I.

Auf der Straße.

[417] 417. Anständiges Auftreten. Von dem Augenblick an, wo jemand, wenn auch für noch so kurze Zeit, das Haus verläßt, begiebt er sich unter andere Menschen und darum muß er, sobald er die Straße betritt, nicht nur in seinem Benehmen und in der Haltung, sondern auch in seiner Kleidung sich einen gewissen Zwang auferlegen. Die Rücksicht auf die Bequemlichkeit dürfte selbst in kleinsten Städten nicht dazu führen, mit gestickten Morgenschuhen, einem Käppi auf dem Kopfe und einer langen Pfeife im Munde, auf die Straße zu treten; nur zahnlose Murmelgreise haben das Vorrecht, in diesem Kostüm vor ihrer Hausthür zu sitzen.

[417] 418. Was ziehe ich an als Herr? Die Kleidung auf der Straße sei für den Herrn gewählt, aber nicht gesucht; jedes Auffallende ist geckenhaft. Die Zeiten, in denen Gecken mit absatzlosen, spitzen Schnabelschuhen, mit Paletots, die kaum die Schultern deckten, und mit Spazierstöcken, deren Dicke selbst einem Räuber Angst und Schrecken einzuflößen im stande wäre, durch die Straßen der Stadt schritten, um sich bewundern zu lassen, sind Gott sei Dank vorüber, aber noch jetzt begegnet man vielfach Ausschreitungen. Im allgemeinen kann der Grundsatz gelten, daß das Einfachste immer das Eleganteste ist, und sich auffallend zu kleiden sollte man daher den Damen, und zwar denjenigen Damen, die eigentlich keine sind, überlassen.

[418] 419. Der Hut. Wenn wir uns den Wanderer vom Kopf bis zu den Füßen betrachten und oben anfangen, so leuchtet uns als erstes sein Hut entgegen. Die eleganteste Kopfbedeckung ist und bleibt für alle Jahreszeiten der Cylinder. Die Hauptsache aber ist, daß er gut aufgebügelt ist und nicht die Spuren eines starken Regenwetters und starke Kniffe und Risse zeigt. So elegant ein neuer Cylinder, ebenso ordinär ist ein Hut, bei dessen Anblick selbst ganz harmlose Menschen an das schöne Lied denken: »Schier dreißig Jahre bist du alt«. Selbst die größte Sparsamkeit darf uns nicht dazu verleiten, die Kosten des Aufbügelns, die ja nur 40 oder 50 Pfennig betragen, zu umgehen. Wer sich davor scheut, seinen Hut naß regnen zu lassen, der bleibe entweder zu Hause, oder überdache sich mit einem Regenschirm. Einen Chapeauclaque tragen nur ganz kleine Leute und auch nur dann, wenn sie zu einer Beerdigung oder einer anderen Feierlichkeit ausrücken. Kalabreser zu tragen, deren Krempen den Vorübergehenden fast die Augen ausstechen, ist das Vorrecht von Künstlern, die sich für bedeutender halten, als sie es in Wirklichkeit sind, und von Maurergesellen; hieraus aber den Schluß ziehen zu wollen, daß ich diese beiden Herrschaften auf dieselbe Stufe stelle, wäre mehr als gewagt, und ich verwahre mich ausdrücklich dagegen.

Der Hut muß der Gesichtsform seines Trägers angemessen sein. Nicht jeder Hut kleidet jeden und auch hier kann man sich mit großer Sicherheit den Ratschlägen des Lieferanten überlassen, denn wir selbst sind oft nur zu sehr geneigt, uns in jeder Fasson schön und verführerisch zu halten. Je kleiner wir sind und je mehr wir zum Embonpoint neigen, desto niedriger muß der Hut sein. Nichts macht einen lächerlicheren Eindruck, als wenn ganz kleine Leute einen Cylinder spazieren tragen, der größer ist als sie selbst. Es geschieht dies in der Absicht, die eigene Kleinheit verdecken zu wollen, doch wird dadurch gerade das Gegenteil erzielt.

[419] 420. Ueber die Wäsche gilt dasselbe, was im Kapitel »Die Gesellschaftstoilette« gesagt worden ist. Wer auf die Straße geht, muß so tadellos angezogen sein, daß er jeden Augenblick in eine Gesellschaft treten kann, ohne vorher erst nötig zu haben, sich einen reinen Kragen umbinden oder ein reines Hemd anziehen zu müssen. Mit Wäsche, die nicht über jeden Zweifel erhaben rein ist, sollte man nie auf die Straße gehen, und die beliebte Redensart: »Es kommt nicht so genau darauf an, der Paletot verdeckt es« bedeutet weiter nichts als Mangel an persönlicher Sauberkeit. Wer ausgeht, kann nie wissen, ob und in welcher Verfassung er wieder nach Hause kommt. Gar mancher ist unterwegs schon vom Tode ereilt und vielen ist schon ein Unglück zugestoßen. Was anderen passierte, das kann auch uns geschehen, und es ist mehr als peinlich, wenn wir bei einem Unglücksfall, der uns zustößt, uns einer ärztlichen Untersuchung und Hilfeleistung deshalb widersetzen müssen, weil wir uns scheuen, ein Paar Strümpfe zu zeigen, die reich mit Löchern geschmückt sind. Häufig hört man auch die Redensart: »Es lohnt sich ja gar nicht, einen reinen Kragen umzubinden, bei dem Staub, der in den Straßen herumfliegt, ist er ja doch gleich wieder schmutzig.« Wer so denkt, sollte lieber gar keine Wäsche anziehen, denn ein sauberer Hals macht immer noch einen besseren Eindruck als ein Kragen, der abfärbt.

Tadellos wie die Wäsche, sei auch die Reinlichkeit des Körpers. Bevor man ausgeht, prüfe man sich, ob das Gesicht und die Hände über jeden Zweifel erhaben sind, und vermeide es, sich von guten Freunden, die immer glücklich sind, wenn sie uns etwas Unangenehmes sagen können, in liebenswürdigster Form auf kleine Schönheitsfehler aufmerksam machen zu lassen. Einen besonders guten Eindruck macht es, wenn man die versäumte Reinigung auf der Straße nachholen will und zu diesem Zwecke ein unsauberes Taschentuch oder einen Nägelreiniger aus der Tasche zieht. Daß es Menschen giebt, die sich für die letztere Beschäftigung das Messer eines anderen leihen, ist eine traurige Thatsache. Die Toilette gehört ins Haus und wer sich etwas Schmutz, der ihm unterwegszugeflogen ist, abwischt, soll dies in unauffälliger Weise thun.

[420] 421. Anzug. Die Farbe und der Schnitt des Anzuges kann im allgemeinen dem einzelnen überlassen werden, doch sollte man es sich zur Regel machen, nie mit dem Hausanzug auf die Straße zu gehen. Die Farbe des Stoffes und die Stärke des Tuches richtet sich naturgemäß nach der Jahreszeit. Bei Schneetreiben in einem hellkarrierten Anzug und im Sommer beständig tiefschwarz zu gehen, wäre zum wenigsten seltsam. Die Form des Rockes auf der Straße ist entweder der Jackettrock oder der Ueberrock. Zu dem Jackett ohne Paletot darf man niemals einen Cylinder aufsetzen. An jedem Rock befinden sich Knöpfe, die bekanntlich zum Knöpfen da sind. Mit einem offenen Rock geht man selbst dann nicht, wenn es noch so heiß ist, und selbst eine Temperatur, gegen die die Glut in dem bekannten feurigen Ofen der reine Eiskeller ist, darf uns nicht dazu verleiten, auf der Straße sogar die Westenknöpfe aufzumachen, auch dann nicht, wenn wir ein tadelloses offenes Manschettenhemd tragen. Gewährt die Weste eines Vorübergehenden den Anblick eines nicht ganz sauberen, wollenen Hemdes, so ist dieser Anblick wenig erfreulich. Ein weißes oder buntes Flanellhemd zu tragen ist dagegen augenblicklich sehr »chik« und hat den Vorteil, außerdem sehr bequem und angenehm für den Körper zu sein. Bei den Beinkleidern war es früher Mode, dieselben mit einem starken Kniff in der Mitte zu tragen. Das Militär hat dies teilweise noch beibehalten; der Civilist ist davon abgekommen. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß man nicht von Zeit zu Zeit sein Beinkleid, wie überhaupt seinen Anzug aufbügeln lassen soll, denn es macht einen schlechten Eindruck, ein Beinkleid zu tragen, das absolut keine Fasson hat. Man kann in dieser Hinsicht selbst sehr viel thun, wenn man abends bei dem Zubettegehen oder sobald man sich umkleidet, seinen Anzug nicht einfach in die Ecke schleudert, sondern ihn aufhängt. Mit den vor einiger Zeit erfundenen Kleiderhaken, mit denen man die Hose am unteren Ende aufhängt, während man über den Bügel Rock und Weste zieht, ist jedem, der überhaupt Sinn für Ordnung hat, die Möglichkeit geschaffen, seine Kleider zu pflegen. Besonders ist bei dem Anziehen des Beinkleides darauf zu achten, daß es weder zu lang, noch zu kurz ist, und die militärische Vorschrift, die da besagt, daß das Beinkleid oben mit dem Absatz abschneiden soll, trifft das Rechte. Es sieht weder gut aus, wenn man sich bei jedem Schritt auf die Hose tritt, noch wenn dieses Kleidungsstück so kurz ist, daß es kaum bis zum Stiefel reicht. Das Beinkleid auf der Straße umzuschlagen gehört sich nur bei schlechtem Wetter, wer es sonst noch thun will, darf diese Mode nur mitmachen, wenn er sich einer sehr großen, schönen und eleganten Figur erfreut. Ein kleiner dicker, krummbeiniger Herr sieht mit umgeschlagenen Hosen noch weniger elegant aus, als sonst.

[421] 422. Schuhzeug. Darüber ob man Stiefel oder Schuhe tragen soll, bestehen keine Vorschriften, aber im allgemeinen wird der Herr Stiefeln vorziehen. Im Gegensatz zu anderen Nationen legen wir auf unsere Fußbekleidung viel zu wenig Wert, und wie wir gern bei Damen in erster Linie darauf sehen, ob sie einen guten Stiefel anhaben, so dürfen wir Herren selbst uns in dieser Hinsicht nicht vernachlässigen. Mit schlechtgeputztem Schuhzeug, mit schiefgelaufenen Absätzen, mit fehlenden Knöpfen, mit Gummizügen, die an der Seite durchgescheuert sind, mit aufgesprungenem Leder und derartigen Sachen zu gehen, sollte man als gebildeter Mensch unter seiner Würde halten. Ebensowenig sollte man in Radler-, Tennis- und dergleichen Schuhen gehen, wie man überhaupt einen Sportanzug auf der Straße nur dann tragen darf, während man einen Sport ausübt.

