I.

Die Kinderstube.

[808] 808. Einrichtung. Ueber die Einrichtung des »Kinderzimmers«, das nur zum Spielen oder auch gleichzeitig zum Schlafraum für die Kinder benutzt wird, haben wir schon im ersten Abschnitt dieses Buches gesprochen und eine kleine Anleitung gegeben, wie man am zweckmäßigsten Möbel und Spielsachen verteilt und die Kinder dadurch zur Ordnung anhält. Vor allen Dingen sehe man möglichst darauf, als Kinderzimmer einen sonnigen, hellen Raum zu wählen, der gut zu lüften und bequem zu heizen ist. Denn selbstverständlich stehen die sanitären Anforderungen bei einem Kinderzimmer obenan. Auch hüte man sich, überflüssige alte Möbel hineinzusetzen, für die man sonst keine Verwendung hat und die den Kindern nur Licht und Raum rauben. Das Kinderzimmer soll keine Rumpelkammer sein, es soll durch zweckmäßige, wenn auch einfache Einrichtung den Kindern einen behaglichen Aufenthalt gewähren.

[808] 809. Kinderstube. Darunter versteht man etwas anderes als das Kinderzimmer. Das Wort hat sich als Bezeichnung dessen eingebürgert, was man unter Erziehung, Benehmen und Bildung des Kindes versteht. »Er hat keine Kinderstube gehabt«, sagt man geringschätzig von einem ungezogenen Menschen. Und »eine gute Kinderstube verleugnet sich niemals«, heißt es im Hinblick auf einen Menschen, dessen Manieren, Takt, ja dessen Aufrichtigkeit und Treue man lobt. Denn auch gute Charaktereigenschaften und moralische Tugenden werden durch die »gute Kinderstube« entwickelt und gefördert, und nicht mit Unrecht entschuldigt man zuweilen moralische Defekte, wie Unwahrheit und Undankbarkeit, durch schlechte Erziehung. Nicht selten entspringen sie der Unwissenheit und Bildungslosigkeit – es sind Fehler in der Erziehung gemacht worden, die später kaum nachzuholen sind.

[809] 810. Schlechtes Beispiel. Als erstes sage sich der, den die Natur oder der Beruf zum Amt des Erziehers berufen hat: »Achte auf dich selbst – das Kind wird zuerst deine Fehler – vielleicht später, aber durchaus nicht immer, deine Vorzüge nachahmen.«

Das Kind, das kaum ein paar Silben lallen kann, wird ein Schimpfwort deutlich nachsprechen, es faßt schnell auf, daß die Amme oder das Mädchen etwas versteckt beim Eintritt der Mutter oder irgend jemand eine Grimasse zuschneidet, und eines Tages erstaunt das Kind die Welt durch die wunderbarsten Künste – vielleicht gerade in einem Moment, wo es der Mutter darauf ankommt, den Liebling im besten Licht zu zeigen. Verwunderte fragen, »wo das Kind das her hat – es ist doch allein im Kinderzimmer, es sieht keine Straßenjungen – wie ist es möglich?« – Es ist möglich durch den Nachahmungstrieb der Kinder und durch den Wunsch, sich das anzueignen, was ihnen besonders auffällt, was sie erstaunt, ihnen gefällt oder sie anfangs sogar ängstigte. Man überlasse also ein kleines Kind der Amme oder dem Kindermädchen nicht zu lange.

[810] 811. Das Kindermädchen. Der Wunsch jeder Mutter ist es, eine Aufsicht für die Kinder zu finden, die sie körperlich pflegt, ihnen Unarten abgewöhnt, sie gute Manieren lehrt und ihnen in jeder Weise als leuchtendes Beispiel gelten kann – also ein Idealwesen, das fast nie gefunden wird, weil es eine der beiden Pflichten, entweder die über das geistige oder über das körperliche Wohl vernachlässigt, oder es sich überhaupt herausstellt, daß die nurse oder Bonne oder das Fräulein selbst noch erziehungsbedürftig sind. Die Dame der Gesellschaft hat ja heutzutage selten Zeit – oder behauptet es wenigstens! – die Erziehung der Kinder zu überwachen. Und eine Bonne oder ein Fräulein gehören mit zum eisernen Bestand eines größeren Haushaltes. Jedenfalls ist es die Pflicht der Mutter, sich nach einer wirklich zur Ueberwachung der Kinder geeigneten Person umzusehen und besonders im Anfang nicht zu vertrauensselig zu sein. Gewiß soll man nicht jede Kleinigkeit kontrollieren und rügen – das würde für die ausersehene Hilfe sehr kränkend, für die Kinder mißtrauenerweckend sein – aber die Thatsache, daß die »Fräuleins« sehr oft wechseln und daß eine ganz »Zuverlässige« dennoch selten lange in demselben Hause bleibt, giebt das Recht zur Ermahnung: »Prüfe, wem du die Kinder übergiebst.«

[811] 812. Ordnung. Vor allen Dingen achte man auch bei dem kleinsten Kinde, das noch unter der Obhut der Amme oder des Kindermädchens steht, darauf, daß alles, was mit dem Kinde in Berührung kommt, sauber und ordentlich sei. Es thut nicht not, daß das »Baby« – ein sehr thörichtes Wort in deutschem Munde! – in Spitzen vergraben daliegt, auf Seide ruht und nur aus Silberschüsseln gewaschen wird und speist. Aber auch das einfachste Kinderzimmer kann zierliche und geschmackvolle Geräte aufweisen – und über alle Ausschmückung stelle man Ordnung und Reinlichkeit! Das Kind, das von kleinauf beobachtet, wie nach jedem Bad das Zimmer aufgeräumt, nach jeder Mahlzeit das Tischchen abgedeckt wird – daß man ihm alles auf saubern Schüsseln reicht, sein kleines Spielzeug in Ordnung hält und nicht duldet, daß es mutwillig etwas zerschlägt oder zerreißt – das Kind wird sehr früh Ordnung von Unordnung unter scheiden lernen und das Bedürfnis nach Ordnung und Reinlichkeit wird ihm so in Fleisch und Blut übergehen, daß es sich in unsauberen Kleidern und in einem Zimmer, in dem alles umherliegt, unbehaglich fühlen wird. Diese beiden Eigenschaften muß der Erzieher als erstes einem Kind einimpfen; sie bilden die Grundlage für die »ästhetische« Erziehung, die in dem schon verständigeren Kinde das Schönheitsgefühl, Geschmack, Liebenswürdigkeit, Takt und Aufmerksamkeit wecken soll.

