Der gute Ton im Konzert und im Theater.

[113] Suchen wir nach beendetem Tagewerk oder an Sonn-und Festtagen Erholung im Konzert oder im Theater, so haben wir auch hierbei der Regeln des guten Tones eingedenk zu sein, wollen wir nicht zu Störungen der Ordnung und Ruhe Veranlassung geben. Das aber wäre ein Beweis von Nichtachtung, dem übrigen Publikum sowie den Darstellern oder Musikern gegenüber. Deshalb sitze man während der Aufführung ruhig an seinem Platze und vermeide es, den Nachbar durch Fragen zu belästigen. Besonders[113] das viele Fragen ist eine arge Unsitte. Wer ins Theater oder ein Konzert geht, der hat vorher sich über die darstellenden und ausübenden Künstler, über Inhalt und Verlauf des Stückes usw. zu erkundigen, indem er sich vor dem Eingange die nötigen Hilfsmittel anschafft, mögen diese nun im Theaterzettel, im Textbuch zur Oper, oder in etwas anderem bestehen. Die Ausgaben für solche Kleinigkeiten wollen viele oft sparen, und doch sind sie notwendig zum Verständnis des Ganzen, weshalb die aus dem Nichtbesitz entspringende Belästigung des Nachbarn als eine grobe Rücksichtslosigkeit bezeichnet werden muß.

Viel schlimmer aber noch ist die Angewohnheit, während einer Aufführung mit dem Nachbar zu plaudern. Für die Unterhaltung und den Austausch der Meinungen über das Gebotene sind die Pausen da; im Laufe des Stückes aber hat man jede Mitteilung zu unterdrücken. Und zwar fängt das Stück, ist es ein Schauspiel, mit dem ersten Aufrollen des Vorhanges an, ist es aber eine Oper oder ein Konzertstück, mit dem ersten Ton der Einleitungsmusik. Man hat also sein Kommen so rechtzeitig einzurichten, daß die anderen nicht durch uns gestört werden, indem wir sie zwingen, uns Platz zu machen, und auf diese Weise ihre Aufmerksamkeit von dem gebotenen Kunstgenuß ablenken. Das leidige Zuspätkommen und das häufige Geschwätz sind die beiden ständigen Übelstände bei allen obengenannten Aufführungen. Möchten doch alle Theater- und Konzertbesucher bedenken, daß sie nicht gekommen sind, um ihre Bemerkungen über das Publikum auszutauschen oder sich irgend welche anderen Mitteilungen zukommen zu lassen, sondern daß sie an die Stätte der Kunst kamen, um sich auf einige Stunden aus dem Alltagsleben in das Reich des Schönen, des Idealen erheben zu lassen!

Deshalb ist es auch sehr unpassend, wenn man sich ins Theater oder ins Konzert Eßwaren mitbringt, die man während der Aufführung verzehrt. Das mag allenfalls in einem Zirkus oder bei Schaustellungen niederer Kunstgattung gestattet sein.

Zu den landläufigsten Störungen gehören ferner das Mitsummen bekannter Melodien, sowie das allzulaute Bezeigen von Gefallen oder Mißfallen an der Aufführung.[114] Auch ist es unstatthaft, während der offenen Szene den Zuschauerraum zu mustern; solange der Vorhang aufgezogen ist, hat nur das, was auf der Bühne sich ereignet, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Hierbei haben wir unsere eigenen Empfindungen und Eindrücke auf keinen Fall laut werden zu lassen, denn was uns gefällt, kann unserer Nachbarschaft mißfallen, und umgekehrt.

Erst während der Pause haben wir ein Recht, unsere Meinung im Gespräch mit Freunden oder Bekannten freimütig zu äußern.

Was auf der Bühne oder auf dem Podium vorgeht, kann durch das Opernglas betrachtet werden; unstatthaft ist es jedoch, das Glas auf das Publikum zu richten, denn bei den meisten Menschen erweckt es ein peinliches Gefühl, sich allzuscharf beobachtet zu wissen. Trotzdem kann man es vielfach bemerken, daß Herren vor dem Beginn der Vorstellung aufstehen, der Bühne den Rücken zukehren und unausgesetzt das Publikum mustern. Sind das Fremde, so entschuldigt man das, weil man annimmt, daß sie dem Publikum der ihnen fremden Stadt ebensoviel Teilnahme entgegenbringen, als der Aufführung; Einheimischen gegenüber lautet das Urteil der also Gemusterten freilich etwas schärfer, man hält sie für eitle Gecken und der gleichen.

Denn wenn auch, besonders vor Beginn der Vorstellung, viele es vorziehen mögen, lieber es stehend abzuwarten, bis die Reihen sich gefüllt haben, so ist doch das Begaffen der übrigen nicht dadurch geboten. Fühlen also Damen, daß sie der Gegenstand solcher Betrachtungen sind, so haben sie durch eine vorsichtige Wendung des Fächers oder des Programms sich solchen lästigen Blicken zu entziehen, wobei sie sich nur hüten müssen, es sich merken zu lassen, daß sie sich beobachtet fühlten. Eine zur Schau getragene Gleichgültigkeit ist hierbei sehr angebracht.

Suchen wir im Konzert oder Theater unseren Platz und treten in die Sitzreihe ein, so müssen wir so hineingehen, daß wir den anderen, die sich vor uns erheben, um den Klappsitz aufzuschlagen und so Raum für den Durchgang zu schaffen, nicht den Rücken zuwenden, denn das wäre ein arger Verstoß gegen die Höflichkeit.[115]

Begibt sich ein Herr in Begleitung einer Dame ins Theater oder Konzert, so hat er zu bedenken, daß der bessere Platz stets der Dame gebührt, daß er überhaupt während der ganzen Aufführung deren aufmerksamer Begleiter zu sein hat. Im Zwischenakte hat er die Dame in die Wandelhalle zu geleiten und ihr dort Erfrischungen anzubieten; werden die aber abgelehnt, so darf er nicht aufdringlich werden.

Höchst belästigend für die Nachbarn ist es, wenn Damen sich mit allzustrengen Wohlgerüchen parfümieren oder wenn sie während der Vorstellung Pfefferminz- oder andere Pastillen genießen. Gegen allzu große Hitze ist es angebrachter, ein Fläschchen Kölnisches Wasser mitzubringen, und wenn man durchaus Pfefferminzpastillen gegen den Durst und die Erschlaffung anwenden will, so muß man dies in so zurückhaltender Weise tun, daß der Geruch niemand lästig fällt. Ist die Aufführung von Kunstliebhabern veranstaltet und fast ausschließlich von Angehörigen eines Vereines oder einer geschlossenen Gesellschaft besucht, so haben die Darsteller es zu vermeiden, mit den anwesenden Zuschauern von der Bühne aus Grüße auszutauschen, und beständen diese auch nur in einem freundlichen Zunicken oder Blinzeln des Auges. Vielmehr haben die Mitwirkenden, solange sie ihre Aufgabe erledigen, sich den übrigen Anwesenden im Zuschauerraum gegenüber gerade so fremd zu verhalten, wie Schauspieler oder Musiker von Beruf. Daß natürlich von seiten der Zuschauer die gleiche Enthaltsamkeit zu üben ist, braucht wohl nicht erst besonders hervorgehoben zu werden!

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 113-116.
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