[422] 423. Sportkostüme. Der Umstand, daß Herren sehr gut gewachsen sind und sich im Besitz kräftiger Waden befinden, die den Neid der besitzlosen Klasse erregen, giebt noch keine Berechtigung dazu, prinzipiell kein anderes Gewand als das Radlerkostüm zu tragen, und die Thatsache, daß jemand in enganschließenden Beinkleidern, hohen Lackstiefeln und silbernen Sporen einen äußerst vorteilhaften Eindruck macht, erlaubt es nicht, zu jeder Tageszeit gekleidet wie ein Schulreiter herumzuspazieren. Selbst wenn man zum Radeln oder zum Reiten geht, sollte man soviel wie möglich sein Sportkostüm durch einen langen Paletot zu verdecken suchen; nur ganz junge Leute renommieren mit derartigen »forschen Kostümen«, und nur Leute, die vielleicht in ihrem ganzen Leben noch kein Pferd bestiegen haben, schwingen beständig auf der Straße die Reitgerte und gebärden sich, als wenn sie sich ein Dasein ohne Gaul gar nicht denken könnten. Nur den eigenen Augen erscheint so etwas »schneidig«, jeder verständige Mensch lacht darüber, und sich lächerlich zu machen, muß man vermeiden, solange es irgend angängig ist. Eine Dummheit, die man gesagt oder begangen, kann man wieder gutmachen, wer den Schein der Lächerlichkeit aber einmal erweckt hat, wird ihn in seinem Leben nicht wieder los. Auch gehört es sich nicht, wenn man zum Tennis geht, mit dem Racket auf der Straße Fangball zu spielen.

[423] 424. Paletot. Ob es angebracht ist, beständig einen Paletot zu tragen, mag dahingestellt bleiben; der Ausspruch, daß ein Mensch ohne Ueberzieher immer nur halbangezogen aussieht, hat aber entschieden etwas für sich, und namentlich starke Herren, die zur Korpulenz neigen, werden in einem langen Rock, der den Mangel ihrer schönen Form verdeckt, immer vorteilhafter aussehen als ohne. Natürlich muß auch der Paletot zugeknöpft und der Umschlag der Taschen sichtbar sein. Sehr hübsch sieht es aus, wenn man Pakete nicht in der Hand trägt, sondern dieselben mit einem Bindfaden an einem Paletotknopf befestigt und beim Gehen hin und her flattern läßt, als ob es ein Fähnlein wäre; ebenso geschmackvoll ist es, sich die Taschen mit Paketen vollzustopfen. Ueberzieher, die bis auf die Stiefel reichen und hinten keine Naht besitzen, sind nur als Reisemäntel oder, wenn von dünnem, hierzu besonders geeignetem Tuche angefertigt, auf den Rennplätzen zulässig. Zur Schonung des weißen Kragens kann man unter dem Paletot (aber nie unter einem anderen Rocke) den Kragenschoner tragen, er darf aber nicht in übertriebener Weise sichtbar sein oder unordentlich hervorgucken.

[424] 425. Orden und Ehrenzeichen zeigt man auf der Straße nur, wenn man sich auf dem Wege zu einem Besuch oder zu einer Visite befindet. Mit Orden, in Frack und weißer Binde geht man ohne Paletot nur dann, wenn man seinen Mitmenschen beweisen will, daß man diesen Schmuck und die Kleidungsstücke besitzt.

[425] 426. Handschuhe zieht der Herr im allgemeinen nicht an, ebensowenig trägt er sie lose in der Hand, aber dennoch sollte man sich unangezogen fühlen, wenn man die Handschuhe nicht wenigstens in der Rock- oder Paletottasche bei sich trägt. Eine dunkle Farbe des Leders ist den helleren vorzuziehen. Selbst wer auf dem Besuchspfade wandelt, müßte ein dunkleres Paar Straßenhandschuhe bei sich tragen. Wer schwarze Handschuhe trägt, sieht so aus, als wenn er gerade jemand beerdigt hätte oder auf dem Wege wäre, einen geliebten Toten unter die Erde zu bringen. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß man glaubt, seine Hände nur deshalb zu besitzen, um sie in die Paletottaschen stecken zu können; in die Hosentaschen steckt man sie nie.

[426] 427. Stock und Schirm. Wer daran gewöhnt ist, einen Stock oder Schirm beständig zu tragen, soll bei der Auswahl derselben einen guten Geschmack beweisen. Ebenso falsch wie es ist, wenn die Jugend mit Zaunpfählen herumläuft, ebenso lächerlich wirkt es, wenn alte Herren, um sich den Anschein der Jugendlichkeit zu geben, mit dünnen Stäbchen spazieren gehen. Der Stock dient zwar nicht immer dazu, sich auf ihn zu stützen, aber er ist auch nicht dazu da, in einer der Paletottaschen aufrechtstehend immer spazieren getragen zu werden. Im Gehen einen Stock zwischen den Fingerspitzen herumzuwirbeln und Kunststücke mit ihm auszuführen, darf man ruhig den Leuten überlassen, die sich mit derartigen Künsten ihr Brot zu verdienen suchen.

Man soll den Stock nicht bei jedem Schritt so hart auf das Straßenpflaster aufsetzen, daß es weithin hörbar ist, und ebensowenig darf man bei jeder Bewegung den Stock nach vorn und hinten so hoch in die Luft schlagen, daß man den Menschen, die vor und hinter uns gehen, die Augen ausstößt. Den Stock oder Schirm wagerecht unter dem Arm zu tragen, ist eine Rücksichtslosigkeit, die nicht hart genug verurteilt werden kann. Auch darf man mit dem Stock nicht nach einem Hunde oder sonst irgend einem Tiere schlagen, da man in den meisten Fällen nicht den Schuldigen, sondern einen unbeteiligten Dritten trifft, der sich diese Liebkosung nur selten gefallen lassen wird, ohne grob zu werden. Daß der Regenschirm, wenn man ihn aufspannt, frei von Löchern sein muß, erfordert nicht nur das gute Aussehen, sondern auch der Schutz, den er uns bieten soll. Praktisch ist es, wenn die Gummibänder, die zum Zusammenhalten der Seide dienen, auch wirklich vorhanden sind. Auch der Schirm darf weder als Wurfgeschoß, noch als Hieb- oder Stichwaffe benutzt werden, und immer sollten wir daran denken, daß wir uns auf der Straße unter Menschen befinden, die wir durch unser Gebaren unter Umständen verletzen können. Für den Schaden, den wir verursachen, sind wir die verantwortlichen Redakteure und zugleich Sitzredakteure.

[427] 428. Die Krawatte wird selbst meistens gebunden und allzubunte und auffallende Farben werden vermieden. Auch der Deckschlips, der ein allzuschnelles Beschmutzen der Wäsche verhindert, ist statthaft und wird dann im Verein mit einer Busennadel getragen.

[428] 429. Toilette der Dame auf der Straße. – Im Frühling. – »Uebergangstoiletten« pflegen aus mitteldunklen Stoffen hergestellt zu werden. Wenn Pelze, Muffs und warme Jacken verschwinden oder wenigstens nach hinten in den Schrank gehängt werden, um eventuell noch einmal bei der Hand zu sein, scheut man sich doch, gleich die etwas wärmere Sonne mit allzu hellen Farben zu begrüßen; auch die plötzlich eintretenden und oft so lang anhaltenden Regentage werden gefürchtet. Da der Regenmantel aus der Garderobe der Dame fast ganz verbannt ist – es sei denn, man habe für plötzliche Unwetter einen Gummimantel oder einen Sackpaletot aus imprägnierten Stoffen –, so wählt man einen Anzug, der einen Regentropfen vertragen kann und dessen Saum nicht zu ängstlich geschont werden muß. Aeltere Damen werden schwarze, graue, dunkelbraune oder lila Kleider wählen – doch darf man besonders bei grau und lila nicht vergessen, daß die Frühlingssonne sehr kräftig ist und empfindliche Farben leicht ändern kann. Auch sonst heißt es vom Frühjahr besonders: »Die Sonne bringt es an den Tag« – und Kleider, die im trüben Februarlicht noch ganz präsentabel erschienen, weisen die schönsten Flecke oder häßlichen, abgenützten Stellen in der Märzsonne auf. Wer sich also nur einmal im Jahr Straßentoiletten anschafft, sollte es im Frühjahr, nicht im Herbst thun. Die »Uebergangskleider«, die während des Sommers auch an Regentagen oder auf Reisen benutzt werden, genügen bei etwas vorsichtigem Tragen noch vollkommen für die dunklen Herbsttage.

Nie sieht man zusammengewürfeltere Toiletten als im Frühjahr. Die Dame, die rechtzeitig den neuen Straßenanzug mit passendem Hut und Schirm bereit hat, ist gewiß selten – noch seltener die pünktlich abliefernde Schneiderin! Ueberhaupt die Schneiderin! Ich sehe rings nur zustimmende Mienen und Lippen, die zu Klageliedern schon geöffnet sind. Ja, aber meine Damen, wenn man das weiß und außerdem die Ansprüche kennt, die an die arme Schneiderin zur Frühlingszeit gestellt werden, da eben jede sich nach Kleidern sehnt, die das helle Licht nicht zu scheuen haben, so fange man doch rechtzeitig mit Einkäufen, Besorgungen und Bestellungen an! Oder man überlege sich, was von den noch vorhandenen Sachen zu einander paßt, um vorläufig zu dienen, wenn die warmen Winterkleider zu schwer und heiß werden. Bei älteren Damen, die fast nur dunkle Farben mit wenig abstechenden Besätzen tragen, wird sich leicht ein brauchbarer Rock und eine Pelerine oder ein Kragen finden – Umhänge bekommen nicht zu anormale Figuren ja auch zu jeder Zeit in den Geschäften. Aber gerade bei jüngeren Frauen und jungen Mädchen sieht man im Frühjahr eigentümliche Zusammenstellungen. Auch hier muß gesagt werden, wie von Rock und Bluse: es paßt nicht alles zusammen, selbst nicht für unsere Augen, die sich allmählich an Farbenwirkungen gewöhnt haben, die früher für Unmöglichkeiten galten, wie: braun und blau und rot und blau. Aber ein bräunlicher Rock, der Rest eines ehemals sehr chiken Lodenkostüms, ein Jackett in einer ganz anderen gelblichen Nüance, das sich über einer pfauenblauen Samtbluse öffnet, ein lachsfarbenes Hütchen und unter dem sichtbar werdenden roten Jupon grüne Stiefel – das ist zu viel! Und sei auch das einzelne der aufgeführten Dinge an sich hübsch und noch in gutem Zustande. Für den Straßenanzug wird eine Farbe immer das eleganteste bleiben und das Märchen, daß eine Uni-Toilette zu »uniform« wirke, ist gewiß längst vergessen. Darum vermeide man wenigstens zu grelle Kombinationen; wenn es sein muß, wird man doch in seinem Garderobenbestand etwas finden, was, wenn auch nicht schön, so doch wenigstens nicht auffällig zusammen ist.