[812] 813. Wahrheitsliebe und Gehorsam. Matt sagt oft: »Vor allen Dingen halte man das Kind zur Wahrheit an.« Selbstverständlich soll man dem Kind keine Lüge durchgehen lassen, ebensowenig wie man sich den geringsten Widerstand gefallen lassen darf. Das Kind soll »aufs Wort gehorchen« – blindlings, ohne nur einen Zweifel an der Richtigkeit des empfangenen Befehls oder Wunsches in sich aufkommen zu lassen.

Von kleinauf aber sieht und hört das Kind, daß gegen keine Regel so viel gesündigt wird, wie gegen das »Nichtlügen« und gegen das gehorsam sein. Und auf nichts hat der Erzieher so zu achten, wie auf seine eigene Wahrhaftigkeit und den absoluten Gehorsam und das Beugen unter einen Wunsch. Man vermeide es, so lange es irgend geht, gesellschaftliche Notlügen in Gegenwart des Kindes anzuwenden. Die Lehre »in diesem Fall ist es erlaubt, die Wahrheit zu umgehen« – und »man nennt das nicht lügen«, kann ein Kind nicht fassen und sie wird viel Verwirrung in seinem Rechtsbewußtsein anstiften. Ebenso unerbittlich fordert es von seinem Erzieher strengen Gehorsam und wird nicht begreifen können, daß Mama das nicht thun will, was Papa sagt, oder die Bonne sich gegen einen Wunsch der Mutter sträubt.

Jeder Erzieher, der es mit seinen Pflichten ernst nimmt, sollte dieses Mangels im kindlichen Verständnis eingedenk sein und nicht unnötig Zweifel und Mißtrauen in die kindliche Seele pflanzen. Es ist ja auch nicht eigentlich ein »Mangel« au Verständnis – es sind Begriffe, die wir uns und der Geselligkeit zur Bequemlichkeit konstruiert haben und deren Verkehrtheit und Unrichtigkeit durch Gewohnheit und allgemeine Annahme gleichsam geheiligt sind. Besonders stolz darf man auf »Notlügen« nie sein!

[813] 814. Mütterliche Aufsicht und Sorgfalt. Jede Mutter, und stelle die Geselligkeit noch so hohe Forderungen an sie, sollte doch die Zeit haben, täglich ein paar Stunden bei den Kindern zu verbringen.

Sind die Kinder noch klein und teilen das Schlafzimmer der Mutter, so wird sie das An- und Umkleiden, das Baden und Zubettgehen überwachen. Das Kind, das schon unter der Führung der Bonne steht und mit dieser einige Mahlzeiten einnimmt, von ihr ausgeführt wird u.s.w., sollte ihr dennoch nicht ganz überlassen bleiben. Und da Kinder am ungezwungensten in ihrem eigenen Reich sind, sollte die Mutter täglich ein oder zwei Stunden im Kinderzimmer verbringen. Dadurch wird das Kind ihrer Obhut nicht entwachsen, sich ihr nicht entfremden und sie wird sich neu entwickelnde Fehler rechtzeitig entdecken und dämpfen können.

Auch das schulpflichtige Kind soll nicht nur während der Mahlzeiten von den Eltern beobachtet werden. Es muß sich am Tage noch eine Stunde finden, welche die Mutter gemeinsam mit dem Kinde verbringt. Nimmt das Kind die Abendmahlzeit noch allein, so wäre dies die Zeit, um nicht nur zu wissen, was und wie es ißt, sondern um nachher noch ein wenig mit dem Kind zu plaudern.

Bei der Mittagsmahlzeit, bei der man auch auf den Tisch, das Servieren und das Verhalten der Kinder zu achten hat, wird durch das Gespräch der Eltern untereinander nicht viel Zeit zur Teilnahme an den Kindern bleiben. Die Kinder selbst dürfen nur sprechen, wenn sie gefragt werden, und um sie an Ruhe und Bescheidenheit zu gewöhnen, soll man sie nicht zu häufig anreden. Abends aber, wenn auf den gewöhnlich Ruhe heischenden Hausherrn keine Rücksicht genommen zu werden braucht, kann man sich mit ihnen unterhalten und ihnen eine Freude durch eine Märchenerzählung bereiten.

[814] 815. Vertrauen der Kinder zur Mutter. Man darf auch niemals vergessen, daß die Kinder Vertrauen zur Mutter behalten sollen. Das können sie nur, wenn sie die Mutter ungestört sehen und sprechen und rückhaltlos ihr alles sagen dürfen, was sie beschäftigt. Immer sollen die Kinder wissen, daß die Mutter die beste Freundin ist, die aus allen Nöten und Sorgen einen Ausweg finden und für alle Sünden eine Verzeihung haben wird, wenn sie offen und reuig gebeichtet werden. Darum sei man nie zu streng mit Kindern, auch nicht mit denen, die durch Wildheit und Unvorsichtigkeit mehr Unheil anrichten und in der Schule und im Hause nicht immer »musterhaft« sind. Temperamentvolle Kinder sind schwerer zu erziehen als ruhige, phlegmatische. Es ist überhaupt keine feste Regel darüber zu geben, wie ein Kind zu erziehen ist. Denn die schlechteste Erziehung ist die nach »Prinzipien« geleitete. Jedes Kind ist ein Wesen, ein Geschöpf für sich; jedes empfindet und denkt anders, jedes hat eine andere Auffassung der Dinge – ja in Gefühlen wie Liebe zu den Eltern, Anhänglichkeit an die Geschwister, Entgegenkommen gegen Fremde, Aeußerungen bei Freude oder Schmerz in jeder Gefühlsregung oder Empfindungsweise unterscheidet sich ein Kind vom anderen und jedes will mit Berücksichtigung seiner Art erzogen sein.

