht ihm noch ein sogenannter zweifelhafter Genuß bevor: er ist zu einem Pekko zu seinem Oberst eingeladen. Lieber ließe er sich einen hohlen Zahn, der ihn zuweilen schmerzt, ausziehen, als daß er ausginge, aber es hilft nichts, Kommißgesellschaften sind ebenso gut Dienst wie Felddienstübungen und andere derartige Chosen, die noch weniger als gar keinen Spaß machen. Er hat absolut keine Lust, ihn tröstet vorläufig nur der Gedanke, daß »die Kiste« noch lange nicht anfängt und daß er noch Zeit hat, während eines langen Schlummers gründlich über das Leben im allgemeinen und über das Leben eines Leutnants im besonderen nachzudenken.

Er schläft ein und träumt gar süß, bis er plötzlich in diese traurige Welt zurückgerüttelt wird. Verwundert reibt er sich die Augen, vor ihm steht seine Frau.

»Ach du bist es, Kleine?« frägt er, »na, was giebt es denn?« »Aber Fritz,« schilt sie, »willst du dich denn gar nicht anziehen? Es ist schon sieben Uhr und um ein halb acht sind wir geladen.«

»Aber Kind,« sagt er in vorwurfsvollem Ton, »mach doch keine Pferde scheu. Du irrst dich, wir sind um acht Uhr gebeten, Kommißpekkos sind immer um acht.«

Aber trotz alledem widerspricht sie: »Du irrst dich, ich weiß es ganz genau, wir sind um ein halb acht Uhr geladen.«

Jetzt widerspricht er, dann widerspricht sie, schließlich sprechen sie beide gegen einander an.

»So sieh doch auf der Einladungskarte nach,« sagt sie endlich.

»Bitte, sei so freundlich«, entgegnet er.

»Wo ist sie?« fragt die kleine Frau.

»Ja, das mußt du wissen,« giebt er zur Antwort, »ich habe dir die Karte gegeben.«

Sie sieht ihn starr an: »Nun wird es immer schöner. Ich soll die Einladung haben?«

»Aber selbstverständlich,« erwidert er.

Endlich suchen sie beide; er auf seinem Schreibtisch, sie im Schlüsselkorb, im Nähkorb, kurz an allen Orten und in allen Körben, die die Frauen nur haben.

Die Karte ist fort, sie ist nicht zu finden.

Die Dienstboten werden zusammengerufen und zusammengeklingelt: sie haben überhaupt keine Karte gesehen, geschweige denn eine fortgeworfen, sie rühren prinzipiell nichts an, was auf dem Schreibtisch des gnädigen Herrn liegt, nein, sie wissen von nichts.

Der Mann sieht seine Frau an und die Gattin ihren Mann. »Was nun?« fragen sie beide a tempo, wer hat nun recht?

»Weißt du was?« sagt er schließlich, die Sache ist sehr einfach. Ich ziehe mich jetzt im Rechtsgalopp an, wir nehmen uns eine Droschke und ein viertel vor acht sind wir bei dem Oberst – entweder kommen wir eine Viertelstunde zu spät oder ebensoviel zu früh, ein drittes giebt es nicht.

Da hat er recht, und als sie bei dem Kommandeur ankamen, sieht er, daß er auch mit seiner Behauptungrecht hatte, »ein Kommißpekko fängt immer um acht Uhr an«.

Sie kommen eine Viertelstunde zu früh, im Salon werden gerade die Lampen angezündet und die Wirte sind noch bei der Toilette.

[315] 316. Pünktlichkeit. Man sollte es sich zur Regel machen, niemals eine Einladungskarte fortzuwerfen oder zu verlegen, bis man die Gesellschaft »hinter sich hat«, nur dann ist man in der Lage, etwaige Zweifel: »zu welcher Stunde bin ich geladen« zu lösen und zu schlichten. Ich entsinne mich eines Diners, bei dem wir eine geschlagene halbe Stunde auf die Hauptperson, einen Oberst und Regimentskommandeur, warteten. Der Mann kam und kam nicht. Der Hausherr heuchelte männliche Fassung, während die Frau sich kaum noch die Mühe gab, ihre Thränen zurückzuhalten. Da schickte der Koch aus der Küche Meldung: er stände für nichts ein, wenn nicht sofort zu Tisch gegangen würde.

Die Not war auf das Höchste gestiegen, man wollte das teure Essen nicht verderben lassen, andrerseits hatte man nicht den Mut anzufangen, bevor die Haupt- und Staatsperson nicht da sei.

Ein Lohndiener wurde zu dem Kommandeur abgesandt: »Laufen Sie, so schnell Sie können,« befahl der Hausherr, »ich verspreche Ihnen für den Fall, daß Sie unterwegs an dem Lungenschlag sterben, bis zu Ihrem Lebensende für Ihre Frau und Ihre Kinder zu sorgen.«

Wie ein Wahnsinniger stürzte der Frack davon, um bald darauf mit dem Bescheid zurückzukommen, der Herr Oberst lasse sehr um Verzeihung bitten, er habe geglaubt, zu einer späteren Stunde geladen zu sein.

Leider hatte der Oberst vergessen sagen zu lassen, man möge nicht länger auf ihn warten, sondern anfangen, so wartete man weiter und die traurigen Prophezeiungen des Kochs erfüllten sich glänzend. Das ganze Diner war verdorben mit Ausnahme der Käsestangen.

Ebenso unhöflich es ist, zu spät zu kommen, ebensowenig liebenswürdig ist es, viel vor der geladenen Zeit zu erscheinen. Pünktlichkeit sollte die Pflicht aller sein. Wer nicht auf die Minute antreten will, lasse die obligaten fünf oder zehn Minuten verstreichen, mehr nicht. Das akademische Viertel ist das Längste, was man sich den Wirten gegenüber herausnehmen darf. Ich kenne verschiedene Herren, die einfach sagen: »Habe ich zu einem Diner eingeladen, so warte ich genau eine Viertelstunde, das weiß meine Köchin und danach richtet sie sich ein. Dann wird zu Tisch gegangen, wer später kommt, erhält das Essen nachserviert, länger gewartet wird nicht. Rücksichtslose Gäste können nicht verlangen, daß meine Gäste ihretwegen ein total verdorbenes Diner vorgesetzt bekommen.«

Ehepaare können unter Umständen eine Entschuldigung für ein zu spätes Kommen haben, Junggesellen und alleinstehende junge Mädchen niemals. Viele junge Herren glauben, es mache »interessant«, als Letzter zu erscheinen, weil man dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit erregt – die Wirte und die übrigen Gäste, die schon lange gewartet haben, werden dies aber nicht interessant, sondern einfach ungezogen finden.

»Bin ich der Erste?«

Wie oft hören nicht Wirte, die ihre Gäste erwarten, draußen auf dem Korridor diese halblaut gesprochene Frage eines Ankömmlings.

Etwas wie Entsetzen, Angst und Grausen vor dem gefürchteten »Ja« klingt aus diesen Worten heraus und zuweilen folgt dann der bejahenden Antwort des Dieners die Bemerkung: »Das ist ja fürchterlich. Sagen Sie nur nicht, daß ich hier gewesen bin. Ich gehe noch einen Augenblick fort, in einer Viertelstunde komme ich wieder, dann bin ich hoffentlich nicht mehr der Erste.«

Daß dies sehr häufig vorkommt, weiß jeder so gut wie ich; die wenigsten aber machen sich klar, welche Beleidigung für die Wirte darin liegt, wenn man ein kurzes Alleinsein mit ihnen fürchtet, als solle man eine kurze Zeit unter Aussätzigen zubringen. Man muß immer daran denken, daß man doch nicht nur um zu essen und zu trinken auf eine Gesellschaft geht.

[316] 317. Eintritt in eine Gesellschaft. Haben die Wirte durch die Dienerschaft bitten lassen, gleich abzulegen, so tritt man als Herr in den Salon, ohne den Cylinder (chapeau claque) in der Hand zu haben. Daß die Damen bei einer Gesellschaft stets ablegen, bevor sie in das Empfangszimmer treten, bedarf wohl nicht der ausdrücklichen Erwähnung. Handschuhe zu tragen ist für die Herren augenblicklich unmodern, die Damen tragen sie noch, wenigstens bei uns; in Frankreich vertreten augenblicklich die schönsten und kostbarsten Ringe die Stelle des weichen Leders. Man bekleidet die Finger fast bis zu den Nägeln mit den wertvollsten Steinen – darüber, daß man seine Finger nicht gebrauchen kann, da man nicht im stande ist, sie zu krümmen, beunruhigt sich eine elegante Französin weiter nicht, denn sie thut ja doch nichts, weder mit noch ohne Handschuhe, weder mit noch ohne Ringe.

Der Herr nimmt die Handschuhe in die Hand, oder trägt sie im Hut, viele Leute tragen sie in der Rocktasche, es genügt das Bewußtsein, Handschuhe bei sich zu haben.

Nichts macht einen komischeren und ungebildeteren Eindruck, als wenn ein Gast, einerlei, ob masculini oder feminini generis, wenn er in den Salon tritt, auf der Schwelle einen Augenblick stehen bleibt und den hochverehrten Anwesenden durch eine tiefe Reverenz die Versicherung seiner vorzüglichsten Hochachtung ausdrückt. Die Herren klippen dann gewöhnlich wie ein Taschenmesser zusammen, während die Damen vorübergehend so tief in sich zusammensinken, daß sie von der Erdoberfläche verschwinden zu wollen scheinen.

Das thut man nicht, man bleibt nicht stehen, sondern man geht, sich im Gehen leise und elegant vorbeugend auf die Wirte zu. Die erste Begrüßung gilt der Hausfrau, unsere zweite Verbeugung dem Hausherrn, die dritte den etwa bereits anwesenden Gästen.

[317] 318. Handkuß. Reicht die Hausfrau dem Herrn die Hand, so sollte jeder Kavalier die Hand, die ihn zum Willkommen geboten, an seine Lippen zum Kuß führen – daß man sich zum Kuß hinabbeugt und die Hand nicht mit einer mehr oder weniger energischen Bewegung an seine Lippen zieht, ist wohl selbstverständlich. Aber das Selbstverständliche ist nicht immer das allgemein Uebliche.

Es ist schade, daß der Handkuß, der ja in Oesterreich zu Hause ist, immer mehr und mehr abkommt, es ist sehr schade, denn der Handkuß hat etwas Ritterliches, das durch keinen noch so eleganten oder gigerlhaft vornehmen Händedruck ersetzt werden kann. Warum so viele Damen sich jetzt mit einemmal die Hand nicht mehr küssen lassen wollen, habe ich trotz zahlloser Anfragen nicht in Erfahrung bringen können, fast immer lautete der Bescheid: »Wir mögen es nicht mehr.« Und wenn eine Dame so spricht, dann ist es aus, gegen diese Worte kann man mit Menschen-und mit Engelzungen anreden, es hilft nichts. Wenn eine Dame etwas nicht mag, dann mag sie es nicht, nach dem warum zu fragen, hat keinen Zweck, sie mag es eben nicht. – Früher war der Handkuß wenigstens in den Offizierskreisen allgemein üblich, aber auch hier verschwindet er mehr und mehr. Nur bei Hofe ist es jetzt noch Sitte, die Hand zu küssen – dort muß man die Hand, die uns gereicht wird, an die Lippen führen.

Wie dem aber auch sei, ob eine Dame es liebt, sich die Hand küssen zu lassen oder nicht, sie sollte niemals einem Herrn, der ihr die Hand küssen will, die Hand entziehen, so daß der Herr in die Luft küßt. Das ist für den Herrn geradezu beleidigend. Will man keinen Handkuß haben, so braucht man dem Herrn nicht die Hand zu reichen, das ist das sicherste und beste Mittel, das auch bei Hofe üblich ist – dort reichen die höchsten Herrschaften nur dem die Hand, dem sie die Auszeichnung, ihnen die Hand küssen zu dürfen, zu teil werden lassen wollen.

Viele finden den Handkuß veraltet und unmodisch, die moderne Jugend, die ja über viele Dinge erhaben ist, lächelt geringschätzig über den, der einer Dame die Hand küßt. Gott sei Dank sind die Ansichten der Jugend nicht die allein maßgebenden und die allein seligmachenden.

Natürlich steht der Handkuß nur einer verheirateten Frau zu – jungen Mädchen küßt man nicht die Hand, so groß auch manchmal für einen Herrn die Versuchung hierzu sein mag. Nur die Hand seiner Braut oder einer Verwandten darf man an die Lippen führen, sonst muß man sich diesen Genuß vorenthalten. Thäte man es nicht, so würde man mit Recht das junge Mädchen in Verlegenheit bringen und sich selbst verwunderten und tadelnden Blicken der Mutter aussetzen.

[318] 319. Begrüßung der anderen Gäste. Hat man den Wirten sein Kompliment gemacht, so sehe man sich im Kreise um und begrüße die uns Bekannten durch eine Verbeugung und durch einen Händedruck, nie aber reiche man einer Dame zuerst die Hand, wenn es sich nicht um eine Verwandte handelt.

[319] 320. Wie stelle ich vor? Ist man mehreren Gästen unbekannt, so bittet man den Wirt oder die Hausfrau, uns vorstellen zu wollen.

Man stelle stets den Herrn der Dame vor, nie, niemals, nimmer umgekehrt, denn ein Grundsatz ist es, stets den vorzustellen, für den vorgestellt zu werden eine Auszeichnung ist, und mit einer Dame bekannt gemacht zu werden, ist stets ein Vorzug. »Meine gnädige Frau gestatten Sie, Herr Konsul X. bittet um die Ehre Ihnen vorgestellt zu werden.«

Der Wirt nennt nur den Namen des Herrn, den er vorstellt, er nennt nicht den Namen der Dame, der er einen Herrn bekannt macht, er sagt also nicht: »Herr Konsul X. – Frau Geheimrat M.«

Es ist Sache des Herrn, der sich vorstellen läßt, sich entweder vorher oder hinterher nach dem Namen der Dame zu erkundigen.

Hat man sich einer Dame vorstellen lassen, so wird es von Zeit und Umständen abhängen, ob man sich gleich wieder rückwärts konzentriert, oder ob man einen Augenblick neben der Dame stehen bleibt und ein paar Worte mit ihr wechselt – bietet sich hierzu Gelegenheit, so sollte man sie, wie stets, bei dem Schopfe fassen.

Wird ein Herr einer Dame vorgestellt, so darf die Dame niemals, unter keinen Umständen sagen: »Sehr angenehm.«

Auch Herren, die mit einander bekannt gemacht werden, sollten dieses »Sehr angenehm« vermeiden, es ist mehr als kleinstädtisch, es erinnert an die Sitten und Gebräuche irgend eines Dorfes, das Gott weiß wo im Urwald liegt. War es uns wirklich angenehm, einen Herrn kennen gelernt zu haben, nicht nur, weil er vielleicht ein berühmter Mann ist, sondern weil man sich wirklich gut mit ihm unterhalten hat, so kann man seiner Freude bei dem Abschied irgendwie Ausdruck geben. Aber auch dann vermeide man das »Sehr angenehm,« sondern sage: »Ich habe mich sehr gefreut, Sie kennen gelernt zu haben.«

Eine »werte Bekanntschaft« giebt es nicht, es giebt höchstens eine »werte Kundschaft«.