Auch betreffs der Kopfbedeckungen ist man freisinniger geworden. In Städten, die viel von Engländerinnen und Amerikanerinnen besucht werden, sieht man auch im ärgsten Schneetreiben kecke sailor's-hats aus hellem Stroh, im Verein mit dicken Pelzkragen und -Boas. Ebenso begegnet man im Frühjahr schweren Filz- oder Schmelzhüten neben den leichtesten Tüll- und Gazegebilden; dunklen Federgebäuden neben ganzen Blumengärten. Auch hier sollte man Maß halten: zu helle Hüte wirken nicht, wenn die leicht erzürnte Märzsonne sich plötzlich wieder verbirgt – ebenso befremdlich sind Pelzbaretts an warmen Tagen, wenn schon Krokus und Hyazinthen in den Gärten blühen. Ein leichter, weicher Filzhut, der später dieselben Dienste erweist, wie das Uebergangskleid, wird am angenehmsten sein und ist am besten in Herrenform oder als sailor's-hat zu wählen. Kommt dann endlich der große Tag, an dem die in alle Himmelsrichtungen verwünschte und doch emsig weiternähende Schneiderin die Frühlingskleider abliefert, so wird der Filzhut zu dem einen, das vielleicht ein schlichtes tailor-made (Schneiderkleid) mit passendem Jackett ist, sehr bequem sein, während man zu dem andern, reicher garnierten und helleren einen kleinen Hut aus Blumen oder eine helle toque wählen wird. Auch »Rock und Jacke«, tailor-made sind eine beliebte Frühjahrstracht. Doch ist sehr zu empfehlen, sich außer den bunten, dazu getragenen Blusen eine in derselben Farbe, vielleicht aus leichter Wolle oder Seide machen zu lassen; ein ganzes einfarbiges Kostüm ist oft wünschenswert.

In allen Ländern und Städten sieht man im Frühjahr die schönsten Toiletten. Das liegt eben in dem Wunsch der Menschen, sich zu verjüngen wie die Erde und mit der Schönheit rundum stand zu halten. In London sieht man im Mai mittags während der Auffahrt im Hyde-Park die elegantesten und bestgekleideten Frauen – in Paris bringt die Mode am Tage des »Grand Prix« ihre Gesetze und neuen Anregungen für das ganze kommende Jahr.

Schirm und Fächer werden viel im Frühjahr benutzt, da die scharfe Sonne zartem Teint leicht gefährlich wird und man nie leichter »einbrennt« oder sich »Sommersprossen« zulegt, als im Frühjahr. Daher sollte man im Lenz nur helle, dichte Schleier tragen – keine dunklen, unter denen die Haut noch mehr verbrennt.

[429] 430. Im Sommer. Die ältere Dame wird auch für heiße Sommertage gemäßigten Farben, wie grau, grau und schwarz, schwarz und weiß oder lila mit irgend einer Zusammenstellung treu bleiben. Es sei denn, sie beanspruche noch voll ihr Recht, gesehen und bewundert zu werden, und rivalisiere mit den kurzröckigen Mädchen von fünfzehn oder sechzehn Jahren. Man braucht sich in einem gewissen Alter durchaus noch nicht matronenhaft zu kleiden, um offen zu gestehen, daß man auf jedes Gefallen verzichtet hat. Die Zeit, in der ältere und alte Damen nur mit Kapoten mit breiten lila Bindebändern und schweren Perlkragen auch in den ärgsten Hundstagen einherkeuchen mußten, ist längst überwunden. Man sieht Damen, grauhaarig und von einer Schar Enkelkinder umgeben, auf dem Rade sitzen, im fußfreien, enganliegenden Lodenrock und heller Bluse, das Jackett aufgeschnallt. Auf den Spitzen der Alpen, auf den lieblichen Bergen des Harzes und in den Thälern des schönen Schwarzwaldes marschieren Damen mit Handstock und Rucksack, feste Nagelschuhe an den Füßen, statt der hemmenden Unterkleider nur »Reform«, Damen, die sechs Dezennien munter besiegt haben und keinen Wettlauf mit den trainiertesten Herren fürchten. Ueber diese Damen, die sich in späten Jahren noch zu der Ueberzeugung aufgerafft haben, daß nichts schöner, nichts gesünder ist als viel Bewegung in der freien Natur, sollte man nie spotten oder lachen, selbst wenn man ihre Toilette dem Alter nicht ganz angemessen findet. Denn erstens würden sie sich aus dem Spott nichts machen, da er ihnen das Vergnügen nicht verkürzen könnte – und zweitens werden sie durch ihr Vorbild immer neue Anhängerinnen für Sport und Wanderlust erwerben.

Nicht ganz so billig wird man über die alten Damen denken, die in hellster Sommertoilette, mit zarten Heckenrosen oder Taubenflügeln auf dem Rosahütchen wie ein Zauberbild fern in der Straße auftauchen, daß der Arglose seine Schritte beflügelt, um sie zu erreichen, ihr Lächeln klopfenden Herzens erwidert, fünf Schritte vorher viel Puder konstatiert, abgesehen von rotblond gefärbten Haaren und nachgezogenen Augenbrauen, im Vorbeigehen einen bedauernden Blick auf die in viel zu engen hellen Lederschuhen steckenden Füße wirft und sofort mit einem Seufzer murmelt: »Wieder ein Blender! der fünfte heute! Wo mögen sie nur alle herkommen – die Alten?« Nicht höflich, gewiß – aber sehr gerecht! Wenn die alten Damen wüßten, wie alt sie aussehen in weißen Battistkleidern, rosa Krepp oder ganz hellblauer mit Spitzen bezogener Seide – sie würden schaudern! Auch die noch passable, wenig aufgebesserte Figur, kleine Füße und krampfhaft festgehaltene Anmut kann darin nichts ändern.

Und wie hübsch können alte weißhaarige Damen aussehen! Schön – vornehm – bewundernswert – so daß man immer und immer wieder nach ihnen blicken muß und sich wünscht: »So möchtest du auch einmal aussehen!« Eins paßt eben nicht für alle. Eine ältere Dame kann es noch wagen, wegen ihres schönen, faltenlosen Teints und der wohlerhaltenen Figur ganz moderne Kleider mit allem Raffinement im Besatz zu tragen – nur in der Farbenwahl wird und muß sie vorsichtig sein! Eine andere, die weder Formen noch glatte Haut bewahrt hat, muß sich in das »Matronenhafte« hineinfinden und ihre Zuflucht zu schlichten, mittelfarbigen Kleidern mit hübschem Spitzenausputz und kleinem Häubchen nehmen. Denn gerade in Hüten wird viel gesündigt, Matrosenhüte und Kate Greenways sollten doch nach Fünfzig endlich abgelegt werden! So hübsch ein junges Gesicht aus dem zarten Rahmen eines »Helgoländers« heraussieht – bei einem alten wirkt es wie eine Ironie! »Mit Würden« alt werden ist eine große Kunst, die aber viel Erfolg haben kann. Man verlangt von einer alten Dame gar nicht, daß sie sich streng allen Gesetzen der Mode unterwerfen soll. Im Gegenteil, sie soll einen eigenen »Stil« haben, den sie doch immer der bestehenden Mode insofern anschließen kann, als sie keine großen Aermel tragen wird, wenn enge vorgeschrieben sind u.s.w. Aber den Auswüchsen der Mode sollte sich eine alte Dame noch ferner halten als eine junge.

So wird uns eine ältere Dame in Straßentoilette am besten gefallen, wenn sie ein Kleid aus leichter Seide oder feiner Wolle trägt, von dem man merkt, daß es sie nirgends beengt oder ihr unbequem ist; wenn sie einen Hut von wenig auffallender Form und Farbe trägt und auch in Schirm, Schuhen und Unterkleidern jede Extravaganz meidet. So wie wir verlangen, daß der Charakter eines alten Menschen abgeklärt ist und sich von allem Uebermaß an Leidenschaften befreit hat, so soll auch äußerlich die alte Dame wohlthuend auf unser Auge wirken und durch ihre Toilette und ihr Aussehen die Hochachtung steigern, die wir schon ihrem Alter schulden.

Die jüngere, verheiratete Frau darf jetzt alles tragen, was ihr steht. Von Matrosenkleidern wird sie von selbst absehen, ebenso von zu kurzen Röcken oder zu kindlichen Hüten. Durch die verschiedenen Sports ist ja ein so großer Umschwung in der Damentoilette eingetreten, daß es eigentlich keine Grenze mehr für Erlaubtes und Unerlaubtes giebt. Man sollte sich aber begnügen, Radelkostüme, Tennis- oder Wassersportkleider zu den passenden Gelegenheiten zu tragen und sie nicht ein- für allemal als bequeme Straßentoilette einführen. Ein recht gutsitzendes tailor-made-Kleid, ein schlichter, dunkelblauer, schwarzer oder grauer Rock mit gleichfarbener Jacke und verschiedenen einfachen und eleganteren Blusen; ein sehr elegantes Promenadenkleid für Besuche, Ausfahrten und kühlere Tage und dann nach Geschmack und Vermögen ganz leichte Kleider aus Seide, Musselin, Battist, Leinen, Alpaka, Mohair, schlicht oder reich garniert, werden zur Sommertoilette der eleganteren Frau gehören. Auch Loden- oder cover-coat-Kostüme für kühle Abende oder trübe Tage werden viel getragen. Sehr bequem sind auch ganz weiße Röcke aus Piqué oder Battist, die zu jeder hellen Bluse passen. Bei Wasschkleidern erschwere man die Wäsche und Plätterei nicht durch zu viel Volants, Plisses und Spitzen; je schlichter Waschkleider gearbeitet sind, desto besser bewahren sie Fasson, der Hut wird sich ungefähr der Toilette anpassen; zu harte Zusammenstellungen vermeide man. Es ist daher sehr praktisch, einen ganz weiten oder gelben, einen schwarzen und vielleicht einen Hut in einer Farbe mauve oder braun zu haben, die zu vielen Kostümen zu verwenden sind. Am hübschesten ist ein Anzug in einer Farbe mit passendem Hut und Schirm. Auch die Unterkleider trägt man nicht mehr in zu grellen Kontrasten zum Kleiderrock. – Mit Schuhen wird viel Luxus getrieben; und gewiß sieht ein ganz heller Lederschuh oder -stiefel zu einer hellen Toilette besser aus, als ein schwarzer. Man berücksichtige aber etwas die Wege, die man zu durchschreiten hat, auch, ob die Stadt rein oder nachlässig gehalten wird und ob man sich eventuell für den Sommer noch ein Paar Promenadenschuhe anschaffen kann. Wessen Budget nur ein Paar gestattet, sollte ruhig bei schwarzen oder braunen Schuhen bleiben, sie sind jedenfalls hübscher als unsaubere helle.

Die Sommertoilette des jungen Mädchens wird auch für leichte, wollene Kleider die helle Farbe bevorzugen. Ein dunkleres Kostüm für Regentage ist ausreichend. Nichts steht einem jungen Mädchen besser, als ein frisches Waschkleid oder gutsitzende Blusen zu weißen oder dunkleren Röcken. Der schönste Schmuck eines Mädchens liegt in dem »Adrettsein« und das schlichteste Kattunfähnchen besticht durch seine Sauberkeit. Etwas mehr Mühe wird es machen, Waschkleider zu tragen, als helle Woll- oder Seidenkleider. Denn man wird es schon nach ein- oder zweimaligem Tragen »aufplätten« müssen und nach jeder Wäsche ein paar Haken oder Knöpfe anzunähen haben. Diese beiden Bedingungen sollte das junge Mädchen, das helle Waschkleider bevorzugt, auch erfüllen. Unsaubere, zerknitterte Kleider sind mehr als unschön – ebenso schlechtschließende Kragen oder Rockquäder. Grade bei Sommerkleidern sieht man am häufigsten schlechtsitzende Gürtel, die krampfhaft an Rock oder Taille festgesteckt sind und weder fest die Figur umspannen noch den Rockbund halten. Das junge Mädchen beachte das Prinzip der Französin, die dadurch dem bescheidensten Kleidchen den besonderen Reiz verleiht: »Trage etwas Geschmackvolles, Kleidsames am Halse, einen perfekt sitzenden Gürtel und gutes Schuhzeug« – diese drei Faktoren tragen viel zu dem anerkannt chiken Anzug auch der einfachsten Pariserin bei.