[815] 816. Individuelle Erziehung. Die Erziehung muß also individuell sein. Das eine Kind wird mehr Nachsicht, mehr Liebe verlangen als das andere – bei manchen ist nur mit Strenge etwas auszurichten.

Die erste Pflicht des Erziehers ist daher, sich über den Charakter des Kindes klar zu werden, seine Eigentümlichkeiten zu erkennen, die Fehler zu unterscheiden und die Vorzüge richtig zu beurteilen.

Ein Kind weiß sehr bald, ob es mit Verständnis behandelt wird, ob man seinen guten Eigenschaften anerkennend, seinen Schwächen mit dem Wunsche zu helfen und zu bessern gegenübertritt, oder ob ihm wenig Interesse und Liebe entgegen gebracht werden.

Das »Wie« des Erziehens ist also Sache des Erziehers. Wir führen aus, welche Resultate man von der »guten Kinderstube« verlangt und worin sich dieselben äußern sollen.

[816] 817. Benehmen des wohlerzogenen Kindes. Ein wohlerzogenes Kind wird die Bekannten und Freunde seiner Eltern grüßen. Die kleinen Knaben legen die Hand an die Mütze, die größeren lüften sie, kleine Mädchen machen einen »Knicks«, größere eine kleine Verbeugung. Reicht man ihnen die Hand, so verbeugen sich die Kinder, in einigen Kreisen ist es Sitte, daß die Kinder den Damen die Hand küssen. Kommt ein Besuch ins Haus und wünscht man die Kinder zu zeigen, so soll das Kind selbst daran denken, daß es dem Besuch nur eine saubere Hand bieten darf und daß der Anzug in ordentlichem Zustande ist. Damit soll sich aber das Kind zufrieden geben. Es darf keinesfalls so eitel sein, daß es weint, wenn es nicht herausgeputzt wird. Kommt das Kind ins Zimmer, so verbeugt es sich und antwortet laut auf alle Fragen. Das ist ein schwieriges Kapitel, das laute Sprechen! Man kann nicht früh genug darauf achten, dem Kinde die Unart, leise zu flüstern, die wohl zuerst der Verlegenheit entspringt, abzugewöhnen. Leise sprechende Kinder sind später von Lehrern und Mitschülern gleich gefürchtet, denn sie hemmen den Unterricht. Daß ein Kind sich vorlaut benimmt, ungenierte oder unpassende Bemerkungen macht, dulde man natürlich nicht. Ebensowenig, daß das Kind sich aufs Sofa oder einen Stuhl setzt und ohne Aufforderung dem Gespräch lauscht. Kinder dürfen sich in Gegenwart Fremder nur setzen, wenn es ihnen erlaubt wird; auch müssen sie gehorsam und still verschwinden, sobald sie einen Wink bekommen. Kinder, die sich dann sträuben, weinen und eine Scene heraufbeschwören, sind unangenehm für Wirte und Gäste. Trotzdem sollte man es nach ein oder zwei traurigen Erfahrungen nicht aufgeben, sie erscheinen zu lassen, sondern sie endlich mit Ruhe und Geduld dahin bringen, daß sie sich in Gegenwart anderer so benehmen, wie wir es wünschen. Die Flinte ins Korn werfen darf man nie bei der Kindererziehung. Wären sie schon fertig, so wäre ja jede Erziehung überflüssig! Man darf auch hier nicht vergessen, daß die natürlichen Instinkte eben den Verhältnissen der Kultur angepaßt und, um diesen zu genügen, fast erstickt werden müssen. Denn der natürliche Impuls rät dem Kinde, sich von der hingehaltenen Kuchenschüssel die größten Stücke und soviel wie möglich zu nehmen. Die Erziehung aber fordert, daß es nicht wählt, das Stück nimmt, was ihm am nächsten liegt, kein anderes vorher berührt, sondern sich mit dem kleinen vorne begnügt und bescheiden »danke« sagt – selbst, wenn es noch so gern ein zweites, viel schöneres Stück hätte! Welch ein Aufwand von Bedingungen, nicht wahr, bei der Gabe eines Kuchens – wie viel einfacher und bequemer wäre nicht der erste, kurze Weg des dreisten Zulangens! Und was man an Gesittung schon bei diesem einen kleinen Vorgang verlangt, das wiederholt sich stündlich und täglich fast bei jeder Handlung und jedem Wort. Wie schwer ist es oft, einem lebhaft empfindenden und denkenden Kinde diese künstlichen Begriffe einzuimpfen. »Du sollst fragen: liebe Tante, wie geht es dir?« – »Sie ist ja aber nicht krank.« – »Nein, das sagt man so! Und dann dankst du herzlich für das Spielzeug.« – »Ach, ich habe mich ja gar nicht gefreut! Es ist gleich zerbrochen!« – »Einerlei! Für jede Freundlichkeit dankt man. Und sage, du kämst sehr gern zur Kindergesellschaft.« – »Ach, Mutter, ich möchte ja viel lieber zur Turnstunde.« – »Nein! Die muß dieses Mal ausfallen! Dein Vater hat Geburtstag, du darfst nicht fehlen!« – »Ich habe ihn ja auch nicht eingeladen –« »Damals waren wir erzürnt –« »Jetzt nicht mehr? Zanken darf man sich doch nicht!? Warum läßt du uns denn morgen nicht noch erzürnt sein –?«