Einer Dame darf man nie sagen, daß man sich gefreut hat, ihr vorgestellt zu sein, das wäre beinahe beleidigend. Selbstverständliche Dinge soll man nicht besonders betonen.

Bei uns ist es Sitte, daß der Wirt auch die Herren mit einander bekannt macht. Im Auslande thut man das nicht, da stellen die Herren sich gegenseitig vor.

Stelle ich mich einer Dame selbst vor, so bitte ich zuvor etwa mit den Worten: »Sie gestatten, gnädiges Fräulein«, hierfür um Erlaubnis. Dann erst nenne ich meinen Namen.

Häufig hört man folgendes: »Gestatten Sie, gnädiges Fräulein – von Y.« und dann erklingt aus dem Munde des jungen Mädchens: »Fräulein A.«

Das darf nicht sein. Ein junges Mädchen darf nie und nimmer bei einer Vorstellung ihren Namen nennen.

Man stelle stets den Jüngeren dem Aelteren vor, das junge Mädchen stets der verheirateten Frau, selbst dann, wenn das junge Mädchen vielleicht als Tochter einer Exzellenz um eine ober mehrere Rangstufen höher steht. Die verheiratete Frau einer jungen Dame vorzustellen, ist nur dann zulässig, wenn das junge Mädchen den Vorzug hat, eine Prinzessin zu sein.

Damen sollten sich selbst nie einander vorstellen: »Mein Name ist Frau Hansen – Mein Name ist Frau Petersen. – Sehr angenehm – sehr angenehm« ... das klingt furchtbar.

Damen lassen sich stets durch die Wirtin mit einander bekannt machen.

Viele Leute haben einen wahrhaft fürchterlichen Drang, berühmten oder hochstehenden Personen vorgestellt zu werden. Ueber das »warum« sind sie sich wohl selbst nicht klar, aber das thut ihrer Leidenschaft keinen Abbruch, im Gegenteil, sie ruhen und rasten nicht, bis es ihnen gelungen ist, dem hohen Herrn vorgestellt zu sein, nur um hinterher sagen zu können: »Ach, Sie meinen den berühmten Schriftsteller, dessen neuestes Buch so viel Aufsehen macht – ach, den kenne ich sehr genau. Der hat sich mir damals auf der großen Soiree bei Kommerzienrats vorstellen lassen und wohl fast eine halbe Stunde mit mir über alles mögliche geplaudert.«

Und wenn die Freundin dann sagt: »Ach wie interessant, da beneide ich Sie aber wirklich«, ist das Maß der Glückseligkeit voll.

Namentlich nach Konzerten und öffentlichen Vorträgen drängt alles an die Künstler heran, nur um vorgestellt zu werden – es ist dies eine Sitte, die man nur mit dem Wort »Unsitte« bezeichnen kann.

[320] 321. Die Pause vor Tisch. Man steht herum, man geht herum, man sieht sich um, bald sitzt man, bald steht man auf, bald spricht man anscheinend sehr interessiert mit diesem, bald mit jenem, man thut alles mögliche, aber man hat doch nur immer den einen Gedanken: »Ach, daß wir doch erst nur bald äßen.«

Die Pause vor Tisch, die durch das Kommen der Gäste, durch die gegenseitigen Begrüßungen ausgefüllt wird, ist nicht schön – sie abzukürzen liegt in dem Interesse eines jeden und schon aus diesem Grunde sollte man pünktlich sein.

Die Damen sitzen in einem Halbkreis, die Herren stehen für sich in einer Ecke.

Alle denken: »Kommt denn der Diener immer noch nicht, um zu melden, daß serviert ist?«

Das war so, das ist so und es wird auch wohl im zwanzigsten Jahrhundert so bleiben.

Nur in den seltensten Fällen halten die Herren es der Mühe wert, schon bevor zu Tisch gegangen wird, mit den Damen zu sprechen. Sie denken: »Die Sache lohnt sich ja gar nicht, erst anzufangen. Wenn man eben den Mund aufgemacht hat, muß man ihn womöglich schon wieder zumachen, weil die Flügelthüren zum Eßzimmer geöffnet werden. Da rede ich lieber gar nicht.«

Das ist auch ein Standpunkt, aber kein absolut richtiger, man sollte, schon um für die Tischunterhaltung einen Anknüpfungspunkt zu haben, auch vorher etwas mit den Damen sprechen, wenigstens mit seiner Tischnachbarin, neben der man vielleicht stundenlang bei dem Diner sitzen soll.

Hält man es aber nicht für nötig zu sprechen, so halte man es wenigstens für nötig, liebenswürdig und aufmerksam zu sein. Der da sucht, wird zahllose Gelegenheiten finden, sich aufmerksam zu erweisen. Und wenn der Ritterdienst, den er leistet, auch nur darin besteht, für eine Dame einen Sessel herbeizuschieben, so hat er damit zwar noch nichts für die Unsterblichkeit, wohl aber für seinen Ruf, ein liebenswürdiger Mensch zu sein, gethan.

Der weise und verständige Mensch wird sich seine Tischdame genau zeigen lassen, damit er nicht nachher bei dem Einzug der Gäste in den Speisesaal einer falschen Dame den Arm bietet und sich dann von dieser wieder trennen muß. Das macht keinen guten Eindruck und man kann es einer Dame nicht verdenken, wenn sie dies übelnimmt. Die Dame braucht nicht zu wissen, wer ihr Herr ist, der Herr aber muß seine Dame kennen. Ist diese verheiratet, so lasse man sich auch von einem Bekannten den zu ihr gehörigen Gatten zeigen.

Es ist deprimierend, wenn man bei Tisch frägt: »Gnädige Frau, kennen Sie vielleicht diesen entsetzlichen Menschen, der da sogar seinen Fisch mit dem Messer ißt?« und dann zur Antwort erhält: »Aber selbstverständlich, das ist doch mein Mann.«

[321] 322. Zu Tisch. »Gott sei Dank«, denkt man, aber es laut zu sagen, dürfte nur in den wenigsten Fällen angebracht sein.

Wer den Vorzug hat, die Dame des Hauses zu führen, geht mit dieser als letztes Paar, die übrigen gehen in zwangloser Reihenfolge, aber jeder denke daran, daß dem Hausherrn mit seiner Dame der Vortritt gebührt. Führt der Weg durch schmale Thüren, so lasse man, wenn es nötig ist, den Arm seiner Dame frei und lasse diese vorangehen – nur wenn schwere Portièren zurückzuschlagen oder sonstige Hindernisse zu beseitigen sind, übernimmt man natürlich selbst diesen Dienst und lasse sich nicht etwa von seiner Dame die Wege ebnen.

Daß man nicht wie ein Stummer neben seiner Dame herschreitet, sondern irgend ein, wenn auch noch so thörichtes Wort unterwegs spricht, ist sehr zu empfehlen. Man könnte sonst leicht den Anschein erwecken, weder sehr begabt noch sehr geistreich zu sein, und wenn man auch selbst ganz genau weiß, wie groß oder wie gering unsere geistigen Fähigkeiten sind, so ist es doch nicht unbedingt notwendig, daß auch andere das wissen. Was zwei wissen, weiß schon einer zuviel.

[322] 323. Tischunterhaltung. Die Sache klingt so einfach und ist so schwierig. Das Einfache besteht darin, daß man sich eben mit einander unterhält, das Traurige und Schwierige aber ist, daß die meisten Menschen keine Ahnung haben, worüber sie sich unterhalten sollen.

»Mich kann einer tot schlagen, wenn ich wüßte, wie ich beginnen sollte,« denkt der Herr, »ich kann doch nicht fragen, ob meine Dame Schlittschuh läuft oder ob sie in diesem Winter schon viel getanzt hat, ob sie gestern abend im Theater war oder ob sie morgen vielleicht hingehen wird? Das wäre dann doch zu dumm und erinnert gar zu sehr an die berühmte und berüchtigte Frage: Essen gnädiges Fräulein gerne Käse?«

»Wenn er doch nur den Mund aufmachen und irgend etwas, sei es auch noch so dumm und albern, sagen wollte,« denkt die Dame, »je thörichter ein Gespräch anfängt, desto vernünftiger und netter wird es meistens im Laufe des Abends, während die Unterhaltungen, die Gott weiß wie geistreich beginnen, oft schon nach wenigen Sätzen im Sande verlaufen. Wenn er doch nur irgend etwas sagen wollte, ich kann doch nicht zuerst anfangen.«

So sitzen sie stumm wie zwei Oelgötzen nebeneinander und finden sich gegenseitig entsetzlich fad und langweilig: der eine, weil ihm trotz allen Denkens und Grübelns nichts Geistreiches einfällt, die andere, weil sie sich als Dame nicht getraut, die Unterhaltung zu beginnen.

Nichts ist falscher und thörichter: wer geistreich sein will, ist es nie, und wie man mit einem Satz nicht mit der Mitte anfangen kann, so ist es auch unmöglich, gleich mit den ersten Worten, die man spricht, mitten in einer geistreichen Unterhaltung zu sein. Gut Ding will Weile haben und jedes Ding hat nicht nur ein Ende, sondern auch einen Anfang. Man geniere sich vor keiner Einleitung, sie kann ruhig thöricht und albern sein, man muß sich nur im Laufe der Unterhaltung die Mühe geben, wenn auch ganz allmählich das Gespräch in vernünftige Bahnen zu lenken, man darf nicht stundenlang bei dem Anfang stehen bleiben und nicht nur vom Wetter und von der Glanzleistung der Primadonna sprechen.

[323] 324. Die Kunst zu plaudern, geistreich und amüsant zu plaudern, ist angeboren. Wer's nicht kann, der lernt es nie, aber sich zu unterhalten, kann jeder lernen, der es lernen will.

Wie es Briefsteller für solche Leute giebt, die da lieben, aber nicht imstande sind, ihren Gefühlen schriftlich den richtigen Ausdruck zu verleihen, so giebt es auch für jene Armen, die da plaudern wollen und nicht können, Leitfäden, die da lehren sollen, wie es gemacht wird. Ein derartiges Buch erschien vor einigen Jahren unter dem Titel: »Können Sie plaudern? Inhalt tausend Redewendungen und geflügelte Worte distinguierter Kreise. Preis 2 Mark. Das Buch bietet selbst dem Kavalier aus gutem Hause etwas Neues.«

Wer am Vorabend einer Gesellschaft auf dieses Buch hineinfiel, um sich für die bevorstehenden Ereignisse zu richten und um als Geistesheld seine sämtlichen Rivalen auf dem Gebiet einer geistreichen Tisch- und Gesellschaftsunterhaltung zu schlagen, der sah selbst seine geringsten Hoffnungen und Erwartungen auf das glänzendste enttäuscht. Der Band enthielt weiter nichts als tausend Redewendungen, die alphabetisch geordnet und numeriert waren, einige derselben mögen hier zur Probe angeführt sein:

507. Ich der Sünder, Sie die Madonna.

924. Was ist Glück ohne Liebe?

230. Die Jagd nach dem Glücke?

123. Das jauchzende Hurray der attaquierenden Husaren.

783. Seine Aversion gegen ihn ist unabänderlich.

Ich glaube, die Leser werden mir beistimmen, wenn ich als letztes Beispiel anführe: 771. Schön ist etwas anderes.

Wenn es nicht zum lachen wäre, könnte man darüber traurig sein, daß solche Bücher geschrieben, gedruckt und verkauft werden. Wer nicht schwimmen kann, klammert sich an einen Strohhalm; wer nicht die Gabe hat, seine Tischdame auch nur einigermaßen zu unterhalten, greift nach jedem Mittel, das sich ihm bietet, um zu lernen, wie man plaudert.

[324] 325. Merkwürdige Vorbereitungen. Man sagt, daß es thatsächlich Leute giebt, die vor einer Gesellschaft ein Kapitel im Konversationslexikon studieren, einige sollen ihren Abreißkalender, der außer den Kochrezepten auf der Rückseite zuweilen ja auch sonst noch manches Bemerkenswerte enthält, sehr gründlich lesen und das Gespräch dann auf das, was sie gelesen haben, bringen. Warum nicht, wenn sie es so geschickt machen, daß man nicht gleich den Ursprung ihrer Wissenschaft errät und verstimmt wird.

[325] 326. Getrost anfangen! Man sage irgend etwas: »Mich friert« oder »ich finde es hier sehr heiß«, »das Eßzimmer ist sehr hübsch« oder »gestern war ich im Konzert«, es ist ganz einerlei, aus jedem läßt sich etwas machen. Nur sage man etwas und sitze nicht da, als habe man drei Vorlegeschlösser vor dem Mund.

Sagt der Herr nichts, so sage die Dame das erste Wort und stoße sich nicht daran, daß sich das »eigentlich nicht schickt«.

Welcher Teil aber zuerst ein Thema auch anschlagen mag – der andere Teil hat die gesellschaftliche Pflicht, darauf einzugehen, selbst dann, wenn er schon auf neunundneunzig anderen Gesellschaften über dieselbe Sache gesprochen hat.

[326] 327. Einsilbigkeit. Zwei Menschen, die sich unterhalten wollen, können dies auch, unmöglich ist dies aber, wenn der eine Teil sich vollständig passiv und ablehnend verhält, selbst gar nicht spricht und höchstens mit einem »Ja« oder »Nein« antwortet.

Namentlich junge Mädchen sind es zuweilen, die sich bei einer Unterhaltung lediglich darauf beschränken, einsilbige Antworten zu geben. Zuweilen thun sie es, weil sie thatsächlich nichts anderes zu sagen wissen, obgleich sie die höhere Töchterschule besuchten und obgleich sie ein Jahr und noch mehr in einer vornehmen und teuren Pension zubrachten. Häufig ist das Benehmen der jungen Damen aber auch nichts als Unart. Sie haben sich geärgert, weil sie nicht den Tischherrn bekommen haben, den sie im stillen erhofften, sie wollen ihrem Nachbar zeigen, daß er ihnen gleichgültig, vielleicht sogar unsympathisch ist, dieser oder ein ähnlicher Grund veranlaßt die jungen Mädchen, oft sich so zu benehmen, daß ihr Tischherr sie im Geiste mit jenen zweibeinigen Tieren vergleicht, von denen, wie Fritz Reuter sagt, eins zum Frühstück zu wenig, zwei aber ein klein wenig zu viel sind – er nennt ihn deshalb einen »schnackschen«, einen merkwürdigen Vogel.