Im allgemeinen werden die jüngeren verheirateten Frauen und die jungen Mädchen Sommerkleider nach derselben Art tragen; nur daß sich die Unverheirateten noch mehr »Jugendliches« erlauben dürfen.

Auch in Hüten; junge Mädchen tragen jetzt zur Straßentoilette fast ausschließlich sailor's-hats oder Herrenfassons und nur zu den elegantesten Kleidern garnierte Hüte, denen die Schirme dann möglichst angepaßt werden. Auch auf saubere und heile Handschuhe muß eine junge Dame viel Gewicht legen. Lieber Zwirnhandschuhe, die leicht zu reinigen sind, oder dunkle Glacés, als schmutzige, ehemals helle »Schweden«. Waschlederne Handschuhe sind sehr bequem für den Sommer.

[430] 431. Im Herbst. Bei den Herbsttoiletten wird man zu gemäßigteren Farben übergehen, wie im Frühjahr. Die älteren Damen werden sich der schweren, mit Schmelz bedeckten Capes erinnern, die jüngeren Frauen werden nach Möglichkeit weiße und helle Cheviot-, Tuch und Kaschmirkleider »auftragen« wollen. Dies »Sommerjackett«, das in seiner neutralen braunen oder grauen Farbe im Frühjahr sehnlichst erwünscht wurde als »Vervollständigung jedes Kleides« und das während des Sommers doch fast vergessen wurde, da man fast zu jedem Kostüm eine Jacke hatte – kommt endlich zur Geltung für die langen, kalten Abende. Es entsteht außerdem ein ähnliches Gewirr von den Resten verschiedener »Saisons«, wie im Frühjahr, und wieder schützt man sich mit allerlei Aushilfen gegen die wechselnde Temperatur, Schneiderkleid und Rock und Jacke spielen im Herbst eine große Rolle, besonders da, wo man zur Einsicht gelangt ist, daß der strapazierte blaue Tuch- oder Cheviotrock mit den verwaschenen Blusen »nicht mehr geht«, wenn alle Welt zur Stadt zurückkommt. Für das Haus mag dies oder jenes noch gehen – für die Straße kann man gar nicht eigen genug sein. Wird aber das »Frühlingskleid« im Sommer rücksichtsvoll behandelt und immer zu besonderen Gelegenheiten aufgespart, so wird es uns jetzt durch seinen guten Zustand erfreuen und uns das behagliche Gefühl geben, ein der Jahreszeit ganz angemessenes, wenn auch nicht allermodernstes Kleid zu besitzen. Denn natürlich giebt es auch »Herbst-Moden«, Kleider aus etwas schwereren Stoffen und mit reicheren Garnierungen, als zum Frühjahr. Für die Auserwählten aber, die auch für diese »Saison« eine besondere Toilettenpracht entwickeln können, ist es nicht nötig, gute Ratschläge zu geben – sie stehen unter der Allmacht des Schneiders und brauchen keine Rücksicht auf noch vorhandene Garderobenstücke zu nehmen.

[431] 432. Im Winter. Im Winter wird die ältere Dame schwere, schwarze oder doch dunkle Stoffe zur Straßentoilette wählen. Einerlei, ob das schon durch die Kälte bedingt ist. Man ist daran gewöhnt, sich in der Toilette den Jahreszeiten anzupassen und ein leichter Alpakarock, den man im Sommer hübsch, jetzt aber direkt »windig« findet, wird mit spöttischem Lächeln gemustert. Was die vornehme, ältere Dame an jugendlichem Zuschnitt der Garderobe entbehren und vermeiden muß, soll durch wertvolles Material ersetzt werden. So wird sie die allerschwerste Seide zum Umhang oder Mantel, den kostbarsten Pelz als Futter oder Besatz wählen können. Zu kostbar kann der Winteranzug einer älteren Dame kaum sein – wieder vorausgesetzt, daß sie auffallende Farben vermeidet. Ebenso soll der Hut von gutem Stoff sein und Zuthaten aufweisen, die nicht gleich vom Unwetter zerzaust oder ruiniert werden können. – Die jüngere Frau wird für sonnige Tage ein oder zwei hellere Toiletten aus Tuch, Cheviot oder Samt haben, die reich mit Verschnürungen oder Pelz besetzt sind. Alles, was Franse heißt, Guimpe, Agrements, Kordel oder Band wird im Winter zur Garnierung der Straßenkleider angewandt; ebenso Steppnähte oder aufgesetzte Streifen vom selben Stoff, wie das Kleid. Und wer sich nicht gutes Pelzwerk anschaffen kann, begnüge sich ruhig mit diesen Verzierungen. Denn da man endlich in Deutschland angefangen hat, feine Pelzsorten zu kennen und zu schätzen, trägt man ungern mehr geringwertige Arten. Schön ist ein Kleidersaum oder -besatz von Nörz, Zobel, Chinchilla, Blaufuchs, Breitschwanz, Biber, Krimmer oder Astrachan ja gewiß – nur leider für wenige Börsen erschwinglich. Statt der Imitationen, die meistens auch schlecht gefärbt sind und sich deshalb als unpraktisch beim Tragen erweisen, nehme man lieber einfacheren Besatz und beschränke sich darauf, das Jackett mit einem Pelzkragen auszustatten und einen guten Muff zu kaufen. Am bequemsten ist eine ganz dunkle Winterjacke, schwarz oder dunkelblau, besser noch, wenn man zwei Straßentoiletten hat, genau dazu passende Jacketts zu besitzen. Die Tuchjacken müssen mit Flanell oder Seide abgefüttert werden, selbst auf die Gefahr hin, die Taille etwas zu vergröbern – aber ein Winteranzug muß warm sein. Das bekannte und vielbeklagte Uebel »die rote Nase« würde sonst noch mehr arme Frauen quälen. Die Aerzte haben soviel über, gegen und für den Schleier gesprochen, daß man kaum wagt, ihn noch als notwendiges Attribut der Wintertoilette zu nennen. Der Schleier gehört aber zur Straßentoilette der Dame in allen Jahreszeiten und er wird auch seinen Platz trotz aller Anfechtungen behaupten. Er wird schon durch die Frisur zu einem unentbehrlichen Requisit – was würde im Winter, bei Sturm, Schnee und Regen, aus all den natürlichen und künstlichen Locken, die unter dem Hutrand hervorsehen und die doch unbedingt zum guten Aussehen gehören? Und »verflogen« um den Kopf auszusehen, plötzlich eine kahle Stirn oder lange Strähnen zu zeigen, wo sonst die lieblichsten Locken sich kräuselten – das ist sicher noch schlimmer, als eine eventuelle rote Nase! Denn immer entsteht sie doch nicht – und ebenso kann niemand beweisen, daß sie »nur« vom Schleier kommt. Gehemmte Blutzirkulation soll noch häufiger die Ursache sein, auch erweiterte Blutgefäße oder Bleichsucht, die ja auch schlechten Blutumlauf zur Folge hat.

Damen der »alten Schule« finden es unpassend, daß man auf der Straße die Figur zeigt. Sie sind für lange, verhüllende Mäntel oder weite Kragen eingenommen. Kaum eine der jüngeren Frauen wird ihnen in dieser Theorie beistimmen – von den jungen Mädchen sicher kein einziges! Bei denen ist es »absolut notwendig«, ein tadellos sitzendes Winterjackett zu haben, das trotz seines schweren Stoffes die Taille so schlank wie nur möglich macht. An sonnigen Tagen werden besonders Eitle sogar »per Taille« spazieren gehen und sich sorglos über alle drohenden Katarrhe und Lungenentzündungen hinwegsetzen. Auch die ganz kurzen Jacken, Boleros und Etonjacketts sind sehr beliebt, ebenso die ärmellosen Westen zum Ueberziehen über die Taille. Ein recht hübsches Winterkostüm mit Pelzbesatz und elegantem Hut wird das Jackett mit dem beliebigen Rock an allen Feiertagen ablösen. Nur sollen junge Mädchen nicht zu kostbare Stoffe tragen – bei Pelzen hören die Bestimmungen auf – und vor allen Dingen, mehr noch als die Frauen, alles Auffallende vermeiden. Niemand darf auch nur einen Moment im Zweifel sein, daß er einer »Dame« begegnet.

[432] 433. Das Benehmen auf der Straße. Jeder, der schon den bunten Rock, wenn auch nur vorübergehend, angehabt hat, weiß, daß die schwerste Kunst, die er beim Militär zu erlernen hat, das Gehen ist. Die wenigsten haben einen natürlichen Gang und jeder verfügt über mehr oder weniger Untugenden. Der eine setzt die Füße zu weit auswärts, der andere tritt sich selbst beständig auf die große Zehe, weil er die Fußspitzen nicht auseinander bekommt, der dritte geht steif mit durchgedrückten Knien, als wäre er weiter nichts, als eine Holzlatte, der vierte knickt bei jedem Schritt in den Knien ein, als trüge er nicht nur die eigenen Sünden, sondern die Schuld der ganzen Menschheit auf seinen Schultern spazieren. Der eine hält die Arme unbeweglich an der Seite, der andere wieder schlenkert mit ihnen in der Luft herum, wieder ein anderer hat den Kopf und den Blick zu Boden gesenkt, als wären die Steine, auf denen er daherwandelt, geheimnisvolle Runen. Der eine hat diese, der andere jene Untugenden. – Je ungezwungener und je natürlicher der Gang ist, desto eleganter ist er, und durch die Natürlichkeit wird es auch vermieden, daß jemand bei dem Anblick der Geliebten in seine alten Fehler zurückfällt, über seine Füße stolpert und sich der Coeurdame unaufgefordert und vor versammeltem Publikum zu Füßen legt. Ueberhaupt sind die Leute, die auf der Straße plötzlich einen Verlegenheitstaumel bekommen, fürchterlich. Der eine sieht emsig nach der Uhr, der zweite studiert die Schaufenster, der dritte thut dieses, der vierte jenes, – es sieht so gekünstelt wie nur möglich aus, aber dabei verlangen sie allen Ernstes, daß man ihr Thun und Treiben für natürlich hält. Geradezu unhöflich ist es, bei dem Anblick einer Person, an der man nicht vorbeigehen will, plötzlich in einen Laden zu treten oder auf eine zufällig vorbeifahrende Pferdebahn zu springen.