Freilich, ein wohlerzogenes Kind, wird man mir erwidern, darf alle diese Fragen nicht stellen. Es soll arglos jeden Befehl und jeden Wunsch erfüllen. Das hieße die Welt mit Puppen bevölkern und jede freie Willens- und Meinungsäußerung im Keime ersticken. Das kann unmöglich der Zweck der Erziehung sein. Sie will nur dem heranwachsenden Menschen den Lebenswegerleichtern, indem sie ihn lehrt, sich in die bestehenden Gesetze hineinzufinden, und, da er in einem Kulturstaate lebt, sich das an Sitten und Gebräuchen anzueignen, was ihn nicht unangenehm aus der Menge auffallen läßt, sondern ihm hilft, schon durch äußere, gute Eigenschaften sich eine Stellung zu machen. Man legt sehr viel Gewicht auf glatte Manieren und ein untadelhaftes Benehmen. Nicht mit Unrecht; denn wir sind alle aufeinander angewiesen und erleichtern uns gegenseitig das Leben durch Zuvorkommenheit und abgeschliffene Formen. Und einige dieser Formen sind direkt zu einem Gesetz erhoben worden, gegen die der gebildete Mensch nicht sündigen darf.

[817] 818. Das Benehmen bei Tisch ist bestimmten Forderungen unterworfen, die in der Gesellschaft der ganzen Welt dieselben sind. Und nicht früh genug kann man darauf achten, daß ein Kind manierlich ißt. Sobald das Kind beginnt, allein zu essen, achte man darauf, daß es den Löffel richtig hält; solange es auch die Fleischspeisen noch mit dem Löffel ißt, gebe man ihm in die Linke ein Stückchen Brot, ein kleines Löffelchen oder einen silbernen »Schieber«, damit es mit diesem den Speisen nachhilft und niemals die Finger dazu benutzt. Auch gewöhne man die Kinder an reinliches Essen – das Umgießen und -stoßen wie das Fleckenmachen ist schlechte Gewohnheit, nicht nur Ungeschicklichkeit. Man achte auf sich selbst bei den Mahlzeiten, denn das Kind wird sich bald damit entschuldigen: »Ach, Papa ißt ja ebenso!« Besonderen Wert lege man darauf, daß die Kinder nicht gierig werden. Ein erwachsener Mensch, der keinen anderen Gedanken hat, als den, sich am besten zu versorgen, ist eine unleidliche Zugabe zum Leben. Sind die Kinder untereinander neidisch und mißgünstig, so bestrafe man sie ein paar Mal dadurch, daß man ihnen einen Leckerbissen oder eine Süßigkeit verweigert. Vor allem vergesse man nie, daß das Kind später das Elternhaus verlassen muß und daß eine gute Erziehung eine bessere Mitgift ist, als Reichtum oder ein hoher Name. Man tadle die Kinder in Gegenwart Fremder so wenig als möglich; es macht sie dickfellig und erstickt ihr Ehrgefühl. Ein Kind muß fühlen, wenn es sich im Beisein anderer falsch oder ungezogen benommen hat, und es wird es doppelt dankbar empfinden, daß man es hinterher, wenn der Gast gegangen ist, erst rügt. Soll das Kind aber die feine Empfindung für das gesellschaftlich Rechte oder Unrechte behalten, so muß man besonderen Wert darauf legen, seinen »Takt« auszubilden.

[818] 819. Der Takt. Das Wort »Takt« zu definieren, ist sehr schwer; es umschließt alle Gebote und Verbote, deren Nichtbeachtung man nicht immer mit Unsitte, Fehler oder Unrecht bezeichnen könnte, gegen die ein Verstoß aber eben eine »Taktlosigkeit« ist. Die Grundbedingungen, um taktvoll zu werden, sind, daß man Güte, Wahrheitsliebe und Mitleid im Herzen des Kindes weckt. Ein roher, gefühlloser Mensch kann glatte Manieren und Formen haben: bei der ersten Gelegenheit wird ihn das Taktgefühl verlassen und all die leeren Formen werden ihm nicht helfen, sobald es darauf ankommt, einen selbständigen Entschluß in heiklen Dingen fassen zu müssen. Bei Fragen, die nicht der gesellschaftliche Kodex entscheiden kann, muß das Gefühl den Ausschlag geben: »Was ist in diesem Falle das Richtige, das Taktvolle?« Und hierwieder stehen obenan alle die Fragen: »Wie kränke ich den Nächsten am wenigsten?« »Wie führe ich eine Sache aus, ohne allgemeines Aufsehen auf mich oder eine andere Person zu ziehen?« »Wie vermeide ich es, etwas zu thun, was mir allerdings Vorteil, dem Nächsten aber Nachteil bringen würde?« »Wie verhindere ich es, daß ein häßliches Gerücht über einen Bekannten verbreitet wird?« »Wie kann ich einem Armen aus der Not helfen, ohne seine Lage preiszugeben?« – kurz, alle Fragen, die das Verhältnis zum Nächsten betreffen und das wir vor allem im Auge haben sollen, ehe wir an uns selbst denken. Fast jeder Tag wird die Gelegenheit bringen, das gute Taktgefühl zu beweisen – andererseits bringen manche Menschen es fertig, täglich etwas Taktloses zu sagen oder zu thun.

Das Kind wird bald sehen, ob die Eltern und die Personen, die es umgeben, taktvoll sind. Wenn es die Mutter fragt: »Warum sagtest du der Dame nicht, daß ihr Kind hier neulich so unartig war?« so wird die Antwort lauten: »Die Nachricht würde die Dame doch kränken, nicht wahr? Wir wollen ihr doch nichts sagen, was ihr weh thut.« Und das Kind wird nun bei ähnlicher Gelegenheit schon selbst verhindern, daß etwas Trauriges oder Beleidigendes geäußert wird.