Das vielleicht unartige Benehmen seiner Tischdame darf aber den Herrn unter keinen Umständen veranlassen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Er darf nicht sagen: »Dann nicht, gnädiges Fräulein,« und sich nicht weiter um sie kümmern. Gesellschaftliche Unarten bemerkt man offiziell nicht – wer es thut, ist selbst unartig.

[327] 328. »Meine gnädige Frau!« Es ist in der letzten Zeit, fast hätte ich gesagt, Mode geworden, daß die Herren die Damen »meine gnädige Frau«, »mein gnädiges Fräulein« anreden. Das ist ungehörig. »Mein« ist ein Besitz anzeigender Artikel, das lernt man in der Schule, wenn man nicht gerade fehlte, als diese wichtige Sache durchgenommen wurde. Durch die Worte »mein gnädiges Fräulein« drückt man sich sehr vertraulich aus, man darf nur »mein« sagen, wenn man auf die Dame durch Bande der Verwandtschaft oder langjähriger Bekanntschaft und Freundschaft ein gewisses Anrecht hat.

[328] 329. Akustisches. Die Unterhaltung soll in nicht zu lauter und nicht zu leiser Stimme geführt werden. Es ist schrecklich, wenn jemand so schreit, daß allen die Ohren gellen, es ist ungezogen und ein Zeichen von Unerzogenheit, wenn ein Herr so laut spricht, daß alle anderen unwillkürlich verstummen, nie darf man durch ein lautes Sprechen den Versuch machen, die ganze Unterhaltung an sich zu reißen.

Immerhin aber ist es noch besser zu brüllen, wie ein Korporal auf dem Kasernenhof, als zu flüstern. Die Damen tragen ihre Fächer, um sich Kühlung zuzuwehen, wenn es ihnen zu warm ist, aber die Strauße haben sich ihre Federn nicht ausziehen lassen, um der Unsitte, sich Geheimnisse zuzuflüstern, Vorschub zu leisten. Was bei Tisch besprochen wird, soll jeder hören dürfen, vertrauliche Mitteilungen irgend welcher Art gehören nicht zur Tischunterhaltung. Wer mit seinen Nachbarn flüstert und tuschelt, ladet den Verdacht auf sich, sich über irgend etwas, sei es über die Wirte, das Essen oder die Gesellschaft, zu ennuyiren und sich lustig zu machen. Der Kritiker in einem privaten Kreise darf sich nicht wundern, wenn er wieder kritisiert wird, – daß er das dann aber sehr übelnimmt, ist nach seiner, ja natürlich allein maßgebenden, Ansicht ganz selbstverständlich.

[329] 330. Der Anekdotenjäger. Für einige Leute besteht die ganze Tischunterhaltung darin, Anekdoten zu erzählen. Auf sie paßt das Wort: »Wehe, wenn sie losgelassen,« – eher wird ein durchgehendes Pferd zum Stehen gebracht, als ein Geschichtenerzähler zum Schweigen. Sie fangen gewöhnlich mit den Worten an: »Kennen gnädige Frau den neuesten Witz schon?« und dann geht es los. Dem neuesten folgen neue, dann ältere, alte und schließlich kommen uralte Witze zum Vorschein, über die selbst Adam im Paradies sich vergebens bemühte zu lachen. Hat der Erzähler Beifall, so hört er nicht auf, weil man lacht, hat er keinen Beifall, so will er ihn erzwingen.

Anekdoten zu erzählen, ist eine große Kunst, es erfordert sehr viel Takt und gesellschaftliche Erfahrung, den richtigen Zeitpunkt und die richtige Geschichte auszuwählen. Eine Anekdote soll ein Thema, das gerade behandelt wird, illustrieren. Sie soll aber nicht gewaltsam an den Haaren herbeigezogen werden und in die Unterhaltung hineinpassen, wie die Faust aufs Auge. Leidet man nun einmal an der Krankheit, Anekdoten erzählen zu müssen, so sei man verständig und bemühe sich daran zu denken, daß eine gute Geschichte weit mehr wert ist, als zehn schlechte.

[330] 331. Gequälter Witz. Witz ist eine gute Gabe Gottes wie nach dem Sprichwort eine gut gebratene Gans, aber nicht jeder hat Witz. Man kann lustig sein, Humor haben, aber deshalb doch nicht die leiseste Spur von Witz besitzen. »Contenti estote, begnügt euch mit eurem Kommißbrote«, lehrt der Kapuziner in Wallensteins Lager. Man sei zufrieden mit den Gaben, die uns die Natur bei unserer Geburt verlieh, man hüte und pflege sie, daß man sie sich nicht nur erhalte, sondern sie auch zu üppiger Blüte bringe, aber man suche nicht gewaltsam sich anzueignen, was uns die Natur, weise wie sie ist, aus irgend einem Grunde vorenthielt. Man wolle nicht witzig sein, wenn man es nicht ist, denn der gekünstelte Witz ist furchtbar. Mit Schmerzen wird er geboren und sein Dasein verursacht häufig Wirkungen, die das geistige und körperliche Wohlbefinden unserer Mitmenschen, auf die wir bei einer Gesellschaft Rücksicht nehmen müssen, nicht unbedeutend gefährden. Fürchterlich ist der Witz, der darin besteht, ober richtiger gesagt, der darin bestehen soll, alle Worte umzudrehen. Jemand gebraucht das Wort »Lampe«, der Witzbold macht daraus »Pamle« und findet es unbegreiflich, daß man sich darüber nicht halbtot lacht.

Fremdworte zu verdrehen oder falsch anzuwenden, halten auch viele für äußerst witzig, für revanchieren sagen sie retouchieren und für diskutieren sagen sie diskontieren. Erstens ist das nicht witzig, sondern nur dumm, und zweitens ist dieses Spiel gefährlich. Mit Fremdwörtern soll man, wenn man sie überhaupt anwendet, keinen Mißbrauch treiben, man kommt sehr leicht in den Verdacht, es nicht besser gewußt zu haben, und stellt sich damit ein großes Testimonium paupertatis, ein geistiges Armutszeugnis, aus. Man soll, selbst im Scherz, ein Fauteuil, Portefeuille und ein Feuilleton ebensowenig mit einander verwechseln wie mir und mich. Selbst dem alten Wrangel nahm man das zuweilen übel und nur wenige von uns haben solche Verdienste aufzuweisen wie der alte Haudegen.

Abgekürzt, gleichsam im Stenographen- und Telegrammstil zu reden, galt auch eine Zeitlang für witzig. Gott sei Dank scheint das neue Jahrhundert das »m.w.« = machen wir, »f.K.« = feine Kiste und ähnliche Redensarten verschlungen zu haben. Ein Glück wäre es; derartige geistreiche Bemerkungen machen nervös wie das berüchtigte Kriki, das lammfromme Menschen in rasende Hyänen verwandeln konnte.

[331] 332. Die Pointenmörder gehören zu jenen Leuten, die stündlich dreimal totgeschlagen zu werden verdienten. Wer einen Witz oder eine Anekdote erzählen will, sollte sich erst im stillen, dadurch, daß er sich die Geschichte leise erzählt, vergewissern, ob er auch die Pointe weiß. Es ist grausam für die Zuhörer, wenn jemand mitten in einer Geschichte stecken bleibt und dann eingestehen muß: »Wie es weiter geht, habe ich leider vergessen.«

Einige morden auch die Pointe. Wenn sie sagen sollen: »Im Wonnemonat Mai juchhe –da kommt der Kommandierende« erzählen sie mit tödlicher Sicherheit: »Im Wonnemonat Mai hurra – da kommt der Kommandirende« und sie zerbrechen sich den Kopf darüber, warum der Vers sich nun mit einemmal nicht mehr reimt.

Pointenmörder sind ebenso gefürchtet, wie jene Leute, die den ersten besten Menschen, der bei ihnen vorbeigeht, am Arme fassen, ihn dann an den Rockknöpfen festhalten und zu ihm sprechen: »Sie müssen mir einen Augenblick zuhören, ich weiß eine wunderbare Geschichte für Sie.«

Natürlich werden aus der einen Geschichte wenigstens fünfundzwanzig. Der gute Ton, den man in allen Lebenslagen zeigen und bewahren soll, verbietet es, den Märchenerzähler zu ermorden, aber er verdiente es, daß wir es thäten.

Nie darf man bei der Tisch oder Gesellschaftsunterhaltung jemanden anfassen und anrühren, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Wer uns nicht zuhört, weil wir vielleicht entsetzlich fades Zeug in ödem, monotonem Ton vortragen, wird uns sein Gehör auch dann nicht schenken, wenn wir mit dem Fächer seine Hand berühren oder wenn wir als Herr den bloßen Unterarm der Dame berühren. Was wir sagen und wie wir es sagen, soll so sein, daß man uns aufmerksam zuhört.

[332] 333. Sprich nicht immer von dir selbst! Einige wünschen nicht nur nicht, daß man ihnen zuhöre, sondern sie wollen die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft erregen, und da wird der Trieb der Eitelkeit und des Stolzes, der erste sein zu wollen, oft so stark, daß er sich zu den niedrigsten Dingen erniedrigt. Dies führt dann häufig dazu, daß Leute, lediglich um allen zu gefallen, nicht nur die unglaublichsten, sondern auch oft die abgeschmacktesten Geschichten erzählen, deren Held im Essen, Trinken und anderen hervorragenden Beschäftigungen sie selbst sind. Namentlich Sportleistungen pflegen in das Unglaublichste übertrieben zu werden.

Für jeden ist die Versuchung sehr groß, von sich selbst, seinen eigenen Leistungen und seinen eigenen Angelegenheiten zu sprechen, und doch sollte man das nie thun: was uns selbst sehr wichtig erscheint, ein Ereignis, das für uns, für die ganze Gestaltung unseres Lebens vielleicht von einschneidendster Bedeutung ist, interessiert unsere Mitmenschen in den meisten Fällen absolut nicht. Als wohlerzogene Leute werden sie Interesse heucheln, aber im stillen werden sie denken: Du lieber Gott, ich habe genug mit meinen eigenen Angelegenheiten zu thun, was langweilt der Mensch mich nun auch noch mit den seinigen?

Wenn wir etwas Angenehmes erlebt haben, drängt es uns oft, dies anderen mitzuteilen, damit auch diese sich mit uns freuen. Alle Menschen sind mehr oder weniger Egoisten, ohne Egoismus, im guten Sinne, geht es heutzutage auch gar nicht mehr. Das Wort: »si tu vales, ego valeo«, »wenn es dir nur gut geht, geht es auch mir gut«, paßt für die heutige Zeit nicht mehr, es müßte heißen: »Mir geht es gut, sobald ich aus deinem Munde höre, daß es dir besser gehen könnte.«

Das Glück, das uns zu teil geworden ist, interessiert unsere lieben Nächsten viel weniger als das Unglück, das uns betroffen.

[333] 334. Diskretion in Geldangelegenheiten. Sprich nie von dir selbst, vor allen Dingen nie von deinen Finanzen. Einige Menschen sind darin unglaublich vertrauensselig. Sie denken sich gar nichts dabei, ganz ruhig ihrem Tischnachbarn zu erzählen, daß sie heute einen großen Verlust gehabt haben oder aber ein feines Geschäft machten. Sie nennen die Zahl auf Heller und Pfennig: wenn sie verdienten, um Neid zu erregen, wenn sie Verlust hatten, um bemitleidet zu werden. Ohne sich etwas dabei zu denken, erzählen sie, wie groß oder wie gering ihr Vermögen sei und wie viel sie im Jahr zu verzehren hätten – junge Leutnants pflegen mit Vorliebe davon zu sprechen, daß sie bis über beide Ohren in Schulden säßen und sich demnächst durch eine reiche Heirat arrangieren mußten. Dies ist besonders dann sehr taktvoll, wenn die Tischdame ein liebenswürdiges, aber armes Mädchen ist.

Seine eigenen Angelegenheiten kann man nie geheim genug halten – was ich über mich selbst erzähle, wird weitererzählt, und wie der kleine Schneeball, der einen mit Schnee bedeckten Berg herabrollt, sich unterwegs in eine Lawine verwandelt, so wird das, was man selbst sagte, bei dem Weitererzählen in das Unermeßliche übertrieben. Wer da erzählt, durch den Treubruch eines Freundes tausend Mark ärmer geworden zu sein, darf sich nicht wundern, wenn er eines Tages hört, daß er dicht vor dem Bankerott stehe.

[334] 335. Indiskretion Künstlern gegenüber. Ebensowenig wie man von seinen eigenen Angelegenheiten sprechen soll, darf man sich nach den Angelegenheiten seiner Tischnachbarn erkundigen, wenn man nicht den Verdacht aufkommen lassen will, indiskret, um nicht zu sagen taktlos, zu sein. Namentlich Künstlern und Schriftstellern gegenüber wird dies oft außer acht gelassen.

Die Dame, die einen Künstler zu Tisch hat, fühlt sich dadurch zuweilen sehr geehrt, besonders dann, wenn der Künstler »einen Namen« hat. Sie interessiert sich für alles, sie hat sich aus der Leihbibliothek schon sämtliche Romane des Schriftstellers kommen lassen, weil sie wußte, daß sie heute mit ihm zusammentreffen würde, und will nun über alles Auskunft haben: wie er es macht, wenn er ein Buch schreibt; wie lange er daran arbeitet; ob er täglich schreibt oder für die Arbeit solche Augenblicke abwartet, in denen »die heilige Begeisterung der Kunst ihn erfüllt«, und schließlich will sie wissen, was er denn für solches Buch bezahlt bekommt. Es ist geradezu unglaublich, wie taktlos die meisten Menschen in dieser Hinsicht sind. Wird man einen Kaufmann fragen, was er verdient? Kein Mensch wird je auf diesen Gedanken kommen, aber bei einem Künstler ist das etwas anderes. »Was erhalten Sie denn nun an Honorar für ein Porträt, Herr Professor?« – »Lohnt es sich wirklich, Romane zu schreiben? Ich habe immer gehört, es werde entsetzlich schlecht bezahlt? Verdienen Sie wirklich so viel damit, daß Sie davon leben können? Ich habe da gestern eine reizende Geschichte von Ihnen gelesen, sie war ja sehr hübsch, aber doch auch nur sehr kurz, mehr als zehn Mark können Sie doch unmöglich dafür erhalten haben?« Ist der Künstler ein Virtuose auf dem Klavier oder der Geige, so heißt es: »Sagen Sie, bitte, denn es interessiert mich wirklich sehr, lohnt es sich denn eigentlich, ein Konzert zu geben? Bleibt nach Abzug aller Kosten denn wirklich noch etwas übrig und darf man, ohne neugierig sein zu wollen, wissen, wieviel? Bringt es nicht mehr ein, wenn man nur Unterrichtsstunden giebt und sich diese hoch bezahlen läßt? Sagen Sie, bitte, was nehmen Sie denn nun so im Jahre ein?«

Fast jeder Künstler muß derartige Fragen über sich ergehen lassen, und begeht er dann, nur um Ruhe zu haben, die Dummheit, die Fragen mit Zahlen zu beantworten, so heißt es: »Was? Soviel verdienen Sie? Das ist doch wohl kaum möglich. Da bekommt man ja selbst Lust, zu schriftstellern: an Talent fehlt es mir, glaube ich, nicht, in der Schule machte ich immer die besten Aufsätze. Wenn ich nur Zeit hätte, würde ich es auch schon können, ich will es doch nächstens einmal versuchen, vielleicht haben Sie dann die Güte, mir später zu helfen, mir zu sagen, wo ich die Arbeit hinschicken kann, und wenn ich Sie sehr bitte, sind Sie auch wohl so liebenswürdig, meinem Manuskript eine Empfehlung beizulegen, denn wenn ich eine Geschichte geschrieben habe, will ich sie doch auch gern verkaufen. Ich will zufrieden sein, wenn ich mir jeden Monat nur ein kleines Taschengeld verdiene, nicht wahr, das kann doch nicht so schwer sein, glauben Sie nicht auch, daß ich Talent habe?«

Obgleich ich den Versuch gemacht habe, ein solches Gespräch kurz zu beschreiben, muß ich sagen, daß solche Unterredungen jeder Beschreibung spotten: sie zeugen von einer Neugierde, die fast beleidigend ist, von einer Taktlosigkeit, die verletzen muß.