[433] 434. Grüßen. Die erste Pflicht ist, auf der Straße aufmerksam im Grüßen zu sein. Bei uns in Deutschland ist es im Gegensatz zu anderen Ländern Sitte, daß jeder Herr die bekannte Dame zuerst grüßt. Der Gruß sei höflich, aber nicht unterthänig. Man zieht den Hut nicht soweit herunter, daß man den Arm dabei ganz nach unten herunterstreckt, aber ebensowenig lüftet man denselben nur ein ganz klein wenig. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Bei dem Grüßen den Hut mit einer gekünstelt eckigen Bewegung des Ellbogens nach vorn zu strecken, ist eine Unsitte der Gecken, die dies für besonders geistreich halten. Immer soll man den Hut mit der rechten Hand ziehen, links darf man nur dann grüßen, wenn man eine Dame führt. Selbst beim Militär verlangen die höchsten Vorgesetzten nicht, daß man eine Dame zum Gruß losläßt, um so weniger können dies die civilistischen Vorgesetzten thun. Von seiner Dame trennt man sich nur dann, wenn ein Mitglied des Königshauses, vor dem man beim Gruß stehen zu bleiben hat, vorbeifährt. Der Soldat grüßt sechs Schritte vorher und sechs Schritte hinterher. Für uns, die wir nicht den bunten Rock tragen, können wir daraus die gute Lehre ziehen, nicht erst im letzten Augenblick zu grüßen und nicht sofort den Hut wieder aufzusetzen. Nur alte Herren haben das Vorrecht, mit dem Abnehmen des Hutes sparsam zu sein, und es ist sehr verständig, daß in einigen Städten Antigrüßvereine bestehen. Die Mitglieder, natürlich nur ältere und alte Herren mit einem mehr oder weniger großen Vollmondzauber auf dem Scheitel, zahlen dafür, daß sie den Hut aus Gesundheitsrücksichten nicht beständig ziehen, einen jährlichen Beitrag, von dem zu Ostern den Konfirmanden Hüte geschenkt werden. Daß es unter Umständen Damen giebt, die die Gesetze dieser Vereine nicht an erkennen, ist selbstverständlich, aber allen zu gefallen und es allen recht zu machen, ist unmöglich. – Gleichaltrige und gleichgestellte Personen werden sich stets gleichzeitig grüßen; bei älteren hat die Jugend zuerst an den Hut zu fassen. Niemals darf man während des Grüßens die linke Hand in der Paletottasche behalten, noch ungezogener aber ist es, bei dem Gruß die Cigarre im Munde zu behalten, im Sprechen fortzufahren oder jemand den Rauch einer meist üblen Cigarre ins Gesicht zu blasen. Eine Dame, die uns persönlich bekannt ist und die auch nur ein einzigesmal gegrüßt hat, soll man auch dann stets wieder grüßen, wenn sie unseren Gruß unhöflich, unfreundlich oder gar nicht erwidert. Selbst dann, wenn wir glauben, daß hierbei nicht nur eine Nachlässigkeit, sondern sogar böse Absicht vorliegt, dürfen wir Herren nicht aufhören, die Pflicht der Höflichkeit zu erfüllen. – Man erwidert jeden Gruß, auch den der unter uns Stehenden. Ein wahrhaft gebildeter Mensch wird den Gruß eines Arbeiters oder eines Bettlers ebenso höflich erwidern, wie den eines Bekannten. Wird ein Bekannter, den wir begleiten, von einem dritten Herrn gegrüßt, so haben wir auch dann mit zu grüßen, wenn für uns selbst der dritte ein geheimnisvoller großer Unbekannter ist. Geht man mit einem Offizier, so hat man auch als Civilist die grüßenden Offiziere mitzugrüßen. Eine einzige Ausnahme in dieser Hinsicht bildet Berlin, in welcher Stadt Offiziere von den Civilisten nicht mitgegrüßt werden. Die Ehrenbezeigungen der Unteroffiziere und Mannschaften, die unserem militärischen Begleiter gelten, brauchen wir als Civilist nicht zu erwidern. Je jünger jemand ist, desto liebenswürdiger sollte er grüßen und auch die Herren Primaner und Schüler müßten ihren Ehrgeiz darein setzen, nicht nur, wie sie es nennen, zu deckeln, sondern thatsächlich zu grüßen.

Durch einen Zuruf darf man sich nur dann guten Tag sagen, wenn man miteinander sehr bekannt ist oder sich in einer menschenleeren Straße befindet. Wer an einem Bekannten vorbeiradelt, darf den militärischen Gruß anwenden; hübsch ist er zwar nicht, aber er macht sich immer besser, als wenn jemand elegant den Hut lüftet, dabei die Balance verliert und mit dem Rade hinschlägt. – Wer an einem Bekannten vorbeireitet, grüßt mit dem Hut, nicht mit der Peitsche, dagegen würde es sonderbar aussehen, wenn ein Herr, der sein eigenes Gefährt lenkt, plötzlich seinen Cylinder zöge.

[434] 435. Gruß der Damen. Nach meiner allerdings ja nicht maßgebenden Ansicht liegt der häßliche Gruß, den (Pardon) die meisten Damen an sich haben, daran, daß sie als Kinder und als Backfische während des Grüßens stehen blieben und mehr oder weniger tief in den Kniekehlen zusammensanken. Junge Mädchen, die einen anderen Gruß haben, giebt es kaum. Die Erinnerung an dieses Stehenbleiben wird man in späteren Jahren nur schwer oder gar nicht wieder los und entweder verlangsamt oder beeilt man infolgedessen auch später beim Gruß den Schritt. Die Zahl der Damen, die einen wirklich liebenswürdigen, höflichen und eleganten Gruß haben, ist nicht groß. Daß es sehr schwer ist, sich im Gehen mit Anstand und Grazie zu verneigen, soll nicht geleugnet werden, aber dennoch wird es von jeder Dame verlangt. – Die meisten begnügen sich damit, mit dem Kopf zu nicken; zuweilen dauert dieser Gruß nur einen Moment und wird so kurz und energisch ausgeführt, daß man befurchtet, die Dame müsse sich dabei den Halswirbel brechen. Wieder andere haben die böse Angewohnheit, ihr Gesicht beim Gruß in überfreundliche Falten zu legen. Ich denke eben an eine Dame meiner Bekanntschaft, die trotz ihrer 50 Jahr absolut die Jugendliche spielen wollte. Sobald sie einen Herrn auf der Straße sah, öffnete sie für einen kurzen Augenblick mit einer geradezu schnappenden Bewegung den Mund, schloß dann wieder die Lippen und zauberte ein Lächeln hervor, das sich bis zu beiden Ohren hinzog und eher einen gefährlichen, als einen liebenswürdigen Eindruck machte. Einige Damen können überhaupt nicht grüßen und danken infolgedessen höchstens mit einem Augenaufschlag, während andere selbst bei dem Gruß auf der Straße in der Taille zusammenknicken und dabei eine höchst unglückliche Figur bilden. – Ebenso wie man das Tanzen in seiner Jugend lernt, sollte man auch im Grüßen Unterricht nehmen. Wie dem aber auch immer sei: jede Dame sollte es sich zur Regel machen, jeden Gruß eines Herrn, selbst dann, wenn nach ihrer Meinung ein Versehen des Betreffenden vorliegt, zu erwidern und den Betreffenden nicht verwundert ansehen, als wollte sie sagen: »Wie ist es, Alexander, kennen wir uns denn einander?« Daß eine Dame, deren Begleiter von einem Herrn gegrüßt wird, diesen Gruß mit erwidert, wenn sie den Herrn nicht kennt, ist nicht unbedingt erforderlich, höflicher aber ist es auf jeden Fall. Grüßt ihr Begleiter eine Dame, so hat sie aber unbedingt sich vor dieser ebenfalls zu verbeugen. – Sehr häufig nehmen die Damen es übel, wenn ein Herr, der ihnen vielleicht am Abend vorher auf einer Gesellschaft vorgestellt worden ist, an ihnen vorübergeht, ohne zu grüßen. Es ist dies fast immer ein Zeichen von Kleinlichkeit und außerdem sollten die Damen bedenken, daß es für einen Herrn äußerst schwierig ist, eine Dame, die er in ausgeschnittener Balltoilette, mit Blumen im Haar, für nur wenige Minuten sah, am nächsten Tage in Straßentoilette, mit dem Hut auf dem Kopfe und im umgebundenen Schleier wieder zu erkennen. In einem solchen Falle würde die Dame sich auch dadurch nichts vergeben, wenn sie zuerst den Kopf neigt und damit den Herrn auf die gegenseitige Bekanntschaft aufmerksam macht. – Die junge Dame wird die ältere stets zuerst grüßen, wie natürlich auch ein junges Mädchen eine verheiratete Dame zuerst grüßen muß. Radelnde Damen grüßen durch ein Neigen des Kopfes; selbst wenn sie in Pluderhosen mit der Jockeymütze auf dem Kopfe die Pedale treten, dürfen sie nicht die Hand an die Kopfbedeckung legen. Ist eine Dame in der Ausübung dieses Sportes noch nicht ganz sicher, so thut sie am besten, zu Haus zu bleiben. Es macht keineswegs einen hübschen Eindruck, wenn eine radelnde Dame ihren Bekannten schon von weitem zuruft: »Seien Sie mir nicht böse, wenn ich nicht grüße, das kann ich aber auf dem Rade noch nicht!«

[435] 436. Weiteres Benehmen auf der Straße. In erster Linie empfiehlt es sich, auf der Straße die Augen aufzumachen und keinen Vorübergehenden anzurennen. Ist dies dennoch geschehen, so entschuldige man sich, und zwar nicht nur mit einem halblaut gemurmelten »Pardon«, sondern man lüfte als Herr den Hut und verneige sich, wenn man den Vorzug hat, dem schöneren Geschlecht anzugehören.

Man betrage sich so wenig auffallend, wie nur möglich. Dazu gehört, daß man in seiner Unterhaltung nicht zu laut ist. Diskrete Angelegenheiten, Bemerkungen über dritte Personen, sowie Geldgeschäfte dürfen nie in der Oeffentlichkeit behandelt werden. Ebensowenig darf man als Herr seinem Begleiter jene Geschichten erzählen, die man mit der Bezeichnung »Nicht für junge Backfische« belegen kann. – Selbst der beste Witz, der uns mitgeteilt wird, darf uns nicht verleiten, in ein Gelächter auszubrechen, das an das Wiehern eines Rosses erinnert, und nur ganz Ungebildete krümmen sich nicht nur in Worten, sondern auch in Thaten auf der Straße vor Lachen. Wer seine Heiterkeit nicht zu unterdrücken vermag, bemühe sich wenigstens, im tiefsten Baß und nicht in den höchsten Fisteltönen zu kichern, obgleich die Ansichten der Gelehrten in der letzten Zeit darüber weit auseinandergehen, welche Töne weiterhin hörbar wären, die tiefen oder die hohen. Wenn Bekannte sich auf der Straße ansprechen, so dürfen sie mit Rücksicht auf die übrigen Passanten nicht mitten auf dem Trottoir stehen bleiben, sondern sollen entweder an ein Ladenfenstertreten oder gemeinsam den Weg fortsetzen.