»Takt« ist das geheimnisvolle Band, das die Gebildeten aller Welt verknüpft. Ein richtig ausgeprägtes Taktgefühl rät bei jeder Situation das Rechte, hilft aus jeder schwierigen Lage und giebt vor allen Dingen immer das Wort ein, das den andern und uns selbst aus einer Verlegenheit befreit, und ihn oder wieder uns selbst über Peinliches hinweghilft. Der »Takt« umschließt auch die gesellschaftlichen Notlügen. Es ist direkt taktlos, jemandem zu sagen: »Sie sind häßlich«, oder »Sie sind unwissend«, oder »Ich nahm Ihren Besuch nicht an, weil Sie mich langweilen«. Der Takt fordert – nicht daß wir lügen oder heucheln! – sondern daß wir unsere Ab- und Zuneigungen soweit beherrschen können, daß es uns scheint, als ob wir Sympathie und Antipathie gemäßigter empfänden. Man darf ebensowenig Gemütsbewegungen, Zorn, Aerger, Empfindlichkeit im Uebermaß verraten, wie zu große Freude oder zu tiefen Schmerz. Der Takt soll uns Selbstbeherrschung lehren und er soll dazu führen, daß wir in uns ruhig werden und uns nicht von jeder noch so geringen Aufregung oder Veränderung gleichsam aus dem Geleise schleudern lassen.

Der richtige Takt kann sich aber nur bei denen entwickeln, die als Hauptsache das Wohl und Wehe des Nächsten im Auge haben und ihre eigenen Wünsche und Gedanken auf die zweite Stelle zu setzen vermögen. Denn das Taktgefühl gründet sich auf Nächstenliebe, Rücksicht und Nachsicht.

[819] 820. Altkluge Kinder. Kinder, die viel mit Erwachsenen in Berührung kommen und in deren Gegenwart rücksichtslos alle Ereignisse und das Benehmen des lieben Nächsten besprochen werden, entwickeln sich leicht zu sogenannten »altklugen« Kindern. Sie sehen das Leben mit den Augen des Erwachsenen an und die Weisheitssprüche aus ihrem kleinen Munde, über die man anfangs lachte, rauben ihnen bald die naive Beobachtung und Kindlichkeit der Auffassung. Ein Kind soll noch nicht finden, daß man immer nur das thun muß, was Geld einbringt, daß es thörichtist, Wohlthaten an Undankbare zu verschwenden, und daß man nur das fortgeben soll, was man selbst nicht mehr gebrauchen kann. Ein Kind soll denken, daß seine kleine Gabe mit derselben Freude empfangen wird, mit der sie gegeben wird, und daß es nur dann Wert hat, etwas zu verschenken, wenn damit ein kleines Opfer verknüpft ist. Altkluge Kinder sind weit weniger unsympathisch als bedauernswert. Ihnen ist das Beste geraubt: Vertrauen und argloses Empfinden – Zweifel und kühle Ueberlegung hat man ihnen statt dessen gegeben. Man sollte bedenken, wie bald das Leben die Illusionen über Dankbarkeit und Liebe erschüttern wird, und wenn man sie auch durchaus nicht zu blinden Träumern erziehen soll, so macht man sie innerlich ärmer, wenn man ihnen alle weicheren Gefühle raubt. Auch das »Besserwissen« und gute Ratschläge geben, eine besondere Eigenschaft der altklugen Kinder, sollte man strenge verurteilen und niemals durchgehen lassen. Moralpredigten von so jungen Lippen reizen oft die geduldigsten Menschen aus ihrer Ruhe auf.

[820] 821. Verzogene Kinder. Ueber das »Verziehen« hat jede Mutter, jede Familie eine andere Ansicht. Hier findet man es »unerhört«, daß die Kinder von guten Bekannten nicht alles essen brauchen, was auf den Tisch kommt – die guten Bekannten wieder können nicht begreifen, woher eine Familie den Mut nimmt, alle Kinder zu Ausfahrten oder Ausflügen mitzunehmen – solche Verzieherei!« Gewiß, in beiden Fällen liegt eine große Nachsicht vor. Kinder sollten alles essen, was auf den Tisch kommt – schon einfach aus dem Grunde, daß sie angenehme Menschen werden und, wo sie auch sein mögen, unabhängig von ihrem Geschmack sind. Aber es giebt manche Gerichte, die den Kindern geradezu widerstehen und bei diesen wenigen Ausnahmen sollte man nachgiebig sein. Kinder bei Ausflügen mitzunehmen, macht nur den Eltern Spaß. Auch diesen nicht immer. Im allgemeinen sollte man, wenn man den Kindern ein Vergnügen gönnt, sich mit ihnen allein auf den Weg machen. Sind Fremde dabei, hat man doch nicht genug Zeit und Interesse für sie – und das rächt sich meistens furchtbar!

Ich weiß nicht, weshalb man seine Kinder nicht »verziehen« soll. Das heißt doch nur, ihnen so viel Liebe zu erweisen, wie es irgend möglich ist. Weshalb nicht nach Möglichkeit ihre kleinen Wünsche erfüllen, auf ihre Eigentümlichkeiten eingehen und ihnen so viel Zärtlichkeiten geben und von ihnen annehmen, als sich nur irgend mit der Autorität verträgt? Darum ist durchaus noch nicht gesagt, daß ein auf diese Weise »verzogenes« Kind gleich Schrei-und Wutkrämpfe bekommt, wenn ihm der geringste Wunsch versagt wird, oder ein Zetermordio anschlägt, wenn ihm das Geringste konträr geht. Denn das richtig geleitete Kind weiß bald, wie weit es in seinen Forderungen gehen kann und daß es trotz größter Nachsicht eine feste Grenze giebt. Leute, die von Haus aus sparsam in Liebesbeweisen sind, oder solche, die keine Zeit für die Kinder haben, sagen: »Ich will meine Kinder nicht verziehen – ich behandle sie strenge – vor allem logisch!« Daß die Kinder von diesen kühlen Menschen dann und wann einen Bums mehr kriegen, wenn sie gerade im Wege sind, oder ein böses Wort, weil man gerade in »strenger Stimmung« ist, das ist auch logisch! Zuviel Liebe, wenn sie nicht mit Unvernunft gepaart ist, kann den Kindern nie schaden. Man kann gar nicht Liebe genug für sie haben!