Wer selbst jemanden ausfragt, versetze sich in die Lage hinein, daß er selbst mit derartigen Fragen halbtot gequält wird. Ein Untersuchungsrichter geht mit seinen Fragen sparsamer und taktvoller um, als eine Dame, die sich bei einem Künstler für alles, alles, alles interessiert.

[335] 336. Religion und Politik sind zwei Gesprächsthemata, die in einer Gesellschaft, wenigstens dann nicht, wenn Damen zugegen sind, berührt werden dürften. Ein Atheist und ein Deist, ein Protestant und ein Katholik, ein Monist und ein Dualist werden sich über religiöse Fragen ebensowenig einigen, wie ein Liberaler und ein Konservativer sich jemals über den Wert der Handelsverträge, der Kanalvorlage, der Flottenvermehrung oder was sonst aktuell ist, einig werden. Der Disput führt leicht zu Meinungsverschiedenheiten, diese zum Streit und da keiner nachgeben und sich für besiegt erklären will, wird die Unterhaltung oft mit Leidenschaft und Geschrei fortgesetzt, weil da viele glauben: »Wer am lautesten schreit, behält schließlich recht.«

Erzähle nie in der einen Gesellschaft, was du in der anderen gehört hast, und behalte für dich, was dir unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit anvertraut worden ist. »Ich habe zwar mein Wort gegeben, zu schweigen, aber Ihnen kann ich es ja ruhig sagen« ist eine Redewendung, die man oft hört, die man aber niemals hören dürfte. Wenn jemand so spricht, ist es zwecklos, ihm zu sagen: »Bitte, brechen Sie Ihr Wort nicht, behalten Sie das Geheimnis lieber für sich,« er hat doch keine Ruhe, bis er aus der Schule geplaudert hat, und was er uns nicht erzählt, berichtet er dann einem andern, er erzählt es doch.

Nur schlecht erzogene Menschen sprechen von ihren häuslichen Angelegenheiten, dem Gesinde und den kleinen Ereignissen in der Nachbarschaft, und nur ungezogene Menschen machen bei Tisch ihren Herrn oder ihre Dame auf die Schwächen eines dritten aufmerksam und moquieren sich darüber.

[336] 337. Was ziehe ich als Herr an? Es ist eine traurige, aber feststehende Thatsache, daß in keinem Lande die Herren, die auf eine Gesellschaft gehen, sich so schlecht anziehen, wie bei uns. Ausnahmen bestätigen wie überall auch hier die Regel. Jeder Herr sollte sich immer so gut anziehen, daß Bemerkungen wie die: »Der zieht sich einmal gut an«, weil selbstverständlich, fortfallen.

Etwas Schuld daran, daß wir Herren in der Kleidung nicht ganz auf der Höhe stehen, liegt an unseren Schneidern. Selbst unsere ersten, besten und teuersten »Tailleurs« können sich nicht im Entferntesten mit den englischen Kleiderkünstlern messen. Was für die Damengarderobe Paris und Wien, das ist für die Herrenmode und für den guten Sitz der Herrenkleider London, selbst dann, wenn der Stoff »Made in Germany« ist.

Die deutschen Schneider, wenigstens die allermeisten, sind zufrieden, wenn der Anzug sitzt, keine Falten wirft und paßt, der englische Kleiderkünstler legt darauf Wert, daß der Kunde in dem Anzug, den er sich bestellte, möglichst schlank und elegant aussieht. Er arbeitet infolgedessen ganz anders. Keinem englischen Schneider wird es einfallen, an den Beinkleidern und an der Weste eine Schnalle anzubringen, um das Kleidungsstück enger oder weiter machen zu können. Er arbeitet auf den Leib und rechnet weder mit dem Umstand, daß sein Kunde stärker, noch daß er schlanker wird. Teurer ist es, sich so kleiden zu lassen, denn namentlich wir Deutschen, die wir das Bier lieben und dem Sport noch nicht so zugethan sind wie die Engländer, wechseln oft mit dem Umfang unserer Taille – dünner werden wir nur in den seltensten Fällen, und dann auch nur infolge einer Krankheit.

[337] 338. Hemdensitz. Was von den Anzügen gilt, gilt in gleicher Weise von den Manschettenhemden. Wer darauf achtet, wird nie bei einem Engländer sehen, daß das Hemd sich bauscht oder aus der Weste an den Seiten herauskriecht. Dabei wird es aber keinem englischen Hemdenmacher einfallen, an dem Manschettenhemd eine Zunge zu befestigen, die man an das Unterbeinkleid anknöpft. Worin das Geheimnis besteht, die Wäsche so zu arbeiten, vermag ich nicht anzugeben, aber einen guten Rat kann ich doch erteilen: man soll sich nie ein Hemd anmessen lassen, ohne die Weste, die man zu dem Hemde tragen will, anzuhaben. Wer sich ein Frackhemd machen läßt und dieses anprobiert, muß stets hierbei seine Frackweste anhaben, nur so kann er sehen, ob die Wäsche sitzt. Das ist eigentlich ganz selbstverständlich, aber es wird fast immer dagegen gefehlt. Ebenso sollte man sich nie Kragen kaufen, ohne vorher einen Probekragen getragen zu haben, der Umstand, daß man seine Halsweite kennt, giebt noch keine Garantie dafür, daß der Kragen richtig sitzt. Ein zu enger Kragen raubt uns die Luft, die wir nun einmal zum Leben nötig haben, ein zu weiter Kragen, der sich bald auf der rechten Seite, bald auf der linken in die Höhe schiebt, sieht entsetzlich aus.

[338] 339. Individuelle Kleidung. Bei Stehkragen richte man sich etwas nach der Höhe seines Halses, überhaupt kleide sich jeder nach seiner eigenen Figur und wähle sich nur solche Sachen, die ihm auch gut stehen. Viele lassen sich einen Anzug machen, weil sie ihren Freund kürzlich in einem solchen bewundert haben, und weil er diesem so ausgezeichnet stand, glauben sie, sie müßten nun auch selbst darin wie ein junger Gott aussehen. Eines schickt sich nicht für alle, was meinen Freund kleidet, ist vielleicht für mich absolut nicht geeignet. Ein Beispiel möge dies erläutern. Große schlanke Herren können eine doppelreihige Weste tragen – Herren, die Anlage zum Starkwerden haben, dürfen dies nicht thun, denn sonst erscheint ihr Bäuchlein leicht als Bauch, und immer soll man daran denken, daß man sich so anzieht, daß man schlank wird.

Schlank ist gleichbedeutend mit elegant.

Wer jung und schlank ist, darf helle Stoffe tragen, wer klein und stark ist, trägt besser eine dunklere Farbe.

[339] 340. Modebilder. Nichts ist falscher, als sich seinen Anzug, sowohl die Farbe des Tuches als die Fasson seines Kleides, nach den Modebildern auszusuchen, die die Schneider uns mit Vorliebe vorzulegen pflegen. Die Jünglinge, die dort abgebildet sind, besitzen Idealgestalten, um die selbst Götterjünglinge sie beneiden könnten: sie sind alle groß und schlank, ohne jedes körperliche Gebrechen. Ich wenigstens habe noch nie auf einem Modebild einen Herrn gesehen, der sich schlecht hält, der eine etwas zu hohe Schulter, einen Buckel, ein Embonpoint oder gar krumme Beine hat. Nur die allerwenigsten Menschen haben eine Normalfigur ohne jeden Fehl und ohne Tadel, das soll man nicht vergessen. Weg mit den Modebildern, die uns nur dazu verleiten, uns Sachen anzuschaffen, die später absolut nicht unseren Erwartungen entsprechen, die uns bittere Enttäuschungen bereiten. Ein kleiner dicker Herr kann sich sechzigmal nach einem Modebild einen Anzug bestellen, er wird doch nie so aussehen, wie jener holde Jüngling, der auf dem Bild tadellos gekleidet ist und in ihm den Wunsch erweckte: »So möchtest du auch aussehen.«

Man sei nicht hartköpfig bei der Auswahl seiner Stoffe und der Fasson seines Anzuges, sondern folge den Anweisungen und den Ratschlägen seines Schneiders, vorausgesetzt natürlich, daß der Mann etwas von seinem Handwerk versteht, individuell arbeitet und nicht alle seine Kunden nach dem mit Recht so beliebten und berühmten Schema »F« anzieht.

[340] 341. Man ziehe sich gut an, aber nicht gekünstelt. Alles Erzwungene in der Kleidung setzt Mangel an Verstand voraus. Kleidet sich ein verständiger Mensch besser als andere, um sie zu übertreffen, so ist er ein Geck, kleidet er sich schlechter, so ist er nachlässig.

Gut angezogen ist der, der da das Gefühl hat, angezogen zu sein. Das aber soll nicht dazu führen, in den Bewegungen unnatürlich und steif zu werden, im Gegenteil, man soll sich stets so benehmen, als trüge man gar keine Kleider. Kein Anzug darf uns aus unserer Ruhe bringen – nur ungebildete Leute benehmen sich in ihrer einfachen Joppe anders als wenn sie einen Frack tragen.

[341] 342. Der Frack. Vor dem Frack haben die meisten Herren eine Abneigung, ihnen graut davor, wenn sie sich dieses »entsetzliche Ding« anziehen sollen. Warum? Lediglich, weil wir es nicht gewohnt sind, den Frack zu tragen, weil wir ihn leider viel zu selten tragen. Im Ausland, in England und Frankreich, in Amerika und in den meisten anderen Ländern wird es keinem Herrn, der Anspruch auf Bildung macht, in den Sinn kommen, bei Tisch, selbst im eigenen Haus, in einem anderen Rock zu erscheinen als im Frack.

Wir kommen in der Hausjacke – entsetzlicher Gedanke. Etwas Schuld daran, daß wir den Frack so selten anziehen, liegt darin, daß bei den meisten Einladungen, die wir erhalten, die Worte auf der Karte stehen: »Bitte Ueberrock.«

Das sollte nicht sein. Von den Damen, die zu uns kommen, verlangen wir, daß sie Toilette machen, warum fordern wir da nicht auch von den Herren, daß sie sich tadellos anziehen? Zum Gesellschaftsanzug gehört der Frack, wenigstens in der Theorie. Es wäre hübsch, wenn mit der Zeit sich auch diese Theorie in die Praxis verwandeln würde, dann würden wir Herren ganz von selbst darauf kommen, mehr Wert auf unsere Kleidung zu legen.

[342] 343. Die Wäsche sollte tadellos sein wie der Anzug, aber sie ist es leider nicht immer. Wir haben nun einmal einen Hang zur Sparsamkeit in uns, und wer auf eine Gesellschaft geht, betrachtet sich seinen Kragen eine Viertelstunde, überlegt sich: »Ist er noch sauber genug oder nicht?« und wenn er selbst keine Antwort auf diese Frage findet, so holt er sich bei seiner Gattin Rat.

Ein Kragen, den man schon getragen hat, geht nie für eine Gesellschaft, selbst dann nicht, wenn er tadellos rein ist.

Auch ein Hemd darf man nicht zu einer Gesellschaft anziehen, wenn man es auch nur für ganz kurze Zeit bereits einmal angehabt hat.

Die Herrenhemden sind der Prüfstein dafür, ob jemand etwas auf sein Aeußeres giebt. Sie sollen über jeden Zweifel erhaben sauber sein, sie müssen gut sitzen und die gute Sitte verlangt es, daß sie heutzutage aus einem Stück gearbeitet sind, daß man Hemden mit festem Einsatz und mit festen Manschetten trägt. Wer es zu Hause nicht thut, weil es ihm zu unbequem oder zu teuer ist, trage sie wenigstens in Gesellschaft: es sieht zu entsetzlich aus, wenn jemand ein Jägerhemd trägt, die Aermel, damit man sie nicht sieht, weit hinaufschiebt und sich dann um die Handgelenke lose Manschetten zieht. Wenigstens sollte man dann über das Jägerhemd ein weißes Hemd ziehen und an diesem die Röllchen befestigen: selbst Leute, denen der Arzt es verordnet hat, nur Wolle zu tragen, werden nicht daran sterben, wenn sie hin und wieder für wenige Stunden ein leinenes Hemd anziehen.

Zu jeder Gesellschaft gehört ein weißes Hemd, augenblicklich ist es gestattet, dieses Hemd nicht stärken zu lassen – ob sich die Mode, die entschieden hübsch und praktisch ist, halten wird, ist eine zweite Sache.

Auch die bunten Hemden, die man auf der Straße oder im Hause trägt, werden nicht mehr auf der Brust gestärkt und damit fällt eigentlich und uneigentlich für alle, die da behaupten, Hemden mit festen Manschetten seien ihnen zu unbequem, der Einwand fort. Ebenfalls sind die Kosten der Anschaffung, des Waschens und Plättens nicht höher, als wenn man Hemden, Manschetten und Kragen sich einzeln anschafft und einzeln reinigen läßt. Ich sage auch Kragen, denn bei den Herrenhemden, die nach der neuesten Mode gearbeitet sind, ist der Kragen am Hemde befestigt – nur so ist ein tadelloser Sitz desselben zu erreichen. Selbstverständlich müssen die Hemden nach Maß gearbeitet sein. Wer Wert darauf legt, daß seine Wäsche gut sitzt – und wer thut das nicht – sollte sich nie fertige Sachen kaufen, auch die bunten, ungestärkten Hemden müssen besonders angefertigt werden, wenn sie nicht Gott weiß welche Falten werfen sollen. Außerdem ist die fertige Wäsche meist aus minderwertigen Stoffen gearbeitet und namentlich bei dem Leinenzeug, das von den Waschfrauen oft mit einer entsetzlichen Lieblosigkeit behandelt wird, ist das teuerste stets das billigste.