[436] 437. Ansprechen von Damen. Ob ein Herr eine Dame zuerst ansprechen darf, hängt natürlich von dem Alter der Beteiligten und von der Länge und der Vertraulichkeit ihrer Bekanntschaft ab. Allerdings herrschen in dieser Hinsicht auch geradezu spießbürgerliche Ansichten. Ich erinnere mich, daß in einer kleinen Stadt, in der ich eine Zeitlang lebte, einmal geradezu ein Aufruhr, eine Empörung und ein wahnsinniges Entsetzen alle Gemüter befiel, weil ein junger Ehemann ein junges Mädchen auf der Straße angesprochen und sich bei ihr erkundigt hatte, wie ihr der Ballabend am Tage vorher bekommen wäre. Daß kein junger Mensch eine junge Dame anreden darf, wenn er nicht in den Verdacht kommen will, aufdringlich zu sein, und wenn er es nicht geradezu heraufbeschwören will, die Dame mit ihm ins Gerede zu bringen, ist selbstverständlich. Andererseits sollte man aber auch nicht zu prüde Ansichten haben und sich etwas nach dem Beispiel und den Sitten anderer Länder richten. – In Norwegen und Schweden machen junge Leute beiderlei Geschlechts zusammen tage-und wochenlange Reisen ohne auch nur eine Anstandsdame mit sich zu führen, und niemand findet auch nur das Geringste darin. Bei uns dagegen steht Europa auf dem Kopfe, wenn eine junge Dame mit einem Herrn ihrer Bekanntschaft für einen Augenblick in eine Konditorei tritt. Im allgemeinen kann es als Regel gelten, daß die Dame den Herrn zuerst ansprechen muß. Begleitet der Herr sie dann, so geht er stets auf ihrer linken Seite. Bei der Verabschiedung hat er es abzuwarten, ob sie ihm die Hand reicht, und hat sich dann durch ein Lüften seines Hutes von ihr zu empfehlen.

[437] 438. Rauchen auf der Straße. Die Unsitte, auf der Straße zu rauchen, greift unter den Herren leider immer mehr um sich. Die Damen, denen man mit der Cigarette im Munde begegnet, gehören Gott sei Dank noch zur Seltenheit. Ueber das Rauchen auf der Straße sind schon Bücher geschrieben worden und ich maße mir nicht an, diese Frage endgültig lösen zu wollen. Daß man sich den Tabak in der Oeffentlichkeit abgewöhnen kann, ist eine Thatsache, die ich an meinem eigenen Leibe erfahren habe, und ich glaube, ein leidenschaftlicherer Raucher, als ich es bin, soll erst noch geboren werden. Wenigstens sollte man sich den Genuß einer Cigarre auf der Straße vorenthalten und sich mit einer Cigarette begnügen. Kurze Pfeifen, sogenannte »Nasenwärmer« zu rauchen, ist das Vorrecht der Schiffer und Seeleute. Daß Engländer und Amerikaner, die sich in Deutschland aufhalten und für viele der Inbegriff der guten Sitte und Moral sind, uns den Rauch ihrer Holzpfeifen ins Gesicht blasen, darf uns nicht veranlassen, diesem schlechten Beispiel zu folgen. Ungezogen ist es, in Begleitung einer Dame zu rauchen, und selbst wenn man mit seiner rechtmäßig angetrauten Gattin geht, soll man den Inhalt seiner Cigarrentasche nicht anrühren, wie man überhaupt gegen seine eigene Frau noch rücksichtsvoller sein soll, als gegen andere. Ebenso, wie kein gebildeter Mensch auf der Straße essen oder sich plötzlich aus einer Bierflasche, die er aus einem Paletot hervorzieht, stärken wird, sollte man seine schwachen Lebensgeister in der Oeffentlichkeit durch den Nicotin auffrischen. Wer aus irgend einem Grunde das Bedürfnis zu spucken nicht unterdrücken kann, ziehe sein Taschentuch oder spucke in den Rinnstein, aber beschmutze nicht den Fahrdamm, den wir mit unseren Füßen und mit unseren Kleidern berühren.

[438] 439. Singen auf der Straße. Selbst der musikalischste Mensch, ja sogar der Dirigent, der eben von der Probe, der Komponist, der eben von der ersten Aufführung seiner ersten Oper kommt, darf sich nicht dazu verleiten lassen, auf der Straße zu singen, Melodieen vor sich hinzubrummen oder laut zu pfeifen. Es ist dies ein Zeichen von Unerzogenheit, über die man sich mit Recht bei den Straßenjungens ärgert. Unter polizeiliche Kontrolle verdienen solche Leute gestellt zu werden, die Melodien vor sich herbrummen, ohne auch nur das geringste musikalische Empfinden zu haben, und die die »Wacht am Rhein« nach den Klängen des Chopinschen Trauermarsches bearbeiten. In der Oeffentlichkeit vor sich hinzubrummen und zu singen, kann man ruhig alten Herren überlassen, die im Laufe der Zeit etwas wunderlich geworden sind und nicht mehr die geistigen und physischen Kräfte haben, ihr eigenes Thun und Treiben zu kontrollieren. Wollte man einen alten Herrn wegen dieser seiner Untugend als jüngerer auslachen, so wäre das zum mindesten wenig angebracht. Wer sich in der Jugend über die Schwächen des Alters moquiert, soll daran denken, daß auch er vielleicht dereinst ein alter Mummelgreis wird.

[439] 440. Andere Unarten. Auch das Pfeifen auf der Straße ist unstatthaft. Nicht nur, daß man keine Vorstellungen im Kunstpfeifen geben darf, man muß es auch unter allen Umständen vermeiden, einen Bekannten, der vor uns geht und den wir gern einholen wollen, aber nicht können, durch Pfeifen auf uns aufmerksam zu machen. Ein altes, sehr derbes, aber auch sehr wahres Wort sagt: »Wer sich bei einem Pfiff umdreht, ist hündisch wie ein Hund.« – Aber auch seinem Hunde zu pfeifen muß man soviel wie möglich vermeiden. Tiere, die so schlecht erzogen sind, daß sie ihrem Herrn beständig fortlaufen, jeden Passanten anrennen und anbellen, kläffend hinter jedem Wagen und jedem Reiter einherspringen und deren Vorliebe darin besteht, Radler und Radlerinnen in die mehr oder weniger verführerischen Waden zu beißen, gehören an die Hundehütte, aber nicht in die Oeffentlichkeit. Tiere auf der Straße zu züchtigen, ist roh und erregt mit Recht öffentliches Aergernis. Den Hunden, die uns begleiten, soll man keine Pakete zu tragen geben, nur ganz junge Studenten haben die Erlaubnis, ihrem Renommierhund den Spazierstock ins Maul zu stecken und dies geistreich zu finden. In vielen Städten ist es Gesetz, daß Hunde nur an der Leine oder mit dem Maulkorbe ausgehen dürfen. Die Damen sollten es dann ihren männlichen Verwandten überlassen, die Tiere spazieren zu führen. Die Unsitte der Hunde, an jeder Straßenecke über das Leben im allgemeinen und über ihr eigenes im besonderen nachzudenken, kann man ihnen nicht abgewöhnen, und für junge Mädchen und junge elegante Frauen ist es peinlich, dabei zu stehen und zu warten, bis der Hund genug philosophiert hat.

[440] 441. Sei hilfreich! Sieht man, daß eine ältere Person irgendwie von einem Unglücksfall betroffen wird, so wird sich niemand etwas dadurch vergeben, wenn er zu Hilfe eilt, und selbst die eleganteste Dame hat gar keine Veranlassung, es unter ihrer Würde zu halten, einer armen Bettlerin, die vielleicht vor Hunger zusammenbrach, beizustehen. Die Redensart: »Ich kann so etwas nicht mit an sehen« ist fast immer ein Zeichen von Herzlosigkeit, die man auch dadurch nicht wieder gutmachen kann, wenn man hinterher mit Geld zu helfen sucht. Auch der Träger des blankgeputztesten Cylinders braucht sich nicht zu genieren, einem Arbeiter, der sich vergebens müht, einen schweren Wagen von der Stelle zu bringen, zu helfen: im Gegenteil, es wird ihm vielmehr verdacht werden, wenn er mit den Händen in den Paletottaschen und mit einem Lächeln auf den Lippen, das da zu sagen scheint: »Vater, ich danke dir, daß ich nicht bin wie dieser Sünder«, stolzerhobenen Hauptes vorüberschreitet. – Sieht man, daß jemand etwas verliert, so ist es freundlich, ihn darauf aufmerksam zu machen; liebenswürdiger aber ist es, den Gegenstand aufzuheben und dem Betreffenden dann einzuhändigen. Bekanntlich hob der verstorbene Kaiser Friedrich unter den Linden in Berlin einmal ein Taschentuch auf, das ein Arbeiter hatte fallen lassen, und wenn dies die Mitglieder unseres Herrscherhauses thun, brauchen wir uns nicht zu schämen, ebenso zu handeln. In unserer Höflichkeit dürfen wir uns auch dadurch nicht abhalten lassen, daß man uns vielleicht unsere Aufmerksamkeit nicht dankt, denn die Höflichkeit ist falsch, die wir nicht um unserer selbst, sondern um der anderen willen pflegen. – Wer einer Dame begegnet, die an ihrer Toilette irgend welchen Mangel oder Fehler hat, sei es, daß sie etwas verliert, daß irgend welche Bänder hervorsehen, daß eine Nadel oder ein Haken sich zu lösen droht, darf sie ruhig darauf aufmerksam machen, ohne in den Verdacht zu kommen, sich um Sachen zu kümmern, die ihn nichts angehen. Die Bedenken, daß eine Mitteilung die Dame in Verlegenheit setzen wird, sind falsch; es ist immer besser, auf einen Fehler aufmerksam gemacht zu werden und diesen dann zu korrigieren, als womöglich mit einem Kleide, das irgendwo offen steht, durch die ganze Stadt zu gehen.

[441] 442. Vom Ausweichen. Ebenso wie Wagen müssen auch Passanten, die einander begegnen, sich gegenseitig ausbiegen, und zwar immer nach der rechten Seite. Hiervon sollte man auch dann nicht abweichen, wenn man in der Erfüllung dieser Höflichkeitspflicht gezwungen wird, in eine Pfütze zu treten oder einen Augenblick in den hochangeschwollenen Rinnstein gehen zu müssen. Alle Schäden, die man an seiner Kleidung erleidet, sind zu reparieren; der Schaden aber, den unser Ruf, ein wohlerzogener Mensch zu sein, erfährt, ist entweder gar nicht oder nur sehr schwer wieder auszugleichen. Betrunkenen geht jeder beizeiten aus dem Wege und wartet nicht ab, bis man von diesen angerempelt worden ist. Nicht immer liegt hierbei böse Absicht vor. Betrunkene sehen bekanntlich alles doppelt und so erscheint ihnen auch die Entfernung, die sie von den anderen Passanten trennt, größer, als sie in Wirklichkeit ist. – Sich mit Angeheiterten in irgend welche Auseinandersetzungen, Wortwechseleien oder gar in Handgreiflichkeiten einzulassen, muß der gebildete und wohlerzogene Mensch unter seiner Würde halten. Kommt es zu irgend welchen Thätlichkeiten, wo man angegriffen und in die Notwendigkeit versetzt ist, sich seiner Haut wehren zu müssen, so darf nie ein Wortwechsel, der meistens aus Schimpfworten besteht, vorangehen.