Freilich soll das Verziehen nicht dazu führen, die Kinder eigenwillig, eingebildet, naseweis oder ungezogen zu machen. Die Anlage zu all diesen Eigenschaften steckt in jedem Kind – das »Verziehen« heißt also das verkehrte Erziehen, das Ausbilden all dieser Fehler. Auch hier achte der Erzieher auf sich selbst: Die wechselnden Launen der Mutter, die Heftigkeit des Vaters, die Empfindlichkeit der Bonne, die vielleicht zuweilen in das thörichte »Maulen« ausartet, an dessen Beseitigung das Kind stundenlang seine größte Liebenswürdigkeit oder dumme Schmeicheleien verschwenden muß – sie alle finden einen fruchtbaren Boden im Kinderherzen, und wenn man bald über die Heftigkeit, die Ungeduld, die zwischen Uebermut und Verdrießlichkeit hin und her schwankende Laune erschrocken ist, so hat man die Ursache eben nicht weit zu suchen: Das Kind sieht, daß den Großen Fehler und Unarten durchgehen – weshalb nicht auch ihm?

[821] 822. Das »Fräulein«. Für immer wiederkehrende Unarten – Eigensinn, Unaufrichtigkeit, Ungehorsam, Faulheit oder Unordnung – wird man die Bonne oder die Erzieherin verantwortlich machen müssen. Daß ein Kind einmal »versagt« – wie die Lampen, nach dem alten Wort, in Gegenwart anderer – kommt überall vor und ist durchaus kein Beweis von Verzogenheit. Ein Fremder darf ein Kind nicht nach dem einmaligen Sehen beurteilen und seine eventuelle Unart als Beweis seiner Art und Erziehung nehmen. Wird er aber dem Kinde häufiger begegnen und es immer in denselben Fehler verfallen sehen, so weiß er, daß dem Kind wirklich die Unart zur Gewohnheit geworden ist. Seine Mißbilligung gilt vorläufig noch nicht dem Kinde, sondern den Erziehern. Wieviel wird nicht an der Erziehung gesündigt, »weil es bequemer ist, zu schweigen« – oder »weil das Kind dann noch heftiger wird« – oder »weil«, wie die Bonne denkt, »sie doch nicht für die schlechten Anlagen verantwortlich gemacht werden kann.« Werden ihr Vorwürfe über Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit gemacht, so wird sie in acht Fällen von zehn kündigen und beleidigt weiter wandern. Das Kapitel des »Fräuleins« ist ein sehr schwieriges. Wäre von beiden Seiten mehr Vertrauen, mehr guter Wille vorhanden – würde das »Fräulein« nicht als Untergebene, sondern als Freundin behandelt, empfände sie für diese Güte aber auch wirklich etwas Dankbarkeit, die sie durch Pflichttreue bewiese – die Erziehung der Kinder wäre leichter und der Frieden des Hauses größer!

Mit welcher Zärtlichkeit klammern sich die Kinder an das »Fräulein«, sobald sie etwas Nachsicht entdecken! Und wie emsig bemühen sie sich, Lob zu ernten, sobald sie merken, wie glücklich alle im Hause über die schöne Wendung der Dinge sind!

Ist das »Fräulein« zu gleicher Zeit Lehrerin, so wird sich das Verhältnis leicht noch inniger gestalten können. Denn beim Unterrichten wird die Erzieherin die Fähigkeiten und Anlagen eines Kindes besser übersehen können, als wenn sie nur die Spiele und Arbeiten überwacht. – Die Mutter hat die Pflicht, dafür zu sorgen, daß sich das Verhältnis zwischen dem Fräulein und dem Kinde nicht zu einem direkt feindlichen zuspitzt. Die Autorität muß das Fräulein selbstherzustellen wissen, die kann kein Machtwort errichten, aber gegen unartige Ausfälle, übermütige Worte oder gar beleidigende Reden muß die Mutter stets die Erzieherin in Schutz nehmen.

[822] 823. Schwache und zurückgebliebene Kinder. Wer das Unglück hat, ein schwaches oder geistig zurückgebliebenes Kind zu besitzen, wird sich erst allmählich und zu seinem größten Schmerze davon überzeugen lassen, daß es besser ist, solch ein armes Kind einer Heilanstalt zu übergeben, wo es gewissenhaft und verständnisvoll gepflegt wird. Wer sich eine Privatpflegerin halten kann, wird ja, oft mit Glück, die Besserung im Hause versuchen dürfen. Sind aber mehr Kinder im Hause, so liegt eine große Gefahr darin, sie täglich mit dem kranken in Berührung zu bringen. Wiederum ist es traurig und grausam, das leidende Kind streng von seinen Geschwistern und ihren fröhlichen Spielen zu trennen. Ein solches Kind ist am besten in einer Heilanstalt aufgehoben, wo es Spielgefährten findet und keine Mühe gescheut wird, die schlummernden Geisteskräfte zu fördern oder zu wecken. Welch Opfer ein Mutterherz auch durch solche Trennung bringt – sie sollte dennoch im Interesse ihres Lieblings und mit Rücksicht auf die übrige Familie sich überwinden, das Kind fortzugeben.