Der Kragen ist entweder umgelegt, der sogenannte Klappkragen, oder er steht aufrecht. Ist er am Hemd befestigt, also mit diesem aus einem Stück gefertigt, so ist er immer ein Stehkragen.

Bei kleinen Gesellschaften kann man zwischen den beiden Kragen nach Belieben wählen. Zum Frackanzug gehört aber, wenigstens für die Jugend und die jungen Eheleute, der aufrecht stehende Kragen. Alten Herren ist auch beim Frack der Klappkragen erlaubt, aber sie sollten nicht zu altmodische Fassons tragen.

[343] 344. Papierkragen. Wer sich einen Papierkragen von Mey und Edlich umbindet, verdient, daß seine »Wäsche« in Brand gesteckt wird.

Unvergeßlich wird mir ein Anblick bleiben, den ich vor einigen Jahren einmal erdulden mußte. Ein junger Professor, sehr flott und lustig, der nicht nur den Ruf hatte, ein großer Gelehrter, sondern auch ein großer Lebemann zu sein, erschien eines Mittags bei der Table d'hôte im Jägerhemd, über das er sich nicht einmal ein Vorhemdchen (auf deutsch: serviteur genannt) gebunden hatte, und mit einem Papierkragen.

Wer es nicht selbst gesehen hat, wird es mir nicht glauben, aber wahr ist es deshalb doch. Wenn sich so die Lehrer der Jugend, die ihren Zöglingen in allem ein Vorbild sein sollen, anziehen, wie wird sich da erst die Jugend kleiden?

[344] 345. Die Krawatte, Halsbinde oder Schlips genannt, bindet man sich meistens selbst. Fast hätte ich gesagt, die Krawatte ist heute dasjenige Kleidungsstück, für das die Herren das meiste Geld ausgeben. Wir Deutschen sind auch hierin bescheiden; wer bei uns fünf Mark für einen Schlips bezahlt, hat so ungefähr die Empfindung, als müßte er eigentlich unter Kuratel gestellt werden. Im Ausland kennt man ganz andere Preise und ich habe in Paris einen Bekannten, der keine Krawatte trägt, die nicht wenigstens 20 Mark (25 Fr.) kostet. Zwischen den französischen, englischen und deutschen Krawatten besteht thatsächlich ein gewaltiger Unterschied und zwar nicht nur im Preise, erstere sind aus einem viel besseren Stoff und vor allen Dingen sind sie viel besser und praktischer geschnitten. Die Enden, die später die Schleifen bilden, sind breiter, viel breiter, infolgedessen sieht die ganze Krawatte voller und schöner aus.

Ich verwahre mich ausdrücklich gegen den Vorwurf, den man mir etwa machen könnte, daß ich alles lobe, was aus dem Ausland kommt, und unsere Sachen tadle. Ich lobe das Gute und schelte auf das Schlechte in der Hoffnung, daß sich auch in uns bald die Eitelkeit regen möchte, daß auch wir bald Wert legen auf gute Kleidung und unsere Schneider anhalten, uns für unser schweres Geld auch wirklich gute Sachen zu liefern.

Die Krawatte zu binden, ist leicht, sie gut zu binden erfordert, namentlich für ungeschickte Hände, eine lange Uebung; es giebt Herren, die den Griff im ersten Augenblick heraus haben, und andererseits wieder Herren, die sich wochen- und selbst monatelang üben und das Kunststück doch nicht fertig bringen.

Die herrschende Farbe der Schlipse ist schon seit Jahren schwarz, der Stoff ist wohl immer Seide. Aber auch farbige, in zwei oder mehreren Farben schillernde Schlipse werden getragen und sind sowohl auf der Straße, wie in kleineren Gesellschaften erlaubt. Zum Frack gehört, wenn es sich um eine Gesellschaft handelt, bei uns immer der weiße Schlips – im Ausland, wo man den Frack zu jedem Diner anzieht, erscheint man in einem kleinen Kreise mit schwarzer Krawatte, bei zahlreicherer Gesellschaft mit weißer Binde. Auch Schlipse von heller Chamoisfarbe sind heute zum Frackanzug gestattet.

Eine weiße Krawatte benutzt man nur einmal, man bindet sie nicht wieder um, wenn man sie einmal getragen hat, denn Glanz und Schönheit sind nach dem ersten Gebrauch dahin.

Aeltere Herren, denen das Selbstbinden zu unbequem ist, tragen fertige Krawatten, hübsch aussehen thun sie aber nicht, und momentan, wo alles selbst bindet, ist die Auswahl in fertigen Schlipsen sehr gering.

Trägt man den Deckschlips, was man aber in Gesellschaften nie thun sollte, da er immer den Verdacht erweckt, daß das Hemd nicht ganz tadellos rein ist, so hält man die beiden Enden des nur einmal geschlungenen Schlipses mit einer Tuchnadel zusammen.

[345] 346. Die Tuchnadel besteht aus einem echten Stein, einer echten Perle oder einem Sportemblem. Wenn man eine Nadel trägt, muß sie schön und wertvoll sein, sonst lasse man sie lieber zu Hause. Ein Diamant, dem man ansieht, daß er unecht ist, und eine Perle aus Glas sind keineswegs schön. Auch Similidiamanten sollte man um seiner selbst willen nicht tragen, wenngleich die Similisachen jetzt ja oft von den echten nicht zu unterscheiden sind. Sportembleme müssen schon sehr hübsch sein, wenn sie vornehm aussehen sollen, im allgemeinen sehen ein Hufeisen mit einer verschlungenen Peitsche, ein Bicycle und ähnliche Dinge nicht überwältigend aus. Einen Namenszug mit Diamanten trägt man als Tuchnadel nur dann, wenn er uns von einem Fürsten zum Andenken verliehen worden ist, sich seinen eigenen Namenszug in Perlen fassen zu lassen, ist unschön, ebensowenig trägt man eine Krone, selbst dann nicht, wenn man hierzu berechtigt ist.

Selbstverständlich trägt man eine Tuchnadel nur bei dem Deckschlips, niemals bei dem Schleifenknoten.

Wer eine Tuchnadel trägt, ist darauf bedacht, sie nicht zu verlieren. Es giebt da ein unendlich einfaches Mittel, das so einfach ist, daß man ihm nicht trauen wird, aber es ist gut. Man befestige unten an der Nadel ein kleines Stück Kork und schiebe es dann etwa bis zur Hälfte des Stils in die Höhe. Selbst mit Gewalt ist die Nadel dann nicht aus dem Schlips herauszuziehen – man kann dies erst, nachdem man das Stück Kork, das ja durch den Schlips verdeckt wird, entfernt hat.

[346] 347. Herrenschmuck. Wie mit der Tuchnadel, so soll man auch sehr wählerisch sein mit dem Schmuck, den man als Herr trägt.

Schmuck zu tragen ist das Vorrecht der Damen, das wir ihnen nicht streitig machen dürfen, wenn wir nicht »neidisch« erscheinen wollen. Die Schönheit des Mannes besteht in seiner Natur und in seiner Kraft, nicht darin, daß er Armbänder trägt und sich die Hände voller Ringe steckt. Außer dem Ehering, dem Siegelring und einem Diamantring sollte kein Herr Ringe tragen; viele finden, daß selbst dies schon mehr als genug ist.

[347] 348. Der Siegelring gehört auf den vierten Finger der rechten Hand, daran vermögen selbst die nichts zu ändern, die ihn auf dem rechten Zeigefinger tragen, um mit dem Ring siegeln zu können. Wie sie das Kunststück fertig bringen wollen, ohne sich an dem heißen Siegellack den Finger zu verbrennen, ist mir rätselhaft. Ich sah auch noch keinen, dem dies gelang, wenn er nicht vorher den Ring hübsch vom Finger zog.

[348] 349. Hemdknöpfe. Hat man in dem Einsatz seines Manschettenhemdes Knopflöcher (bald befiehlt dies die launische Frau Mode, bald verbietet sie es), so trage man einfache goldene Knöpfe, eine echte Perle oder einen echten Diamanten – nicht zu groß und nicht zu klein. Die Größe des Geldbeutels wird bestimmen, wie wertvoll der Stein sein kann, aber ein Zuviel wirkt leicht protzenhaft, abstoßend, unfein.

Die Manschettenknöpfe trägt man jetzt nicht mehr rund, sondern bei den flach geplätteten Manschetten mit einer Kette; wohl immer werden sie aus Gold sein, vielleicht in der Goldfassung einen kleinen Stein enthalten. Je einfacher sie sind, desto vornehmer; haselnußgroße Diamanten als Manschettenknöpfe zu tragen, ist protzenhaft.

[349] 350. Die Urkette soll bei einer doppelreihigen Weste von einer Tasche zur anderen reichen, bei der einreihigen Weste wird sie im Knopfloch befestigt. In der letzten Zeit ist es aufgekommen, daß auch Herren, nach Art der Damen, lange, dünne, goldene Ketten tragen, die sie um den Hals hängen. Es sieht sehr hübsch aus, aber nicht jedem erlauben seine Finanzen, stets die neuesten Moden mitzumachen, und man kann auch sehr gut angezogen sein, ohne stets das Allerallerneueste zu tragen. Medaillons und ähnliches »Gebimmel« gehört nicht an die Uhrkette, es sieht nicht hübsch aus, besonders dann nicht, wenn das Medaillon nicht wertvoll ist. Daß man mit Erbstücken und lieben Erinnerungen natürlich eine Ausnahme machen kann und darf, ist selbstverständlich.

[350] 351. Das Fußzeug muß tadellos sein. Ein Herr kann noch so gut angezogen sein, die Boutons seines Hemdes können noch so sehr glitzern, sein Chapeau claque kann noch so neu sein, der Frack kann nach der neuesten Mode bei dem ersten und teuersten Schneider der Welt gearbeitet sein, es hilft alles nichts, wenn der Stiefel nicht gut ist. Selbst zu kleinen Gesellschaften sollte man stets in Lackstiefeln oder in Lackschuhen kommen, die Wichsstiefel gehören auf die Straße. Stiefel, deren Schäfte, man bei jedem Schritt im Salon gegen die Beinkleider schlagen sieht, müßten polizeilich verboten werden, ebenso solche Stiefel, deren Absätze, damit sie nicht schief getreten werden, mit kleinen Nägeln beschlagen sind. Der eleganteste Stiefel bleibt auch für den Herrn, ebenso wie für die Dame, der Knöpfstiefel. Vielen ist das Knöpfen zu unbequem, weil sie überhaupt zu bequem sind sich der Mühe, sich gut zu kleiden, zu unterziehen. Sie helfen sich dann dadurch, daß sie sich Zugstiefel kaufen, auf denen die Knöpfe aufgenäht sind – die Dinger sehen aus, als wenn sie Knöpfstiefel wären, aber sie sind es nicht.

Schnürstiefel haben den Vorzug, dem Fuß einen festen Halt zu geben, aber elegant sehen sie nur in den seltensten Fällen aus. Entweder verschiebt sich die sogenannte »Zunge«, oder die Bänder lockern sich, oder aber die Knöpfe, um die das Band geschlungen wird, sind nicht mehr schwarz, sondern gelblich; kurz und gut, von einer überwältigenden Schönheit sind sie fast nie und doch soll ein Gesellschaftsstiefel das sein.

Bei dem Zugstiefel ist darauf zu achten, daß der Gummizug nicht nur heil, sondern auch schwarz ist.

Der Lackschuh wird wohl immer ein Schnürschuh sein. Mit Halbschuhen und Halbstiefeln geht man unter keinen Umständen auf Gesellschaften, man trägt sie nur im Hause oder auf der Straße.

Ob wir unsere Stiefel spitz oder breit, mit hohen oder niedrigen Absätzen tragen, bestimmt die Mode, nach der man sich wenigstens etwas richten muß, wenn man nicht geradezu auffallen will.

[351] 352. Der Strumpf kommt ebenfalls bei dem Gesellschaftsanzug in Frage: bei dem Schuh ist er fast immer sichtbar, aber auch bei dem Lackstiefel kann der Strumpf an das Lampenlicht kommen, wenn man die Füße übereinander kreuzt oder die Beine übereinander schlägt, was man nie thun sollte, aber doch leider oft thut.

Zum schwarzen Stiefel und zum schwarzen Beinkleid gehört ein schwarzer Strumpf, entweder ganz schwarz oder schwarz mit bunten, dunkeln Linien. Ein dicker, wollener, grauer, gestopfter Wadenstrumpf, der unter der Frackhose plötzlich zum Vorschein kommt, ist geradezu entsetzlich. Seidene Strümpfe sind natürlich das eleganteste, aber wer nur Wolle tragen darf, wähle wenigstens für Gesellschaften Halbwolle. Man soll nicht nur auf das Wert und Gewicht legen, was die anderen sehen, sondern um seiner selbst willen soll man von oben bis unten tadellos gekleidet sein.

Strümpfe in auffallenden Farben zu tragen, darf man sich nur bei dem Sportsanzug gestatten. Selbstverständlich zieht man den Strumpf über das Unterbeinkleid, nicht umgekehrt: die Unterhose darf nie zum Vorschein kommen. Leider wird hierauf sehr wenig geachtet.

[352] 353. Das Unterbeinkleid ist von Seide, Wolle oder Baumwolle. Wer sich einmal an Seide gewöhnt hat, wird sie zeitlebens in allen Jahreszeiten, selbst im strengsten Winter, beibehalten. Sie trägt sich äußerst angenehm und die Kosten der Anschaffung werden durch die lange Haltbarkeit wieder eingebracht. Aeltere Herren tragen zuweilen Unterbeinkleider, die am Fuß zusammengebunden werden – es sieht sehr hübsch aus, wenn die Schleife aufgeht und die Bänder unter der Hose herausgucken. Schon um dies oder ähnliches zu vermeiden, sollte man stets das Unterbeinkleid in die Strümpfe stecken.

[353] 354. Unterjacken oder Unterhemden zu tragen ist, von allen anderen Gründen ganz abgesehen, schon deshalb nötig, um einen guten Sitz des Oberhemdes zu erzielen. »Aufs blanke Leib«, wie man in meiner Heimat sagt, sitzt kein Manschettenhemd gut.

Die Aermel der Unterhemden dürfen unter keinen Umständen aus dem Frackärmel hervorsehen oder unter der Manschette, einerlei ob diese fest oder lose ist, sichtbar sein. Entweder trage man kurze Aermel, die nur den Oberarm bedecken, oder aber man lege die Aermel um. Es sieht wirklich nicht hübsch aus, wenn ein Jägerhemd, darüber ein weißes Hemd und hierüber wieder Röllchen sichtbar sind.

[354] 355. Die größte Sauberkeit nicht nur des Anzugs, sondern auch der Person selbst aber ist die erste Bedingung, gut angezogen zu sein. Das Wasser ist billig und man kann deshalb hiermit sehr verschwenderisch umgehen. Wer das kalte Wasser nicht liebt, nehme warmes, das außerdem noch den Vorzug hat, besser zu reinigen. Man wasche sich lange und gründlich, selbst der sauberste Mensch kann immer noch sauberer sein.

