Vom Benehmen im Gast- oder Kaffeehause.

[116] Obgleich wir bereits in der ersten Hälfte dieses Werkes manchen Fingerzeig bezüglich des Verhaltens in öffentlichen Lokalen erteilten, so wollen wir doch auch noch an dieser Stelle näher darlegen, was im Gasthause oder im Kaffee hause schicklich ist; denn gar oft sind Vorstöße gegen die gute Lebensart, die an derartigen Orten begangen wurden, schon die Ursache peinlicher Auftritte geworden.[116]

Im Gasthaus bietet sich dem Anwesenden Gelegenheit zu erkennen, wer zu Hause gelernt hat, nicht nur auf anständige Weise zu essen oder zu trinken, sondern sich überhaupt anständig zu betragen. Zwar verlangt niemand an diesen Orten die zarte Rücksichtnahme, die den Verkehr im engen Kreise auszeichnet; aber dennoch muß man sein Benehmen so einrichten, daß man den anderen Gästen dutch nichts lästig wird.

Man hat also, – ausgenommen in Gartenwirtschaften – den Hut abzunehmen, wenn man in ein Kaffee oder Wirtshaus eintritt, denn die englisch-amerikanische Sitte, an öffentlichen Orten den Hut unter allen Umständen auf dem Kopfe zu behalten, hat bei uns noch wenig Platz gegriffen. Man nehme also die Kopfbedeckung ab – vermeide aber die vielfach übliche Unsitte, vor den Spiegel zu treten, um dort mit einer Taschenbürste das Haar zu bearbeiten; das sieht unschön aus und setzt jeden dem Verdachte aus, ein eitler Mensch zu sein.

In den meisten Lokalen, zumal in denen, wo nur gute Gesellschaft verkehrt, wird ein Kellner sofort dem Gast entgegenkommen, um ihm beim Ablegen des Überrocks usw. behilflich zu sein und ihm einen Platz zu zeigen, wo er ungestört sich niederlassen kann. Will man jedoch sich an einen Tisch setzen, an dem bereits andere, uns unbekannte Gäste sitzen, so empfiehlt es sich, vorher höflich zu fragen, ob es erlaubt sei, Platz zu nehmen, ob der Stuhl frei sei usw. So höflichem Entgegenkommen wird eine höfliche Antwort wohl stets zuteil werden; sollten aber die Plätze bereits vor unserem Kommen belegt gewesen sein und sagt man uns das in höflicher Form, so empfiehlt man sich mit einem artigen »Entschuldigen Sie!«, indem man als wahr annimmt, was man vernommen!

Dies Verhalten ist selbst Leuten gegenüber wohl angebracht, die die Gewohnheit haben, möglichst viel freie Stühle an ihrem Tisch zu belegen, um überhaupt allein zu bleiben. Freilich ist das eine Ungehörigkeit, die sich niemand sollte zuschulden kommen lassen, denn das Kaffeehaus ist für jeden da, der Geld hat, seine Zeche zu bezahlen – so lange er sich anständig beträgt. Und da meistens jedes Kaffeehaus, jede Wirtschaft von einer bestimmten[117] Gesellschaftsklasse besucht wird, so hat es jeder selbst in der Hand, bald mit Leuten an einem Tische zu sitzen, die zu ihm passen.

Etwas anderes freilich ist es, wenn mehrere sich verabredet haben, in einem bestimmten Wirtshaus oder Kaffee zusammenzutreffen. Dann ist es üblich, daß der zuerst Eintreffende die Plätze für die später Kommenden frei zu halten sucht, was nicht schwer ausführbar ist, wenn wenig Gäste anwesend sind. Bei starkem Verkehr freilich dürfte ein solches Belegen der Plätze schwer halten und man tut dann stets besser, es dem Kellner anheim zu geben, Platz zu schaffen; zumal wenn er weiß, daß er eine kleine Belohnung zu erwarten hat, wird der Kellner sicher alles aufbieten, unsere Wünsche zu befriedigen.

Das Ablegen von Überrock, Hut und Stock muß so geschehen, daß niemand dadurch belästigt wird; ist es aus Mangel an Raum unvermeidlich, daß wir andere bitten müssen, uns Platz zu machen, so geschehe dies nach vorhergegangener Entschuldigung, denn Höflichkeit macht uns überall Platz. Läßt man sich dann an einem Tische nieder, an dem außer unseren Bekannten noch uns unbekannte Personen sitzen, so soll der Freund es übernehmen, uns vorzustellen. Tut er das nicht, so bitten wir ihn ohne weiteres darum, denn wenn wir in Gesellschaft anderer eine Stunde oder länger essen, trinken, rauchen oder plaudern wollen, muß es uns darum zu tun sein, zu wissen, mit wem wir umgehen.