[442] 443. Arm in Arm. Herren, die auf der Straße zu sammen gehen, dürfen sich gegenseitig nicht einhaken, und auch Damen sollten dies unterlassen. Nur Pensionate, die mittags unter Aussicht ihrer Lehrerin spazieren geführt werden und denen vorher in längerer Rede auseinandergesetzt wird, daß Männer verabscheuungswürdige Geschöpfe sind, die anzusehen ein gesittetes und gebildetes Mädchen unter ihrer Würde halten muß, haben das Vorrecht, sich einzuhaken, und auch Backfische, die mit der Schulmappe in der Luft hin und her schlagen, können den Arm ihrer besten und süßesten Freundin anfassen, ohne daß man es ihnen verdenkt. Der Herr bietet nur seiner eigenen Frau den Arm, obgleich auch diese Sitte bei modernen Eheleuten, die den Anschein vermeiden wollen, miteinander verheiratet zu sein, immer mehr abkommt. Natürlich müssen die Ehepaare, die sich einhaken, an Größe ziemlich gleich sein. Es sieht lächerlich aus, wenn eine ganz kleine Dame die Fingerspitzen ihrer Hände in den Arm eines Herrn legt, der bequem über die Dächer der Häuser hinwegsehen kann. Daß der Herr die Dame einhakt, ist zum mindesten ein Zeichen großer Vertraulichkeit. Einer anderen Dame als seiner eigenen Frau darf der Herr nur dann den Arm anbieten, wenn er ihr damit eine wirkliche Stütze zu bieten glaubt, oder wenn die Bekanntschaft eine sehr alte und intime ist. Diese Gelegenheit zu benutzen, um einem jungen Mädchen oder einer jungen hübschen Dame dann sofort zärtlich die Hand zu drücken, ist wohl nur in den seltensten Fällen am Platze.

[443] 444. Zärtlichkeiten. Nur Brautleute dürfen auf der Straße in Worten und in Thaten zeigen, daß sie sich lieben, aber auch sie sollen sich hierin gewisse Beschränkungen auferlegen und sich nicht, bevor sie für fünf Minuten auseinandergehen, abküssen, als führe der eine nach Chicago und der andere auf Nimmerwiedersehen nach Sibirien. Ueberhaupt ist das Küssen bei uns auf der Straße nicht üblich. Wenn wir zuweilen stolz darauf sind, daß wir keine Russen sind, sollten wir auch deren Gebräuche nicht annehmen. Höchstens darf man seinem Kinde in der Oeffentlichkeit einen Kuß geben, aber es ist auch nicht unbedingt erforderlich, daß wir unseren Mitmenschen dadurch Gelegenheit geben, Bemerkungen über die Affenliebe der Eltern zu machen.

Eine zu große Zärtlichkeit auf der Straße ist beinahe so abstoßend wie Grobheit. Selbst Ehepaare, die sich zu Hause nie anders als mit dem Pantoffel in der hocherhobenen Rechten mit einander unterhalten, dürfen sich auf der Straße nicht zanken; der eine Teil darf nicht beleidigt davonlaufen oder gar zu weinen anfangen und den anderen dadurch in die Notwendigkeit versetzen, gute Worte zu geben, um ein öffentliches Aergernis und einen Auflauf zu vermeiden. Auch der Vorgesetzte, sei er militärischer oder civilistischer Art, wenn er seinem Untergebenen begegnet, der durch sein Thun und Treiben nicht seine allerhöchste Zufriedenheit findet, hat nicht die Berechtigung, den Schuldigen laut anzurufen und mit Scheltworten zu überhäufen. Der Tadel gehört, wie das Lob, in einen geschlossenen Raum.

[444] 445. Almosen. Wer von einem Bettler oder einem Armen angesprochen und um Hilfe gebeten wird, kann, wenn er nicht gesonnen ist, etwas zu geben, vorübergehen und thun, als wenn er die Worte nicht gehört hätte. Einen Menschen, der sich in seiner Not an uns wendet, laut anzufahren oder gar die Hilfe der Polizei herbeizurufen, ist ein Zeichen von Herzlosigkeit und Grausamkeit. Giebt man etwas, so thue man dies möglichst unauffällig und suche nicht eine halbe Stunde nach kleiner Münze. Der Arme, der vielleicht nicht weiß, wovon er den Hunger der Seinen stillen soll, wird es uns nicht verdenken, und auch unsere Mitmenschen werden es nicht unpassend finden, wenn wir ihm statt eines Nickels ein Silberstück in die Hand drücken. Wie überall, muß man aber auch hier jedes Protzentum vermeiden. Betteln kleine Kinder uns an, so dürfen wir sie abweisen, aber nicht mit dem Stock nach ihnen schlagen, wie wir überhaupt nicht die Berechtigung besitzen, die Kinder anderer Leute, selbst wenn sie noch so unartig sind, zu züchtigen; es kann dies gerichtliche Folgen haben, die nicht jedem willkommen sein dürften.

[445] 446. Restaurants im Freien. Sich auf der Straße vor öffentliche Restaurants hinzusetzen, zu essen und zu trinken, ist im Gegensatz zu anderen Ländern bei uns wenig beliebt. In Frankreich ist es anders; auf den Boulevards sieht man die Leute bis spät in die Nacht, bei Kälte in dichte Paletots gehüllt, bei strömendem Regenwetter unter dem schützenden Zeltdach, im Freien ihren Kaffee oder ihren Absinth schlürfen. Daß wir dies nicht thun, entspringt unserem Empfinden, daß wir im Essen und Trinken keine Schaustellungen geben sollen. Weicht man von dieser Sitte ab, so soll man sich möglichst unauffällig dabei benehmen, und nur ungebildete Menschen, die den Beweis liefern wollen, daß sie entweder Kredit oder wirklich noch ein Zwanzigmarkstück besitzen, werden sich Sekt kommen lassen, damit die Champagnerpfropfen auf die Vorübergehenden schießen. Auch den Besitzern der tadellosesten Lackstiefeln ist die Berechtigung abzusprechen, ihre Füße so weit vorzustrecken, daß die Passanten über sie stolpern müssen. Insbesondere sollten Damen ohne Herrenbegleitung es vermeiden, sich vor den Bier-Restaurants oder Kaffeehäusern an den Tischen niederzulassen.

[446] 447. Zudringlichkeit gegen Damen. Es ist ein bei den Herren weitverbreiteter Irrtum, daß die Damen nur deshalb eine Kopfbedeckung tragen, damit jeder ihnen auf das ungenierteste unter den Hut gucken und in die Augen starren kann. Wer prinzipiell so handelt, müßte sich einmal fragen, was er dazu sagen würde, wenn seiner Frau oder seiner Schwester ähnliches passierte. Eine Dame am hellen lichten Tage anzureden und mit irgend welchen Anträgen zu belästigen, ist eine Unverschämtheit. Allerdings ist es nicht zu bestreiten, daß die Damen manchmal geradezu durch auffallendes Benehmen, durch auffallende Kleidung und durch ein zu beredtes Spiel ihrer Augen dazu herausfordern. Sie versuchen, wie weit sie gehen können, ohne belästigt zu werden, und geraten außer sich, wenn die Herren, zuvorkommend wie sie gegen Damen sind, auf den leisesten Wink hin reagieren. Einer wahrhaft gebildeten und sich dezent benehmenden Dame werden derlei Abenteuer niemals zustoßen. Wer es aber darauf absieht, angesprochen zu werden, wundere sich nicht, wenn dies in einer Art und Weise geschieht, die mit dem Ton der guten Sitte nicht in Einklang zu bringen ist. Wird eine Dame angeredet, so muß sie selbstverständlich thun, als hätten ihre Ohren nichts gehört und ihre Augen nichts gesehen. Sobald sie sich in irgend einen Disput einläßt oder auch nur die Aeußerung gebraucht: »Mein Herr, was erdreisten Sie sich«, giebt sie damit dem mehr oder weniger schönen Adonis Gelegenheit, etwas zu erwidern, und die Unterhaltung, die sie vermeiden wollte, ist damit in vollem Gange. Einen Herrn durch maßlose Koketterie zu einer Anrede zu veranlassen und sich bei dem ersten Worte mit einem höhnischen und ironischen Lächeln abzuwenden, kann man unmöglich als Zeichen einer guten Bildung ansehen.

[447] 448. Auf der Pferdebahn. Das alte Wort »Ja man fährt gemütlich auf der Pferdebahn« bewahrheitet sich nur dann, wenn wir dabei auf die Rücksichtnahme und Zuvorkommenheit der Mitpassagiere rechnen können. Nie darf man auf einer Haltestelle einsteigen, bevor nicht die aussteigenden Passagiere den Wagen verlassen haben, und auch dann ist jedes Drängen und Schieben unstatthaft. Die Herren haben den Damen jederzeit den Vortritt zu lassen, und die Kinder sind dahin zu erziehen, daß sie den Erwachsenen sich nicht vordrängen und diesen nicht gar zwischen den Beinen hindurchklettern. Für die Damen sind in erster Linie die Plätze im Wagen bestimmt und ein Kavalier, wenn er nicht ein alter Herr ist, dessen Gesundheit es ihm verbietet, liebenswürdig zu sein, sollte namentlich im Winter niemals eine ältere Dame draußen stehen lassen, während er selbst sich bequem auf seinen Platz zurücklehnt. Die Dame hat dann aber auch die Pflicht, für den Ritterdienst in freundlicher Weise zu danken. In den Waggons zu rauchen und zu spucken ist verboten, unstatthaft ist es auch, glimmende Cigarren mit in den Wagen hineinzunehmen, denn für viele Mitfahrende ist der Geruch einer ausgehenden Cigarre noch schlimmer als der einer brennenden. Auch übelriechende Pakete darf man nicht bei sich führen. Es ist eine Strafe, neben Leuten zu sitzen, die zum Abendbrot für einen Thaler duftenden Limburger Käse kauften und sich mit Bücklingen für die nächste Woche verproviantierten.

Unterhält man sich in der Pferdebahn, so soll man mit dem, was man sagt, vorsichtig sein. Namentlich empfiehlt sich dies, wenn man zu einer Gesellschaft fährt oder von einem Feste zurückkommt. Schon zu wiederholten Malen ist es vorgekommen, daß jemand in der Elektrischen ganz laut über seine Wirte, denen er einen freien Abend opfern mußte, räsonnierte und später mit seinen Nachbarn, die die Unterredung anhörten, auf demselben Feste zusammentraf. Nie kann man wissen, in welchem Verhältnis die neben uns Sitzenden zu dem stehen, über den wir sprechen.

Die Pferdebahn ist dazu da, um Personen – Pakete aber erst in zweiter Linie zu befördern. Deshalb dürfen Damen nicht, beladen wie der Weihnachtsmann, in dem Wagen Platz nehmen, ihre Pakete hinter und neben sich legen, einen Teil der Schachteln auf den Fußboden stellen und jedem drohende und vernichtende Blicke zuwerfen, der es auch nur versehentlich wagt, mit der Spitze seines Fußes daran zu rühren. Jeder Person, mag sie noch so hübsch, noch so jung oder noch so alt sein, steht nur ein Platz zu. Begrüßen sich Bekannte, so dürfen sie sich nicht über einen Dritten hinweg unterhalten, und sie müssen sich in dem Augenblick, wo der Wagen ihretwegen hält, zum Aussteigen entschließen. Wie gewöhnlich aber fängt die Unterredung erst dann an, recht lebhaft zu werden. Man hat vergessen, Tante Bertha grüßen zu lassen, sich zu erkundigen, wie es Tante Malchen neulich beim Zahnarzt ergangen ist, man muß unbedingt noch seiner Hoffnung Ausdruck geben, sich recht bald wiederzusehen, und das dauert dann gewöhnlich so lange, bis dem Schaffner die Geduld reißt und er das Zeichen zur Weiterfahrt giebt.

Sieht man, daß jemand aussteigen will, so sind nicht nur die Herren, sondern auch die Damen verpflichtet, Platz zu machen, ihre Stöcke und Schirme zurückzunehmen und die Füße an sich zu ziehen.