Putze die Zähne vor jeder Gesellschaft und spüle den Mund mit einem guten Mundwasser aus. Namentlich starke Raucher sollten dies nie verabsäumen – der Tabaksgeruch, der zuweilen dem Gehege ihrer Zähne entfleucht, ist für Damen oft geradezu betäubend. Aus diesem Grunde sollte man auch, wenigstens eine Stunde bevor man auf eine Gesellschaft geht, nicht rauchen. Die brennende Cigarre erst vor der gastlichen Pforte wegzuwerfen, dient nicht dazu, sich angenehm zu parfümieren. Mit dem sonstigen Parfüm sei man sparsam. Herren sollten nie etwas anderes nehmen, als höchstens einige Tropfen Eau de Cologne: es ist weibisch, nach Patschuli oder ähnlichem Zeug zu riechen.

[355] 356. Das Taschentuch sei nicht zu groß und nicht zu klein, und wenn man es benützt, lege man es nicht seiner ganzen Ausdehnung nach über sein Gesicht, bevor man sich die Nase reinigt. Viele tragen zwischen der Weste und dem Hemd ein seidenes Tuch, das natürlich nur zur Dekoration dient und das man nicht benützt. Im übrigen braucht man sich gar nicht zu genieren, das Taschentuch, das aus Leinen oder Seide ist, zu benützen. Nur ungebildete Menschen drehen sich um oder kriechen halb unter den Tisch, wenn sie die Nase putzen wollen, nur ganz ungebildete Menschen bitten um Verzeihung, wenn sie das Tuch ziehen.

Man trompete nicht, sondern benütze das Taschentuch, ohne Geräusch zu machen – dann wird es niemand anstößig finden, das Tuch zu gebrauchen.

Die Farbe des Taschentuches, das man zur Gesellschaft mitnimmt, ist weiß. Bunte Farben sind nicht üblich, höchstens dürfen die bunten Farben nur den Rand des Tuches zieren. Der Grundton muß weiß sein.

Einige Leute haben die schlechte Angewohnheit, das Taschentuch, bevor sie es wieder fortstecken, zusammen zu legen, damit es möglichst klein wird und damit die Taschen nicht abstehen. Das thut man nicht, auch steckt man das Taschentuch nicht in die Hosentasche, sondern immer in die Rocktasche.

Zuweilen sieht man auch junge Leute, die sich, bevor sie das Tuch gebrauchen, eine reine Ecke aussuchen – selbst gebildete Herren pflegen dies dann zu thun, wenn sie Schnupfen haben. Wer da weiß, daß er das Tuch häufig gebrauchen wird, nehme als vorsichtiger Mann mehrere Taschentücher mit, ein Reservetuch sollte jeder bei sich tragen. Niemand kann wissen, ob er nicht Nasenbluten bekommt oder mit seinem zweiten Tuch vielleicht jemandem helfen kann; ich sage helfen, nicht aushelfen, denn daß jemand ohne Taschentuch ausgeht, ist zwar auch schon vorgekommen, aber trotz alledem unglaublich.

Wenn man das Taschentuch zieht, um es zu benützen, so soll man es nicht mit Ostentation auseinanderfalten. Einige fassen das Tuch, bevor sie sich schnupfen, an einer Ecke an und knallen damit, als hätten sie eine Peitsche in der Hand, ohne deswegen der Postillon von Longjumeau zu sein. Sie erwecken dadurch den Anschein, sagen zu wollen: »Leute, seht mich an, was bin ich für ein seiner Mensch, ich habe sogar ein reines Taschentuch.«

Das Taschentuch soll heil sein. Es ist genant, wenn das Taschentuch nur aus Löchern besteht und man trotz allen Suchens keine Ecke des Tuches findet, in der man sich die Nase rümpfen könnte. Deshalb sehe man sich zu Hause jedes Tuch an, bevor man es in die Tasche steckt, es kann nie heil und sauber genug sein.

[356] 357. Bart und Haar müssen stets frisiert und zurecht gemacht sein. Es ist lächerlich, als ernsthafter Mann sich Locken brennen zu lassen oder das Haar leicht gewellt zu tragen, aber es ist ungehörig, gar keine Sorgfalt auf die Haare zu wenden und herumzulaufen wie ein Buschmann oder wie ein moderner Struwelpeter. Lange Mähnen zu tragen, ist nur das Vorrecht geistig oder musikalisch bedeutender Menschen, wir modernen Sterblichen müssen uns jeden Monat wenigstens einmal die Haare schneiden lassen.

Nie dürfen die Wangen und das Kinn einem Stoppelfeld gleichen; tadellos rasiert zu sein, ist eine der Hauptbedingungen, wenn man gut aussehen will. Wer es irgend kann, sollte es lernen, sich selbst zu rasieren; für mich wenigstens gab es nie etwas Schrecklicheres, als mir mit der nassen, kalten Hand eines Dritten im Gesicht herumfahren zu lassen. Schauderhaft, einfach schauderhaft! Und dann diese Abhängigkeit vom Barbier. Um sechs Uhr soll man zum Diner, um fünf Uhr hat man sich den Schaumschläger in seine Wohnung bestellt, um sich in Ruhe anziehen zu können; selbstverständlich kommt der Mann nicht pünktlich, man kann sich freuen, wenn er überhaupt erscheint. Dann aber ist es so spät, daß die Rasiererei Hals über Kopf geht, unter zehn Fällen wird man neunmal geschnitten und man erscheint auf der Gesellschaft mit einem Schmiß, der einem Korpsstudenten Ehre machen würde.

Man kann nie gut genug rasiert sein und man sollte sich nie damit beruhigen: »Ach was, heute geht es wohl noch, heute brauche ich nicht zum Barbier zu gehen.« Wie alle derartigen Fragen, ist auch diese eitle Selbstbelügung, die der Bequemlichkeit entspringt. Wer da aber schön sein will, muß Schmerzen leiden, das ist eine alte Geschichte.

Der Vollbart sei sauber: es sollte eigentlich nicht vorkommen, daß es Leute giebt, die es bei der Morgentoilette ängstlich vermeiden, ihren Bart mit dem Wasser in Berührung zu bringen. Warum fürchten sie sich davor? Glauben sie, daß sie das Schnupfenfieber bekommen? Ich weiß es nicht.

Man soll den Vollbart nicht nur sehr sauber auswaschen, sondern man soll ihn im Laufe des Tages zu wiederholten Malen, wenigstens vor jeder und nach jeder Mahlzeit auskämmen, aber man darf sich nicht mit einem Kamm durch den Bart fahren, während man an der Tafel sitzt. Man macht bei Tisch keine Toilette.

[357] 358. Die Fingernägel sollen nicht nur geschnitten, sondern auch gepflegt sein. Dazu gehört in erster Linie größte Sauberkeit. Man reinigt sich die Fingernägel zu Hause, nicht in der Gesellschaft – thut man es aber dennoch, weil man es in seiner Jugend nicht besser gelernt hat und weil man nicht die Kraft hat, üble Angewohnheiten abzulegen, so benütze man wenigstens nicht die Zahnstocher hierzu.

Rosarote, gewölbte, schön geschnittene Fingernägel sehen nicht nur bei Damen, sondern auch bei Herrn schön aus – breite, flache Nägel sind häßlich, abgekaute Nägel erwecken Grausen Nägel zu kauen, ist eine ebenso häßliche wie entstellende Angewohnheit – sie ist die Folge einer schlechten Erziehung oder einer großen Nervosität. Immer aber muß man gegen sie ankämpfen, man müßte viel zu eitel sein, um solcher Untugend zu huldigen.

[358] 359. Zusammenfassung. Nach dieser Einleitung ist die Frage, was ich als Herr bei den verschiedenen Gesellschaften anziehe und wie ich mich kleide, mit wenigen Worten zu beantworten.

Kleine Gesellschaft: Lackstiefel oder Lackschuhe, dunkler Anzug (unter Umständen: helles Beinkleid, schwarzer Rock und schwarze Weste), weißes Hemd (entweder gestärkt oder nicht gestärkt), schwarze oder bunte Krawatte, Ueberrock oder Smoking (Sackjackett). Man darf jetzt auch in Gesellschaften die kleidsamen bunten Westen (sog. Phantasiewesten) tragen, man hüte sich aber vor zu bunten, hellfarbigen und extravaganten Stoffen.

Größere Gesellschaft: Lackstiefel oder Lackschuhe, dunkler Anzug, weißes Hemd (gestärkt oder ungestärkt), schwarze Krawatte. Ueberrock oder Smoking.

Große Gesellschaft (Diner) wenn nicht ausdrücklich Ueberrock befohlen ist: Lackstiefel, schwarzes Beinkleid, weiße oder schwarze Weste, Frack (mit Orden), weißes gestärktes oder ungestärktes Hemd, weiße Krawatte.

Den Smoking sollte man zu einem Diner nicht tragen, bei ganz offiziellen Diners ist er verpönt, wie überhaupt in der letzten Zeit das Tragen des Sackjacketts mehr und mehr abkommt. Und nicht ohne Grund: im allgemeinen kann man sagen, daß der Smoking keine sehr kleidsame Tracht ist. Dem großen, schlanken Herrn steht das Sack-Jackett sehr gut, dem kleinen, mehr oder weniger kugelrunden Mann recht herzlich schlecht. Besonders unvorteilhaft sehen krummbeinige Herren in diesem Kleidungsstück aus – diese sollten immer einen möglichst langen Rock tragen, der diesen Geburtsfehler nach Kräften verdeckt.

Orden trägt man, wie wir später an anderer Stelle sehen werden, nur bei großen Gesellschaften in großer Toilette. Wenn es aber jemandem Spaß macht, so kann er sich auch bei dem Ueberrock die Ordensbänder in das Knopfloch stecken, obgleich es im allgemeinen, namentlich bei ganz kleinen Gesellschaften, nicht üblich ist.

Zum Frack aber gehören die Orden.

[359] 360. Wie sitze ich bei Tisch? Man schiebt seinen Stuhl so, daß man weder zu dicht an den Tisch heran, noch zu weit von der Tafel ab sitzt.

Hat man einen Eckplatz, bei dem man sich oft »dünn« machen muß, um den Dienern das Servieren zu ermöglichen, so thue man dies möglichst unauffällig und glaube nicht, daß es witzig sei, eine Bemerkung darüber zu äußern oder »humoristisch« zu stöhnen.

Für die Hausfrau ist es peinlich genug, einem ihrer Gäste einen derartigen Platz einräumen zu müssen. Darauf soll man Rücksicht nehmen.

Ist eng gedeckt, so schelte man nicht darüber und versuche erst recht nicht, mit seinen Ellbogen seine Nachbarn weiter fort zu drängen. Das wäre erstens zwecklos und zweitens ungezogen.

Ist weiter gedeckt, so kann man es sich natürlich bequemer machen, aber man soll sich dann nicht breit machen, als säße man zu Hause in seinem Sorgenstuhl.

Die Haltung des Oberkörpers sei gerade und aufrecht. Man soll nicht zusammenklappen, als sei man ein Taschenmesser, und den Mund soll man nicht unmittelbar an den Rand des Tellers bringen.

Eine schlechte Haltung des Oberkörpers hat natürlich ein schlechtes Sitzen des Kleides zur Folge. Bei den Herren bauscht sich dann der gestärkte Einsatz des Manschettenhemdes und kriecht an den Seiten womöglich aus der Weste heraus.

Die Füße gehören unter den Tisch, beide Hände auf den Tisch. Es wissen's alle, aber sie handeln nicht immer danach. Wie häufig sieht man nicht, daß jemand die linke Hand im Schoß liegen hat, während er mit der rechten löffelt.

Beide Hände gehören auf den Tisch, aber nur die Hände, nicht zugleich die ganzen Unterarme oder sogar die Ellbogen. Viele glauben, sie hätten ihre Finger nur, um aus dem Brot kleine Kugeln zu machen – dieser Glaube ist irrig.

Die Füße gehören an den Stuhl heran, man schiebt sie nicht so weit von sich, daß man sein vis-a-vis belästigt. Wenn dieses Gegenüber mit uns gleichen Geschlechtes ist, wäre es unhöflich, ihn auf die Füße zu treten, ist es aber anderen Geschlechtes, so wäre es ungezogen.

Die Sprache der Füße unter dem Tisch hat einen großen Reiz. Wie sagt doch der neue Tannhäuser. »Da hat mein Fuß mit deinem Fuß – Zwiesprache heimlich gepflogen.« Aber damit, daß die Sprache ihren Reiz hat, ist noch nicht gesagt, daß sie überall angebracht ist – nur Brautleute dürfen sie miteinander sprechen, sonst niemand. Man darf auch nicht den geringsten Versuch machen, sie zu sprechen – wer es dennoch thut, zeigt, daß er sich in seiner Jugend sehr wenig in seiner Kinderstube aufgehalten hat und keine Ahnung besitzt, wie man sich benehmen soll.

Seine Füße als Fühlhörner vorzustrecken, ist eine Ungezogenheit, die man den Leuten aus dem Volke überlassen sollte.

Man halte die Füße und die Beine still und auf die Kniee lege man die Serviette. Der Umstand, daß die Servietten beständig herunterrutschen und namentlich gegen die seidenen Damenkleider eine unüberwindliche Abneigung haben, die sich darin äußert, daß sie überhaupt nicht zum Bleiben zu bewegen sind, darf niemanden, weder den Herrn noch die Dame veranlassen, sich die Serviette vorne in den Kragen zu stecken oder sie hinten am Hals zusammen zu knoten. Man muß eben in der Jugend gelernt haben so zu essen, daß man sich nicht beschmutzt.

[360] 361. Die Messer-Esser. Der Mann, der zum erstenmal mit dem Messer aß und dadurch eine Unsitte, um kein stärkeres Wort zu gebrauchen, einführte, gegen die man vergebens ankämpft, müßte noch einmal geboren und dann mit den schwersten Freiheits-und Todesstrafen belegt werden. Das Messer dient dazu, das Fleisch (nie den Fisch, nie die Kartoffel, nie das Brot) entzwei zu schneiden, es ist aber nicht erfunden, um damit zu essen. Wer es thut, ißt unanständig und raubt seinen kultivierteren Mitmenschen den Appetit. Man schaufelt nicht mit dem Messer Sauce auf, man schiebt sich nicht mit dem Messer Fleischstücke in den Mund, das thut man nicht. »Ach was, das ist mir ganz einerlei, ich thue es doch.« Wie oft habe ich nicht diese Antwort erhalten, wenn ich die Leute bei allem, was ihnen heilig war, beschwor, nicht mit dem Messer zu essen, wenn ich ihnen in stundenlanger Unterredung auseinander setzte, daß sie durch ihr schlechtes Essen sich der Bezeichnung »Mensch« unwürdig machten, wenn ich ihnen erklärte, ihr Mund sei schon groß genug, sie hätten wirklich nicht nötig, sich ihn bei dem Essen mit dem Messer noch weiter aufzuschneiden. »Ach was, das ist mir ganz einerlei, ich thue es doch, ich bin es nun einmal so gewohnt.« Haben wir es denn kontraktlich, unsere schlechten Angewohnheiten bis an unser Lebensende beibehalten zu müssen? Können wir uns denn nicht bessern, unsere Untugenden nicht ablegen? Nichts nehmen unsere lieben Mitmenschen uns so übel, als wenn wir sie auf ihre Schwächen aufmerksam machen.