[823] 824. Pensionen. Auch sonst wird es zuweilen nötig, Kinder in Pensionen oder in fremde Familien zu geben, damit sie eine gleichmäßigere Ausbildung und Erziehung erlangen. Kinder, die einsam auf dem Lande erzogen wurden oder deren Eltern oft den Aufenthaltsort wechselten, werden die geregelte Lebensweise und den gründlichen Unterricht in Gemeinsamkeit mit gleichaltrigen wohlthuend empfinden. Selbstverständlich soll man sich genau darüber unterrichten, wem man seine Kinder anvertraut; ferner, ob über dem Unterricht körperliche Pflege und die Erziehung zu guten Manieren nicht vernachlässigt werden. In dem Alter, in dem man die Kinder fortzugeben pflegt, im 12. oder 13. Jahre, sind sie am meisten eindrucksfähig, wenn auch am schwersten zu behandeln. Das liegt am körperlichen Zustand und an der geistigen Entwicklung, die in diesen Jahren am schnellsten vor sich geht. Wenigstens sollte sie es; doch hält die Körperentwicklung die Kinder oft zurück – und daß man sie in dieser Zeit richtig behandelt, ihnen Nachsicht erweist, sie aber auch ermahnt und anspornt, verdoppelt eben die Mühe des gewissenhaften Erziehers. Mädchen sind oft faul, oder müde in diesen Jahren; bei Knaben dagegen beginnen mit dem 12. ungefähr die »Flegeljahre«, die gefürchtetste Periode ihrer Lebenszeit. Mir sagte einst ein Bekannter, seine Schwestern hätten seine »Flegeljahre« von seinem zweiten Lebensjahre an gerechnet und entschuldigten ihn noch jetzt mit dieser Zeit – er war mittlerweile 30 Jahre alt geworden. Heimlich konnte ich den Schwestern nur recht geben – es giebt wirklich Leute, die nie aus den Flegeljahren herauskommen! Es ist die Pflicht des Erziehers, den Uebermut und den Ueberschuß an Kraft, der sich auf alle mögliche Weise Luft macht, zu dämpfen und ihm Zügel anzulegen. Knaben in dem Alter scheinen oft alle mühsam angelernten Manieren, jeden Herzenstakt und jede mitleidige Regung verlernt zu haben, sie sind rüde und grausam, unbescheiden und rücksichtslos. Es ist, als wenn sich die Natur Bahn bräche durch all die Verfeinerung und sie nachholen ließe, was man ihnen an Ursprünglichkeit geraubt hat.

[824] 825. Das Kadettenkorps. Knaben, die im Kadettenkorps aufwachsen, bringen sicher die für den Offiziersberuf geeignetsten Fähigkeiten mit ins Leben. Man legt dort das Hauptgewicht auf all die Fächer, in denen sich der Offizier geistig und körperlich hervorthun soll, und wer für seinen Sohn die Offizierscarriere wählt, sollte ihn dort erziehen lassen.

[825] 826. Ueber Taschengeld. Schon dem kleinsten Kind wird ein Onkel oder eine Patin eine Sparbüchse mit einer Einlage schenken und die Eltern ermahnen, für das Kind zu sparen. Und ehe noch das Kind den Begriff des Geldes fassen kann, freut es sich an den blanken Stücken und legt gern neugeschenkte hinzu. Ueber den Vorteil von dieser Art Erziehung läßt sich streiten; jedenfalls darf das Kind niemals »geldgierig« werden, wie es leicht in solchen Familien geschieht, wo man den Kindern das in Groschen ersetzt, worauf sie in der Woche an Zucker und Butter entsagt haben; oder wie in andern Häusern, wo Kindern für Unarten etwas vom Taschengeld abgezogen wird. Verdient ein Kind Strafe, so mag es einmal heißen: »Du bekommst heute gar kein Taschengeld –« aber das Markten mit Groschen läßt sie leicht den Geldeswert zu hoch schätzen. Wiederum ist es verkehrt, Kindern niemals Geld in die Hand zu geben. Man fange, sobald die Kinder etwas rechnen können, an, ihnen jede Woche ein kleines Taschengeld – und seien es auch nur zehn oder fünfzehn Pfennige – zu geben. Sie müssen ein kleines Portemonnaie und eine Sparbüchse selbst in Verwahrung haben und man halte sie an, etwas von dem Geld zurückzulegen, damit sie dann und wann ein kleines Geschenk stiften oder sich selbst eine nützliche Kleinigkeit kaufen können. Das braucht ja dann nicht gerade Leberthran zu sein, nach dem bekannten Witz, als das kleine Mädchen frohlockend erzählte, die Mama gebe ihr für jeden Löffel Leberthran einen Groschen in die Sparbüchse. »Und was machst du denn mit dem Geld?« »Dafür kauft sie wieder Leberthran. Aber ein Buch, das das Kind sich wünscht, oder irgend ein Spielzeug darf es sich »zusammensparen«. Ist das Kind schon verständiger, so erhöhe man das Taschengeld, fordere nun aber, daß das Kind sich einige Kleinigkeiten für die Schule: Federn, Bleistifte oder dergl. selbst hält. Das Kind lernt dabei rechnen, überlegt die Ausgaben und schont die Sachen etwas besser. Wer es vorzieht, kann sich ja von dem Kind genaue Auskunft über den Verbrauch geben, es nötigenfalls die Ausgaben aufschreiben lassen. Das thue aber nur derjenige, der seine eigne Jugend nicht vergessen hat und nicht gleich bei den fein gebuchten »Bonbons – 10 Pfennig« in Ekstase gerät. Jedes Kind wird dann und wann einmal naschen oder eine unnötige Ausgabe machen, und man sollte diese Dinge nicht so streng verurteilen. Das führt z.B. in Pensionen dazu, daß etwas Falsches angeschrieben wird, die beliebten Freimarken oder ein Massenverbrauch an Gummi – und eine Lüge ist doch der Groschen nicht wert! Sowie auch hier der Reiz des Verbotenen aufhört, lockt es ein Kind lange nicht mehr so zu naschen.