Wie man ißt, trinkt usw. haben wir bereits im ersten Teile dieses Werkchens ausführlich gesagt; hier sei deshalb nur bemerkt, daß alle schlechten Angewohnheiten, die man zu Hause übt, sich in öffentlicher Gesellschaft empfindlich rächen. Jedem Menschen sieht man es in einem Gasthof oder Kaffeehause, infolge der dort herrschenden Ungezwungenheit, an, ob er zur guten Gesellschaft gehört oder nicht.

Wir sagten bereits, daß die englisch-amerikanische Sitte, bedeckten Hauptes zu sitzen, bei uns nicht gebräuchlich ist; freilich ist sie ›drüben‹ begründeter, als bei uns. Der Amerikaner tritt an die ›Bar‹ und fordert seinen Trunk, nach dessen Genuß er wieder seiner Wege geht. Stundenlanges Sitzen in der Kneipe ist ›drüben‹, wenigstens bei den Amerikanern[118] von Geburt, nicht üblich, und wenn bei uns heimgekehrte Auswanderer, in äffischer, aber deshalb eben verkehrter Nachahmung fremder Gebräuche sich so ›fremdländisch‹ betragen, so tut man gut, sie zu übersehen und dem Wirt es zu überlassen, deutsche Sitte zu wahren. Dagegen dürfen aber auch die echten Deutschen nicht ihre Untugenden aus den Augen lassen, und es ist deshalb als unschicklich zu bezeichnen, wenn man beide Arme auf den Tisch auflegt, den Kopf auf beide Fäuste stützt, die Nägel putzt oder schneidet und mitten ins Zimmer spuckt. Das sind gemeine Sitten, derer sich niemand schuldig machen wird, der auf Bildung Anspruch erhebt.

Die Unterhaltung so laut zu führen, daß die an den anderen Tischen Sitzenden Wort für Wort folgen können, ist eine Belästigung der anwesenden Gäste, weshalb sich jeder vor dieser üblen Angewohnheit hüten muß, um so mehr, wenn Damen sich in der Nähe befinden, denn nicht jedes Wort im Wirtshaus eignet sich für die Ohren der Damen.

Eine Gattung von Gästen sei hier noch erwähnt, die man besonders in Kaffeehäusern antrifft, wir meinen die ›Zeitungstiger‹. Sofort bei Ausgabe der Zeitungen sind sie zur Stelle, legen auf alle Blätter Beschlag, deren sie habhaft werden können, und verschanzen sich in irgend einer Ecke derartig, daß ihnen nur schwer beizukommen ist. Die anderen Gäste sind gegen jene übrigens meist harmlosen Sonderlinge machtlos; wer eine Zeitung wünscht, die von anderen gelesen wird, wende sich deshalb an den Kellner und beauftrage ihn, das gewünschte Blatt herbeizuschaffen. Getreu dem Sprichwort: »Was du nicht willst, das dir geschehe« usw. müssen wir also bei Forderung der Lektüre mäßig sein und uns nach den anderen anwesenden Gästen richten. Wird eine Zeitung, die wir gerade lesen, vom Kellner ›belegt‹, so dürfen wir nicht während des Lesens uns viertelstundenlang an der Unterhaltung beteiligen und dann wieder einen Blick in das Blatt werfen, sondern wir tun gut, so bald als möglich dem Harrenden durch Vermittlung des Kellners oder auch selbst das Gewünschte zuzustellen.

Zum Schluß sei noch des Benehmens gedacht, das wir gegen die bedienenden Kellner anzunehmen haben. Ihnen[119] in schroffem, befehlshaberischen Tone zu begegnen, hat niemand ein Recht; aber auch vor aufdringlicher Vertraulichkeit, die leicht von diesen Leuten den Stammgästen entgegengebracht wird, hat man sich zu hüten. »Kühl und höflich« sei unser Verhalten, und wir werden uns dabei am besten stehen. Kommt es vor, daß ein Kellner uns sichtlich vernachlässigt, so wende man sich an den Wirt und fordere höflich, aber bestimmt aufmerksamere Bedienung. Hat das keinen Erfolg – nun, in heutiger Zeit ist man nicht von einem Hause abhängig, dann geht man eben in ein anderes, zeige aber weder dem Wirt noch dem Kellner, daß man sich verletzt fühlt. Je gleichgültiger man die Sache anfaßt, desto wirksamer ist eine derartige Selbstverteidigung, die natürlich als letztes Mittel gilt.

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 116-120.
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