Das Messer dient zum Schneiden, die Gabel dient zum Essen, aber nicht zum Schaufeln, noch weniger sollen wir mit ihr in den Zähnen herumstochern.

[361] 362. Zahnstocher. Dazu dienen die Zahnstocher, die sich unbegreiflicherweise auf mancher Tafel finden. Das gehört sich nicht, mir persönlich raubt der Anblick der Zahnstocher selbst in einem Restaurant den Appetit. Es ist noch gar nicht lange her, daß ich einmal in einem großen Berliner Hotel speisen wollte. Der Kellner deckte den Tisch für mich: als erstes, bevor er Messer und Gabel brachte, stellte er einen Becher voll Zahnstocher vor mir hin. Ich war hungrig, wie es ein Mensch ist, der zehn Stunden lang nichts gegessen hat, aber als ich die Zahnstocher gleichsam als Entree, als schwedisches Vorgericht serviert erhielt, bin ich aufgestanden und hinausgegangen.

Wer den Zahnstocher benutzen will, der gehe in sein stilles Kämmerlein, schließe die Thüre hinter sich zu, mache alle Läden dicht, lasse die Rouleaux herunter und verstecke sich dann hinter seine Portiere, damit er ganz sicher ist, von niemandem gesehen zu werden. Dort kann er in seinen Zähnen herumarbeiten, so viel er mag, aber schön ist diese Angelegenheit auch in der eigenen Klause nicht, – in einer Gesellschaft, überhaupt in Gegenwart dritter, ist sie furchtbar. Es ist weiter nichts, als einfach ein sich selbst Belügen, wenn man sagt: »Ich kann mit dem besten Willen nicht ohne Zahnstocher auskommen.« Jeder kann es, der es will. Hat er schlechte Zähne, so gehe er zum Zahnarzt und lasse sich von diesem mit der amerikanischen Tretmaschine, die der Teufel erfunden hat, Löcher bohren, die groß genug sind, eine Plombe aufzunehmen, aber man bohre sich diese Löcher nicht selbst mit einem Zahnstocher. In geradezu erschreckender Weise nimmt diese Unsitte bei Herren und Damen, bei jungen Leuten und bei jungen Damen überhand. Wenn uns etwas in den Zähnen festsitzt und uns am Essen hindert oder uns Schmerzen verursacht, so haben wir unsere Zunge, um das Hindernis zu beseitigen – aber auch da verfahre man vorsichtig und mache es nicht so auffallend, daß die ganze Gesellschaft merkt: »Aha, der hat was.« Man spreche nicht, während man mit der Zunge in den Zahnritzen gräbt und ebenfalls halte man den Mund, wenn man mit dem Zahnstocher arbeitet, wie man überhaupt nie sprechen darf, wenn man irgend etwas im Mund hat.

[362] 363. Maßvolles Essen. »Bescheidenheit, Bescheidenheit, verlaß mich nie bei Tische, und gieb, daß ich zur rechten Zeit das beste Stück erwische.«

Selbst wenn Hummerscheren für uns das Schönste auf der Welt sind, dürfen wir nicht alle Scheren auf unsere Teller legen und es den anderen Gästen überlassen, sich an den Köpfen satt zu essen. Wenn Austernsauce serviert wird, soll man der Versuchung widerstehen, recht viele Austern und möglichst wenig Sauce herauszufischen, und selbst derjenige, der für Caviar sein Leben läßt, darf sich nicht eine Portion auffüllen, an der eine Familie mit acht Kindern sich acht Tage lang satt essen kann.

Nie sollte man zeigen, daß man sich aus einer Delikatesse besonders viel macht, und nie darf man sagen: »Wie schön, gnädige Frau, dies ist mein Leibgericht!« Der gebildete Mensch wird sich auch einem Diner gegenüber, das mit dem ausgesuchtesten Raffinement zusammengestellt ist, wenigstens äußerlich »kühl bis ins Herz hinan« zeigen – nur Kinder und Ungebildete geraten bei dem Anblick einer schönen Speise in Ekstase. Selbst wer zu Hause so einfach wie nur irgend möglich lebt, sollte sich auf einer Gesellschaft so benehmen, als tränke er nie etwas anderes als Pommery greno und als nährte er sich jeden Tag von gebackener Seezunge mit Krabbensauce, von gefüllten Artischockenböden und huitres à la Moscowite.

Ungebildete Menschen glauben sich gebildet und fein zu benehmen, wenn sie die Speisen, die serviert werden, kaum kosten, sie halten es für unfein, zu essen und damit zu zeigen, daß sie Hunger haben. Das ist natürlich Unsinn: man darf zwar nicht eine Klinge schlagen, daß alle, die uns zusehen, starr vor Schrecken werden und sich vergebens die Frage zu beantworten suchen, wo läßt der Mensch das nur alles, andrerseits freuen sich die Wirte aber, wenn sie sehen, daß es ihren Gästen schmeckt, und daß sie sich die Unkosten und Mühe nicht umsonst gemacht haben. Für eine Hausfrau ist es ein deprimierendes Gefühl, wenn sie hinterher merkt, daß so gut wie nichts gegessen worden ist.

Nur dann, wenn der Arzt uns verboten hat, von einer bestimmten Speise zu Essen, lasse man die Schüssel unberührt vorübergehen, sonst muß man von allem nehmen und sei es auch noch so wenig.

[363] 364. Anmaßende Esser. Es giebt Menschen, die solche Gourmands sind, daß sie prinzipiell bei fremden Leuten nichts essen. Ich kenne einen Herrn, der keine Speise anrührt, die nicht mit einer Butter gebraten ist, die am Morgen desselben Tages frisch gebuttert wurde, und der andere derartige Ideen hat. Jeder kann nach seiner Fasson selig werden, aber solche Menschen dürfen nicht auf Gesellschaften gehen: es ist beleidigend für die Hausfrau, wenn sie sieht, daß einer ihrer Gäste ihre Speisen überhaupt nicht anrührt. Gehe ich zu einem Diner, so muß ich auch essen, was mir vorgesetzt wird: kann ich dies aus irgend einem Grunde nicht, so darf ich nicht ausgehen, denn für ein derartiges Benehmen giebt es nur eine Entschuldigung: Krankheit.

Und kranke Leute gehören in das Bett.

Die Augen dürfen nicht größer sein als der Hunger: man darf sich nicht mehr auffüllen als man essen kann. Nur Kinder lassen etwas liegen, und auch nur solche Kinder, die keine oder doch nur eine schlechte Kinderstube gehabt haben.

Ist ein Gericht verdorben, so wird natürlich kein Sterblicher von uns verlangen, daß wir es essen und uns damit vielleicht einen Schaden an unserer Gesundheit zufügen. Im übrigen aber pflegt man die aufgelegten Speisen vollkommen aufzuessen; die in England übliche Sitte, einen sogenannten »Anstands-Rest« auf dem Teller zu lassen, verdient keine Nachahmung.

[364] 365. Der Wein. Schmeckt die Flasche, die ich vor mir stehen habe, nach dem Korken, so wird es mir niemand verdenken, wenn ich den Diener leise darauf aufmerksam mache. Unsere Wirte wollen, daß es uns bei ihnen gefallen soll, wir thun also auch ihnen einen Gefallen, wenn wir den schlechten Wein durch einen guten ersetzen lassen.

[365] 366. Mäßigkeit im Trinken. Nie soll man trinken, solange man auch nur einen ganz kleinen Bissen im Munde hat, und nie trinke man in einer Gesellschaft, zumal wenn Damen zugegen sind, auch nur einen einzigen Tropfen mehr als man vertragen kann, denn wer des Weines voll ist, redet leicht Unsinn und vernachlässigt seine Haltung und seine Bewegungen. Der Wein wirkt verschieden auf die Menschen: Der eine wird redselig, der zweite stumpfsinnig, der dritte bekommt einen moralischen Katzenjammer, der vierte das heulende Elend, der fünfte will sich über sich selbst halbtot lachen, der sechste wird zudringlich, der siebente wird streitsüchtig, der achte fängt an zu singen und der neunte fühlt plötzlich den Drang in sich, eine Rede zu halten.

Irgendwie äußert der Wein seine Wirkung bei allen und darum ist Vorsicht doppelt geboten. Wenn man im Ekkehard die Gesandtschaft des Kämmerers Spazzo liest, so lacht man heiße Thränen über die Art, in der der alte Haudegen dem Wein zuspricht. Aber nicht alles, was bei der Lektüre wirkt, macht auch im wirklichen Leben einen lustigen Eindruck. Jeder Dame wird das Lachen vergehen, wenn sie merkt, daß ihr Gatte oder ihr Bruder »plein de vin« ist, ihre Augen werden sich mit Thränen füllen und sie wird klagen: »Ach, daß das aber auch gerade mir passiert«.

Sie kann sich damit trösten, daß es auch anderen passiert.

Das ist ein kleiner Trost, für die Herren aber keine Entschuldigung. Zu entschuldigen ist das zu viele Trinken überhaupt nicht. »Die Weine waren so schwer« und »ach, es schmeckte mir so schön« sind Redensarten.

In keinem Lande der Welt wird soviel getrunken wie bei uns. In Frankreich trinkt kein Herr auf einem Diner mehr als höchstens drei Glas Wein und in den meisten Fällen diese auch nur mit Wasser vermischt.

Welche Quantitäten trinken wir dagegen!

Von Zeit zu Zeit überkommt uns das Bedürfnis, einmal gehörig zu trinken: »mancher trinkt, weil er so lustig, mancher, weil er traurig ist, mancher, weil der Himmel klar ist, mancher, weil er dunkel ist, mancher trinkt viel vor der Hochzeit, mancher leider nachher noch.«

An Gelegenheit zum Trinken fehlt es uns nie und ein Vergnügen ohne Damen können wir uns sehr gut vorstellen, sich aber ein Vergnügen ohne recht viel Wein vorzustellen, reicht selbst die Phantasie eines Schriftstellers nicht aus. Des Morgens trinken wir, weil wir einen Kater haben, und am Abend trinken wir damit wir am nächsten Tag einen Jammer spazieren führen können. Ein Leben ohne Alkohol ist für uns kein Leben.

Wie oft hört man nicht von jungen Herren: »Heute bin ich bei dem Herrn X. eingeladen, der hat die schönsten Weine, die man sich nur wünschen kann, da will ich mich aber ordentlich heranhalten. Na, morgen werde ich einen schönen Jammer haben.« Warum? Wer zwingt uns denn, unmäßig zu sein? Die gute Sitte ganz gewiß nicht, die verbietet es uns höchstens.

[366] 367. Wie trinke ich? Man soll den Wein trinken, aber ihn nicht schlürfen, nicht eine halbe Stunde oder noch länger mit der Nase im Glas sitzen, den Wein nicht schütteln und andere Sachen treiben, die der Weinhändler machen kann und muß, wenn er eine Sorte probiert, die in den Keller, aber nicht in den Eßsaal gehören.

Wer bei dem Trinken den Rand seines Glases schmutzig macht, trinkt nicht hübsch, und wer jedesmal den Becher leert, so oft der Diener mit der Sektflasche herumgeht und sich seinem Platze nähert, zeigt, daß er die Absicht hat, mehr zu trinken, als er für gewöhnlich an Wein zu sich nimmt.

Man soll die Weine in der Reihenfolge trinken, wie sie serviert werden, sich aber nicht erst alle Gläser füllen lassen und dann sie in bunter Reihenfolge leeren: zum Fisch trinkt man keinen Portwein und zu den eingemachten Früchten keinen schweren Rotwein. Erstens schickt es sich nicht und zweitens schmeckt es nicht.

[367] 368. Nach Tisch. Wohl nur in den allerseltensten Fällen wird man auch, nachdem der letzte Gang serviert ist, noch im Eßzimmer sitzen bleiben, vielmehr wird man sich erheben und wieder in den Salon zurückkehren, um sich eine »gesegnete Mahlzeit« zu wünschen: zunächst seinem Tischnachbar oder seiner Nachbarin, dann der Herrin des Hauses, darauf dem Wirt und dann erst den anderen Gästen. Auch hier gilt, was über das Handgeben und über den Handkuß bereits gesagt worden ist: man warte ab, wie die Dame sich benimmt. Giebt die Dame aber die Hand, so soll sie sich auch den Handkuß gefallen lassen.

Während der Tafel bietet sich nur Gelegenheit, uns mit unsern nächsten Nachbarn zu unterhalten. Soweit wir es nicht schon thaten, bevor zu Tisch gegangen wurde, sollten wir nach Tisch mit jeder Dame, mit jedem Herrn ein paar Worte wechseln. Man sollte nie aus einer Gesellschaft fortgehen, ohne mit jedem Gast gesprochen zu haben, das gilt in gleicher Weise sowohl für die Herren als für die Damen. Ein Anknüpfungspunkt für ein paar Worte oder ein paar Sätze wird sich leicht finden lassen.

Für die meisten Menschen ist aber diese Pause nach Tisch, während der man seinen Kaffee trinkt, ebenso fürchterlich wie das Warten vor Tisch, und ungeduldig sehnt jeder den Augenblick herbei, in dem die Cigarren und die Cigaretten herumgereicht werden, denn für viele ist bei einem Diner das beste die Cigarre, besonders wenn sie gut ist.

[368] 369. Rauchen ist ein Laster, aber ein schönes, und dem Mönch Paul Romanus, der den Tabak im Jahre 1496 auf St. Domingo kennen lernte und ihn in Europa bekannt machte, müßte ein Denkmal gesetzt werden. Immer mehr nimmt das Rauchen überhand und die Zeiten, in denen das schöne Geschlecht den pestartigen Rauch floh und Raucher für Pöbelnaturen erklärte, sind längst vorüber.

[369] 370. Rauchende Damen. In Japan rauchen alle Frauen, im Orient die meisten, bei uns viele, und nur ganz kleine Kleinstädter finden es auch heute noch unpassend, wenn eine Dame sich eine Cigarette anzündet. Warum soll die Frau nicht ebensogut rauchen wie der Mann? Selbstverständlich ist es unweiblich, wenn eine Dame erklärt, ohne Tabak nicht leben zu können, und an einem Abend fünfzehn und mehr Cigaretten in einer Gesellschaft raucht – das überlasse man den Männern, schon aus dem einfachen Grunde, weil das viele Rauchen von Papyros äußerst ungesund ist. Zehn Cigarren sind nicht halb so schädlich und nikotinhaltig wie fünf Cigaretten, aber nichts liegt mir ferner, als durch diese Worte schöne Leserinnen veranlassen und verleiten zu wollen, sich nach Tisch eine importierte Cigarre anzuzünden. Davor soll der Himmel mich bewahren, denn so sehr ich bei einer Dame, wenn sie mit Grazie und Eleganz zu rauchen versteht, die Cigarette liebe, so sehr hasse ich die Cigarre.