Damen sollten das Geld für ihr Billet entweder drinnen im Handschuh oder in dem Portemonnaie, das sie in der Hand oder in dem Muff tragen, bei sich führen. Die modernen Kleider sind ja Gott sei Dank so eingerichtet, daß sie entweder gar keine Taschen besitzen oder daß sich diese an Orten befinden, wo selbst der gewiegteste Taschendieb sie nicht vermutet.

Trinkgelder zu geben ist niemand verpflichtet. Leistet uns der Angestellte aber beim Ein- und Aussteigen irgend welchen Dienst, so können auch wir ihm eine Aufmerksamkeit in Gestalt einer kleinen Münze erweisen. Schreiende Kinder und Säuglinge, die noch nicht stubenrein sind, Kranke, deren Gesicht von irgend einem Leiden entstellt ist, Taube, denen jedes Wort von ihrem Begleiter in das Ohr gebrüllt werden muß, Krüppel, die zum Ein- und Aussteigen infolge ihres Leidens eine lange Zeit beanspruchen, gehören nicht in die Pferdebahn, sondern sollten sich eines Wagens bedienen.

Steht man draußen auf dem Perron, zusammen mit Damen in eine fürchterliche Enge eingekeilt, so ist es wohl selbstverständlich, daß man als Herr seine Cigarre ausgehen läßt und die Dame nicht anraucht, als wäre sie ein Meerschaumkopf, der möglichst schnell braun werden soll. – Wer dem Wunsche seines Herzens, mit einer Dame auf der Pferdebahn zu kokettieren, nicht widerstehen kann, thue dies dann in möglichst unauffälliger Art und Weise. Selbst wenn er glaubt, die Sache noch so fein und noch so geschickt anzufangen und von niemand beobachtet zu werden, kann er sicher sein, daß alle auf sein Thun und Treiben aufmerksam werden. In der Pferdebahn giebt es ebenso wie in der Gesellschaft nur eine Sprache des Mundes, keine der Augen und noch viel weniger eine des Fußes.

Den Anordnungen der Angestellten hat sich jeder zu fügen und durch sein Benehmen und sein Betragen soll man versuchen, den Angestellten ihren schweren Dienst zu erleichtern und nicht noch sauer zu machen. Wird uns zugerufen, daß der Wagen voll ist, so dürfen wir nicht mit einem: »Ach was, das ist uns ganz egal« dennoch aufspringen. Die Strafe für eine Ueberfüllung des Waggons trifft den Schaffner und wir dürfen nicht dazu beitragen, daß diesem um unsertwillen ein Teil seines Lohnes abgezogen wird. Fast nie werden wir Veranlassung haben, gegen einen Angestellten der Bahn grob werden zu müssen, und wer da glaubt, Grund zu einer Klage oder Beschwerde zu haben, merke sich die Nummer des Schaffners und wende sich an dessen vorgesetzte Behörde. Vor versammeltem Publikum zu schelten, sollte man schon mit Rücksicht auf die Damen vermeiden.

Das Auf- und Abspringen während der Fahrt ist zuweilen nicht ohne Gefahr und darum lehnt jede Direktion die Verantwortung für den daraus entstehenden Schaden auch ab. Unrecht ist es, wenn die Damen schon fünf Minuten, bevor der Wagen anhält, sich von ihren Plätzen erheben, auf den Hinterperron treten, sich unmittelbar an den Aufstieg stellen, sich mit seitwärts ausgestreckten Händen festhalten und dadurch den Herren, die hinter ihnen stehen, die Möglichkeit nehmen, eher abzuspringen, als bis sie selbst den Wagen verlassen haben.

[448] 449. Andere Unarten. Gehen wir auf der Straße an den Häusern von Freunden vorüber und sehen diese am offenen Fenster oder auf dem Balkon sitzen, so gehört es sich nicht, daß wir von der Straße aus eine Konversation nach dem vierten Stock eines Mietshauses führen und hierbei so laut rufen und schreien, daß wir dadurch öffentliches Aergernis erregen. Wer seinem Bekannten etwas zu sagen hat, gehe in das Haus oder begnüge sich sonst damit, ihn zu begrüßen. Auch Leute, von denen sich die eine Partei auf der rechten und die andere auf der linken Trottoirseite befindet, müssen sich nichts über den Fahrdamm hinweg zurufen. Solche Eile wird wohl die Mitteilung nicht haben, daß die Herrschaften sich nicht die Zeit nehmen könnten, sich auf halbem Wege mitten auf dem Fahrdamm entgegenzukommen.

Sich in der Großstadt, z.B. in Berlin, von dem an der Ecke stehenden Dienstmann einen Zettel, auf dem ein Vergnügungsrestaurant, ein Schneider oder sonst irgend etwas empfohlen wird, in die Hand drücken zu lassen, ist ein sicheres Zeichen dafür, daß man in einer ganz kleinen Provinzstadt geboren ist.

Brennende Cigarren und Cigarrenüberreste gehören in den Rinnstein und nicht auf das Trottoir. Schon oft ist es vorgekommen, daß dadurch das Kleid einer Dame Feuer fing und in Brand geriet.

In der Droschke legt man die Füße nicht auf den Rücksitz und sieht nicht mit einem Blick, der zu sagen scheint: »Kinder, was bin ich für ein feiner Mann, ich fahre sogar erster Güte« herausfordernd um sich. Man soll sich so benehmen, als wäre man, um ein altes Wort zu variieren: »in der Droschke erster Klasse auf die Welt gekommen«. Jedes auffallende Benehmen zeigt, daß man nicht gewohnt ist, zu fahren, und man erregt dadurch den Spott und die Lachlust der Uebrigen. Wer da glaubt, daß er bei der Bezahlung seines Fahrpreises übervorteilt wird, hat das Recht, sich die Taxe zeigen zu lassen. Daß man daraus nicht klug wird, ist so selbstverständlich, daß es nicht der besonderen Erwähnung bedarf. Immerhin macht es aber schon auf den Rosselenker einen gewissen Eindruck, wenn man mit dem Brustton tiefinnerster Entrüstung »die Taxe« verlangt. Ein Trinkgeld ist bei dem Kutscher, der in den wenigsten Fällen sein eigener Herr und auf ein geringes Salär angewiesen ist, fast immer angebracht.

[449] 450. Funde. Wer auf der Straße, in der Pferdebahn oder in der Droschke etwas findet, hat die Verpflichtung, dies entweder auf dem Fundbureau oder bei der Polizei abzugeben. Es steht dem Finder frei, von dem Verlierer Ersatz seiner Aufwendungen zu fordern, die er zum Zweck der Aufbewahrung der Sache und zur Ermittelung des Verlierers, z.B. durch Inserate, gemacht hat. Ebenso steht ihm ein Anspruch auf Finderlohn zu. Dieser beträgt bei Sachen im Werte bis zu 300 Mark 5%, von dem Mehrwert 1%, bei Tieren ebenfalls nur 1%. Handelt es sich um Sachen, die nur für den Verlierer einen Wert haben (Briefe, Photographien und dergleichen, so ist der Finderlohn nach billigem Ermessen zu bestimmen. Wer den Fund verheimlicht oder die Anzeigepflicht verletzt, hat auf Finderlohn keinen Anspruch. Vor Ersatz seiner entstandenen Unkosten und vor Bezahlung des Finderlohnes braucht niemand die gefundenen Sachen herauszugeben.

[450] 451. Unfälle. Wer auf der Straße dadurch Schaden erleidet, daß er im Winter auf einem nicht bestreuten Fußsteig hinfällt oder durch irgend einen vom Dache, einer Brücke oder sonst irgendwo herabfallenden Gegenstand verletzt wird, kann gegen den Hauseigentümer oder gegen die Behörde, die für die Instandhaltung der Gebäude und Brücken etc. verpflichtet ist, klagbar werden. Ebenso können die Angehörigen, die durch einen solchen Unglücksfall des Ernährers verlustig gehen, die Klage erheben. Dasselbe Recht steht dem zu, der durch die Unvorsichtigkeit eines Wagenlenkers oder des Führers des elektrischen Wagens verletzt wird. Liegt eigenes Verschulden und eigene Unvorsichtigkeit vor, so kann man natürlich keinen Anspruch auf Schadenersatz erheben.

In großen verkehrsreichen Städten, in Paris, Berlin, London und anderen, in denen der Uebergang über die Straßen für die Fußgänger an einigen Plätzen geradezu mit Lebensgefahr verbunden ist, hat man sich den Anordnungen der Schutzleute oder Konstabler, die das Zeichen zum Halten der Wagen und zum Passieren der Fußgänger geben, zu fügen. Wer das nicht thut, darf sich nicht darüber wundern, wenn ihm nicht nur beide Beine, sondern auch der Kopf, der keine Vernunft annehmen wollte, abgefahren wird. Die Beamten der Polizei sind angewiesen, die Ordnung auf den Straßen und an öffentlichen Verkehrsorten aufrecht zu erhalten. Wer sich ihren Befehlen widersetzt, macht sich strafbar und kann es unter Umständen erleben, daß er zur Feststellung seiner Personalien auf die Polizeiwache geführt wird. – Nie sollte man versuchen, die Beamten durch Bitten zu einer Pflichtwidrigkeit zu veranlassen. Gleiches Recht gilt für alle, und wenn eine Straße für irgend einen Zweck abgesperrt ist, hat der vielfache Millionär ebensowenig Anspruch darauf, daß seinetwegen eine Ausnahme gemacht wird, wie der ärmste Bettler.

[451] 452. Nächtliche Ruhestörungen. Nachtwächter anzuulken, ist, ob mit Recht mag dahingestellt bleiben, bei ganz jungen Studenten sehr beliebt, und auch andere junge Herren, die vor dem Zubettegehen mehr trinken, als unbedingt nötig ist, fühlen sich häufig, bevor sie sich schlafen legen, noch veranlaßt, Laternen auszudrehen, Hausthürschilder abzunehmen und an andere Hausthüren wieder zu befestigen, Aerzte aus dem warmen Bett zu holen und sie zu einem Menschen zu schicken, der sich der denkbar besten Gesundheit erfreut, einen Apotheker wach zu trommeln und sich für zehn Pfennige Natron geben zu lassen, bei einem verschlossenen Lokal sämtliche Kellner zu wecken und anzufragen, ob man für Geld und gute Worte denn nicht noch ein einziges Glas Bier bekommen könne, einen Bankdirektor mit der Nachtklingel aus dem Schlafe aufzurütteln und ihn zu fragen, ob irgend ein Papier thatsächlich an der Börse um ein achtel Prozent gefallen oder gestiegen sei, einen Doktor der Rechte mitten in der Nacht zu konsultieren, weil man Rheumatismus in der Linken hat – diese und viele andere »Scherze« sind in den Augen braver Zecher brillante Witze, über die sie sich totlachen wollen, und ihre Heiterkeit erreicht den Höhepunkt, wenn ein Nachtwächter für kurze Zeit seinen Schlummer unterbricht und sie verfolgt.

Abends auf dem Nachhausewege auf der Straße zu lärmen und zu singen, sollte man nicht nur der hohen Obrigkeit wegen, sondern auch mit Rücksicht auf seine Mitmenschen unterlassen.

Quelle:
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Berlin, Stuttgart [1901], S. 417-452.
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