Größere Summen soll man nicht in den Händen des Kindes lassen. Hat es – meistens durch unerwartete gütige Mithilfe eines angereisten Onkels oder einer freigebigen Tante! – ein paar Mark im Besitz, so trage man sie in die Sparkasse oder auf die Bank und verspreche dem Kind, daß es, wenn es groß ist, von seinem eigenen Geld eine Reise machen darf. Einem »on dit« zufolge soll es zwar Familien geben, die dann und wann bei den eigenen Kindern und ihren Schätzen Anleihen machen – aber schließlich ist jedes gesparte Geld ein Notgroschen und es ist nur zu hoffen, daß die jungen Kapitalisten in besseren Zeiten alles mit reichlichen Zinsen zurückerhalten!

Je größer das Kind wird, desto mehr persönliche Ansprüche macht es. Wenn die schöne Zeit der »Schülerlieben« beginnt, geben die Knaben mehr auf »Klassenmützen« und bunte Schlipse, und die immer schon vorhandene Eitelkeit und Putzsucht der Mädchen wird schwindelerregende Dimensionen annehmen. Der Verbrauch an Haarbändern, Handschuhen und kleinen Schmuckgegenständen wächst täglich und die arme Mutter wird rechts und links aushelfen müssen.

[826] 827. Die Tanzstunde. Nehmen die Kinder nun gar noch an den »Tanzstunden« teil, vor denen sich die Knaben besonders anfangs scheuen, bis sie die erste Ungeschicklichkeit überwunden haben – so wird kein noch so opulentes Taschengeld mehr für all die Bedürfnisse ausreichen.

Von der Tanzstunde an, in der die Kinder zum erstenmal mit der Höflichkeit, die man Erwachsenen zollt, behandelt werden, datiert auch gewöhnlich ihr Wunsch, nicht mehr zu den Kindern gerechnet zu werden. Viele Leute verdammen schon deshalb die Tanzstunde; nicht mit Unrecht. Es liegt ein Mißverhältnis darin, daß die Kinder außerhalb und in den fremden Familien wie Erwachsene, zu Hause dagegen ganz wie Unmündige behandelt werden. Kinder fühlen sich in dieser Zeit auch oft unbehaglich, besonders in Gegenwart Fremder. Sie dürfen noch nicht am Gespräch teilnehmen, trotzdem es sie lockt – werden sie aber angeredet, so genieren sie sich, das zu sagen, was sie meinen. Vor den Eltern oder größeren Geschwistern sind sie meistens verlegener, als vor Fremden allein. Sie fürchten Spott oder Tadel. Man sollte ein wenig Rücksicht auf die unbehagliche Lage des Kindes nehmen, das weder Fisch noch Vogel ist und nicht recht weiß, ob es sich zu den Erwachsenen zählen darf, die es schon versteht, oder ob es noch ins Kinderzimmer gehört, dessen Erinnerung schon ihm peinlich ist. Man hüte sich, die Kinder zu verhöhnen oder zu kränken, ihr Ehrgefühl ist in dieser Zeit besonders empfindlich und es ist besser, ihrer Selbständigkeit mit Nachsicht zu begegnen, als die geringste Anmaßung streng zu bestrafen.

[827] 828. Die Liebelei. Auch die »Liebelei«, meistens eine Folge der Tanzstunde, beginnt nun und wird oft großen Einfluß auf das Benehmen der Kinder haben. Die erste »Tanzstundenliebe« ist eine Kinderkrankheit, die fast alle durchmachen. Man sollte den Liebeleien nicht zu viel Gewicht beilegen und die Kinder für die Courmachereien nicht zu sehr rügen. Man sollte den Mädchen nur vorstellen, daß sie zu stolz sein müßten, sich mit Knaben einzulassen und jede noch so kleine Vertraulichkeit bald sehr bereuen würden. Die Knaben sind leicht durch das Ehrgefühl zu nehmen, wenn man ihnen vorhält, daß sie die Mädchen nicht ins Geredebringen dürfen. Brüder sind auf den guten Ruf der Schwester sehr achtsam, und wenn die Schwester mit dem Bruder zusammen Tanzstunden hat und mit ihm zur Schlittschuhbahn oder anderen Vergnügungen geht, so ist das der beste Schutz für ein Mädchen und sicherer als die Wachsamkeit der strengsten Bonne.

Zur Zeit der Konfirmation werden all diese jugendlichen Neigungen über Bord geworfen. Die Mädchen gehen dann in religiösen Dingen auf und halten es für unwürdig, an profaner, irdischer Verehrung Gefallen zu finden oder sie zu beachten. Die Knaben denken an den zukünftigen Beruf – und für eine Weile braucht die Mutter nicht mehr ängstlich zu fragen, ob die Klavierstunde heute wieder so lange gedauert hat, und der Vater wird zu diesem Ostern vielleicht ein Zeugnis abgeliefert erhalten, das seine kühnsten Erwartungen übertrifft.

[828] 829. Wie soll also ein Kind aus guter Kinderstube sein? Die »gute Kinderstube« soll also einen Menschen entlassen, dessen Takt, Gemüt und gute Manieren so weit ausgebildet und ihm so zur zweiten Natur geworden sind, daß sie ihn nie verlassen, sondern sich durch alle Schwierigkeiten, die ihm im Laufe des Lebens begegnen, noch mehr in ihm befestigen. Bescheidenes und doch sicheres Auftreten, eine gute, von allen Kernausdrücken, wie von jeder gezierten Wendung gleich weit entfernte Sprache, Natürlichkeit in Bewegung und Handlung, weder Unterwürfigkeit noch protzenhafte Ueberhebung, gediegenes Wissen im Einzelfache und allgemeine Kenntnisse von dem, was zur »Bildung« gehört, auch die Beherrschung von ein oder zwei fremden Sprachen – das sind alles Forderungen, die man an die »gute Kinderstube« stellt – wohl dem, dem sie zu teil geworden ist!

Quelle:
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Berlin, Stuttgart [1901], S. 808-829.
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