[370] 371. Abschreckendes Beispiel. Ich erinnere mich einer kleinen Episode aus meiner Leutnantszeit. Während eines Manövers war ich auf einem Gute einquartiert, bei dem ich während des Diners eine entzückende Engländerin als Tischdame hatte. Die Stimmung bei Tisch war so lebhaft und lustig, daß wir auch nach dem Diner noch lange sitzen blieben und den Genuß der Cigarre auf eine spätere Zeit verschoben. Plötzlich erhob sich meine englische Miß unter dem Vorwand, starke Kopfschmerzen zu haben, sie wollte einmal durch den Garten gehen. Als ich sie dort nach einiger Zeit aufsuchte, fand ich sie mit einer großen Cigarre im Mund: sie erklärte mir, sie würde direkt krank, wenn sie sich nicht gleich nach dem Diner eine Importierte anzünden dürfte.

Es war das erste, aber leider nicht das letzte Mal, daß ich eine Dame eine Cigarre rauchen sah, und gleich mir sind sich, glaube ich, alle Herren darüber einig, daß eine Cigarre bei einer Dame »scheußlich« ist.

In einer Gesellschaft sollte eine Dame nie eine Cigarre in den Mund nehmen: die anderen Damen würden sich darüber entsetzen und die Herren würden wenig lobende Bemerkungen machen.

Die Cigarre ist das Vorrecht des Herrn.

[371] 372. Schlechte Cigarren. Wer zu einem Diner geht, weiß nie, was er zu essen, und noch weniger, was er zu rauchen bekommt. Einige vorsichtige Leute essen sich deshalb immer erst zu Hause satt und stecken sich ihre eigene gute Cigarre ein, um diese später mit der Gewandtheit eines Bellachini mit der vom Wirte offerierten Cigarre zu vertauschen. Das soll eigentlich nicht sein, und wenn man dabei abgefaßt wird, blamiert man sich nicht nur, sondern man beleidigt auch den Gastgeber. Andrerseits können unsere Wirte nicht von uns, die wir an sehr guten Tabak vielleicht gewöhnt sind, verlangen, daß wir uns nach Tisch eine Wald-, Feld-, Flur- und Wiesen-Cigarre anzünden sollen, die man für gewöhnlich nur im Freien, wenn keine Leute mit Geruchsnerven in der Nähe sind, rauchen kann. Einmal bot mir ein armer mecklenburgischer Dorfschullehrer eine Cigarre an, der man es ansah, daß sie gleich hinter seinem Kuhstall gewachsen war. Ich behauptete, höchstens eine Cigarre am Tage vertragen zu können und diese bereits genossen zu haben, aber es half alles nichts, ich mußte die Cigarre anzünden. Giebt es eine Vergeltung, so muß der Schulmeister nach seinem Tode dafür büßen, daß er mich fast vergiftet hat – nach drei Zügen trat mir der Angstschweiß auf die Stirn und nach weiteren drei Minuten mußte ich an die frische Luft. Daß ich heute noch lebe, ist ein Wunder.

[372] 373. Taktlose Raucher. Die Cigarren sind auf der Welt, um geraucht, nicht aber, um gekaut oder gegessen zu werden. Das vergessen viele, die für gewöhnlich das Stück zu fünf Pfennig kaufen und sich nun plötzlich den schönsten Importierten gegenüber sehen, von denen sie nach Belieben nehmen können. »Da halten sie sich ordentlich heran«, wie man in Norddeutschland sagt; wenn sie es irgend könnten, würden sie am liebsten zehn Cigarren auf einmal in den Mund nehmen, oder es wenigstens wie jener Raucher machen, der sich eine Cigarrenspitze hatte konstruieren lassen, in die er gleichzeitig fünf Cigarren stecken konnte, weil ihm das Quantum einer einzigen nicht genügte. Leider geht das nicht, aber viele suchen sich dadurch zu helfen und dadurch zu ihrem Recht zu kommen, daß sie darauf losqualmen, als wenn ein kleiner Mann backt. Alle Viertelstunde wenigstens sind sie mit einem »Tabak« fertig und zünden sich dann sofort eine neue an. Sie würden eine schlaflose Nacht und das Bewußtsein, den Gastfreund nicht gehörig geschädigt zu haben, mit nach Haus nehmen, wenn sie nicht wenigstens sechs Importierte zu sich genommen hätten. Solche Leute rauchen auch stets diejenigen Cigarren, die, weil sie eine »Bauchbinde« tragen, ein großes Format besitzen und in einer hübsch ausgestatteten Kiste liegen, die teuersten zu sein scheinen. Davon, daß der Preis bei Cigarren in den meisten Fällen gar keine Rolle spielt, ahnen diese edlen Rauchbrüder gar nichts: aber das ist ihnen auch einerlei, sie sind zufrieden, nein, nicht nur zufrieden, sondern glückselig, wenn sie am nächsten Tag ihren Bekannten gegenüber damit renommieren können, daß sie ihrem Gastfreund sechs Cigarren, das Stück zu einer Mark, aufgeraucht hätten.

[373] 374. Rücksicht der Raucher gegen Damen. Nur alte und ältere Herren haben das Vorrecht, sich den ganzen Abend bei der Cigarre vor Anker legen zu dürfen, aber auch diese sollten dann wenigstens sich für eine kurze Zeit von ihrem Tabak verabschieden, wenn nach Tisch einer der Gäste etwas vorträgt, musiziert oder sonst etwas zur Unterhaltung beiträgt. Da sollte jeder in den Salon oder in das Musikzimmer gehen.

Junge unverheiratete Herren aber, und selbst junge Ehemänner, müßten sich nach Tisch mit einer, allerhöchstens mit zwei Cigarren begnügen und dann wieder zu den Damen gehen. Die Unterhaltung, die die Damen nach Tisch führen, ist meistens sehr wenig interessant, in den wenigsten Fällen handelt es sich um etwas anderes als um die Zähnchen der kleinen Kinder, um Dienstbotengeschichten und die Welt nicht im geringsten erschütternde Stadtneuigkeiten. Die Damen erkennen es dankbarst an, wenn auch nur einige Herren sich zu ihnen gesellen und den Versuch machen, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. Schon die Anwesenheit der Herrn allein genügt fast immer, um die Dienstbotenfrage ad acta zu legen, denn die Frauen genieren sich, in Gegenwart von Männern zu zeigen, daß sie nur für derartige Themata Interesse haben.

Wohl auf jeder Gesellschaft amüsieren sich die Herrn besser als die Damen, eben aus dem Grunde, weil sich nach Tisch niemand mehr um sie kümmert.

Die Herren behaupten, keine Zeit zu haben, sie müssen rauchen, rauchen, rauchen, dazu möglichst viel Bier trinken und sich Geschichten erzählen, die an Gewagtheit in den seltensten Fällen etwas zu wünschen übrig lassen, denn eine andere Unterhaltung ist nach Tisch nur selten angebracht, dazu hat man zuviel getrunken.

Und während die ältesten und eindeutigsten Geschichten erzählt werden, wird darauf losgequalmt, so toll es geht; daran, daß der Rauch unter Umständen in das Nebenzimmer zieht und die Damen dort geniert, denkt kein Mensch. Vielleicht fragt einmal einer: »Ist der Rauch auch nicht zu stark für unsere Frauen?« aber deshalb denkt er noch lange nicht daran, seine Cigarre fortzulegen, und selbst wenn er daran denken sollte, thut er es doch nicht, weil die anderen es ja auch nicht thun.

Ein gutes Beispiel geben, will keiner, um nicht aufzufallen. Manche Menschen sind lieber rücksichtslos bis an die äußerste Grenze der Möglichkeit, als daß sie sich sagen lassen: »Mein Gott, sind Sie aber liebenswürdig.«

So etwas geniert sie, macht sie verlegen und viele nehmen diese Worte übel, als ob man sie beleidigt hätte.

[374] 375. Cigarren zum Mitnehmen. In großen Häusern ist es vielfach Sitte, daß die Herrn bei dem Fortgehen draußen auf dem Korridor Cigarrenkisten vorfinden, damit sie sich noch eine für den Nachhauseweg anzünden können, denn wenn man sich von seinen Wirten verabschiedet, legt man vorher seine Cigarre fort. Man zündet sich die Cigarre auf dem Korridor an und wenn man einen sehr weiten Weg hat, aber auch nur dann, kann man es vor seinem Gewissen und den Sitten und Gebräuchen des guten Tons verantworten, sich noch eine zweite Cigarre in die Tasche zu stecken. Niemals darf man mehr mitnehmen, wer es dennoch thut, wird zum Dieb. Ich habe in früheren Jahren junge Herren kennen gelernt, die sich aus jeder Kiste ein halbes Dutzend nahmen und ihren Cigarrenbedarf für mehrere Tage deckten; stellte man sie deswegen zur Rede oder fragte man sie, ob sie das Unrechte ihres Thuns nicht einsähen, so bekam man regelmäßig die Antwort: »Dazu sind die Cigarren doch da.« Nein, dazu sind sie nicht da, sie werden hingestellt zum Gebrauch à discretion, das heißt auf gut deutsch: »Vertrauen ist Ehrensache.«

Selbst wenn der Wirt uns auffordert, uns noch eine Cigarre mitzunehmen, so sollte man nie mehr als eine einzige einstecken.

Man darf sich ebensowenig Cigarren einstecken, wie man Sektflaschen und Bratenüberreste mit nach Hause nehmen darf. Auf den Gedanken wird wohl auch niemand kommen, aber ob man eine Importierte verschwinden läßt oder eine Portion Gänseleberpastete, ist in der Theorie genau dasselbe und vor dem Richter ebenfalls.

[375] 376. Wann gehe ich fort? Das Zeichen zum Aufbruch werden stets die ältesten anwesenden Gäste geben und nach diesen haben sich die jüngeren zu richten. Gut ist es, wenn selbst Junggesellen bei ihrem Kommen sich gleich bei dem Diener erkundigen, zu welcher Zeit die Wagen bestellt sind, und sich danach mit ihrem Aufbruch einrichten. Auch die Verheirateten sollten vor der von den Gastgebern selbst festgesetzten Zeit nur dann fortgehen, wenn zwingende Gründe, wie sie in der Abfahrt des Eisenbahnzuges, der letzten Pferdebahn, dem Unwohlsein des Herrn oder der Dame, durch die Verpflichtung, noch ein anderes Fest besuchen zu müssen, bestehen können, vorliegen. Man darf aber nicht eher fortgehen, weil man sich nicht gut unterhält.

[376] 377. Verabschiedung. Bei der Verabschiedung empfiehlt man sich erst den übrigen Gästen, zuletzt den Wirten. Viele halten es für »altmodisch«, seinen Dank für die genossene Einladung auszusprechen, aber trotzdem darf man es nicht nur ruhig thun, sondern man soll es auch thun. Nicht immer sind die Sitten und Gebräuche, die neu eingeführt werden, ebensogut wie die alten, selten sind sie besser.

Der Herr verabschiedet sich mit dem Hut in der Hand, die Handschuhe zieht er zu diesem Zweck nicht erst besonders an.

Ist man im Begriff zu gehen, so soll man sich durch die liebenswürdige Frage der Wirte: »Wollen Sie nicht noch einen Augenblick bleiben?« nicht ohne weiteres veranlaßt fühlen, sich gleich wieder hinzusetzen. Meist ist diese Frage nur eine Höflichkeitsformel, denn jede Gesellschaft macht viel Arbeit und Mühe, und selbst die liebenswürdigste und gastfreieste Wirtin bedarf der Ruhe und der Erholung.

Junggesellen pflegen in vielen Häusern, wenn es sich nicht eben um ganz steife, formelle Gesellschaften handelt, noch etwas zu bleiben, wenn die Verheirateten fortgegangen sind. Die Anregung dazu muß immer vom Wirt und darf nie vom Gast ausgehen. Mag man sich auch noch so gut amüsieren, so soll man nie sagen: »Nicht wahr, ich wohne ja nur wenige Schritte entfernt, ich darf noch einen Augenblick bleiben?«

Das soll dankbar klingen für die genossene Liebenswürdigkeit und für die freundliche Aufname, aber es hört sich stets unbescheiden an. Es ist nicht hübsch, in dem Ruf zu stehen: nie genug bekommen zu können.

Im Genießen Maß zu halten, ist sehr schwer – manche lernen es nie.

[377] 378. Zurückbleibende Gäste. Bleiben einige Gäste noch auf Zureden der Wirte, nachdem der größere Teil der Gäste schon gegangen ist, so halte man keine Nachreden und keine Totenreden. In Gegenwart der Wirte darf man nicht über die anderen Gäste Bemerkungen machen, wie man überhaupt über einen Menschen, der uns eben verlassen hat, nicht reden soll.

Es kommt vor, daß Junggesellen, die gebeten wurden »noch einen Augenblick« zu bleiben, noch viele Stunden sitzen und schließlich von dem Gastgeber geradezu ermahnt und angetrieben werden müssen, endlich zu gehen. Mag dies auch in einer noch so lustigen und heiteren Form geschehen, an der Thatsache, daß man an die frische Luft gesetzt wird, ändert dies nichts und das »Sichhinauswerfenlassen« sollte man den armen Reisenden überlassen.

Zur richtigen Zeit zu gehen, ist nicht nur bei Besuchen, sondern auch bei Gesellschaften sehr wichtig. Wer zu lange sitzt, zu viel spricht und erzählt, giebt sich leicht aus. Selbst der lebhafteste und geistreichste Kopf wird müde und matt, geschweige denn ein normaler Durchschnittsschädel, wie die meisten Sterblichen ihn auf ihren Schultern spazieren tragen. Hat man bei Beginn und während der Gesellschaft einen guten Eindruck gemacht, hat man das Gefühl, ohne daß man ein Bajazzo war und ohne daß man lange wissenschaftliche Vorlesungen hielt, zum netten Verlauf des Festes beigetragen zu haben, so schwatze man nicht bis zum frühen Morgen weiter und gebe den Wirten keine Veranlassung, nach unserem Fortgang zu sagen: »Eigentlich ist er doch nur ein langweiliger Mensch.«

Ein guter »Abgang« ist nicht nur für die Schauspieler auf der Bühne, sondern für uns alle, die wir auf den Gesellschaften doch mehr oder weniger Komödie spielen, sehr zu wünschen.

Quelle:
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Berlin, Stuttgart [1901], S. 301-378.
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