Verhalten beim Empfang eines Besuches.

[81] In Vorstehendem haben wir der Pflichten gedacht, die das gesellschaftliche Leben von uns fordert, wenn wir einen Besuch machen. Andererseits gibt es aber auch zu beherzigende Regeln für den, der den Besuch empfängt. Beim Empfang haben wir zunächst dem Besucher eine freudige, höfliche Miene entgegenzubringen, denn wir sind ihm in dem Augenblick, in dem er unsere Schwelle überschreitet, die Rücksichten schuldig, die jedermann, der ein Haus als Gast betritt, erwartet.

Man braucht sich nicht der Heuchelei schuldig zu machen; aber man muß etwaige Verdrießlichkeiten, etwaigen Unmut, und wenn auch nur auf kurze Zeit, von sich abzuschütteln wissen in dem Augenblick, in dem ein Fremder uns besucht, komme er nun, um uns einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, oder komme er in geschäftlichen Angelegenheiten, oder infolge unserer bestimmten Einladung.

Man kann von Herren, die ihren Berufsgeschäften obliegen mü sen, füglich nicht verlangen, daß sie täglich zur Empfangszeit zu Hause bereit sind; immerhin aber wird in allen Kreisen, in denen viele Besuche sich einstellen, täglich die Frau oder eine der Töchter des Hauses zur üblichen[81] Zeit auf Besuche vorbereitet sein; des Sonntags wenigstens ganz bestimmt.

Sollten aber besondere häusliche Umstände den Empfang von Besuchen unmöglich machen, so ist dem Dienstpersonal aufzutragen, alle Besuche abzuweisen, mit dem Bemerken: »Gnädige Frau« oder »die Herrschaft« sei heute nicht zu sprechen, sei verreist, oder wie derlei Entschuldigungen lauten mögen.

Eine solche Abweisung kann niemand übel nehmen; anders aber läge die Sache, wollte das Dienstmädchen oder der Diener erst die Karte des Besuchenden annehmen, diese einer Herrschaft hineintragen und dann mit dem abweisenden Bescheide wiederkommen. Das wäre eine beleidigende Unhöflichkeit gegen den Besuch, der im Falle sofortigen Bescheides mit einigen Worten des Bedauerns seine Karte abgibt und sich dann entfernt.

Wird man von einem Besuch überrascht, während man seinen häuslichen Beschäftigungen nachgeht, so läßt man den Ankömmling in das Empfangszimmer führen und beeilt sich so schnell wie möglich in angemessenem Gewande bei ihm zu sein. Ungemütlich für den Besuch ist es ja stets, einige Minuten warten zu müssen; dieser Zustand wird aber noch verschärft, wenn in dem Empfangszimmer Unordnung herrscht, wenn nicht alles sorgfältig aufgeräumt ist. Sache des Empfangenden ist es also, derartiges zu vermeiden, wie man sich auch bemühen muß, den Besuchenden es ja nicht merken zu lassen, daß er störend gekommen sei. Man vermeide also alle Hast, jede Aufgeregtheit und zeige dem Besuch eine unbefangene, freundliche und ruhige Miene.

Während der zehn oder fünfzehn Minuten, die ein Besuch beansprucht, hat der Empfangende jede Beschäftigung zu unterlassen; er muß sich ausschließlich dem Besuch widmen und dafür sorgen, daß keine Verlegenheitspausen entstehen. Macht der Besuchende Anstalten zum Aufbruch, – hierbei sei bemerkt, daß stets der Besuch sich zuerst erheben muß; andernfalls würde der Empfänger ja zu erkennen geben, daß er des Besuchs überdrüssig sei – so sind einige höfliche Bemerkungen anzubringen, etwa: »Wollen Sie denn schon gehen?« oder »Wollen Sie uns das Vergnügen Ihrer Gegenwart nicht länger gestatten?« Der[82] Gast wird natürlich dankend ablehnen und sich vom Aufbruch nicht abhalten lassen; dann muß man ihn bis zur Tür, oder je nach dem Range auch bis zur Treppe geleiten. Sind jüngere Familienglieder des Empfangenden gerade anwesend, so haben diese dem Besuch beim Umhängen der Mäntel, Tücher usw. behilflich zu sein.

Sind junge Damen bei einem Besuch beteiligt, so müssen diese eine bescheidene, höfliche Zurückhaltung zeigen; sie dürfen durchaus nicht vorlaut an der Unterhaltung teilnehmen, dürfen aber ebensowenig nur stumm und verlegen dasitzen.

Ist der Besuch vertraulich, das heißt, sind Empfänger und Besucher bereits näher miteinander bekannt, so wird die Dauer der Besuchszeit meistens länger sein, und es ist in solchem Falle jungen Damen gestattet, sich mit einer leichten Handarbeit, Stickerei oder dergleichen, zu beschäftigen.

Bei Antrittsbesuchen werden Erfrischungen nicht angeboten, es sei denn, der Besuchende zeigte sich matt oder unwohl, auch fordert man nicht zum Ablegen auf; bei Besuchen freundschaftlicher, vertraulicherer Art ist es dagegen Pflicht der Hausdame, für die Behaglichkeit des Besuches Sorge zu tragen, besonders, wenn der Besuch infolge einer Einladung geschah.

Inbetreff der auszutauschenden Höflichkeiten ist eine gewisse Form zu beachten. Zuvörderst kommen die allgemeinen Begrüßungen, in denen man sich gegenseitig die Freude des Wiedersehens ausdrückt, darauf die Fragen nach dem Wohlbefinden und nach dem Ergehen in der Familie. Diese Förmlichkeiten werden meistens während des Ablegens der Mäntel, Tücher usw. gemacht, und nachdem die Angelegenheiten der Kleidung erledigt sind, erfolgt die Einladung, Platz zu nehmen.

Hierbei hat der Empfangende abzuwarten, bis der Gast sich gesetzt hat, ehe er seinen eigenen Platz einnimmt; es wäre unpassend, wollte er sich eher nieder lassen, als jener.

Sind bereits früher gekommene Gäste anwesend, so kann der Wirt oder die Wirtin dem neu Angekommenen gegenüber die Begrüßungen kürzer halten und die Einführung kann schneller geschehen, worauf die etwa nötige gegenseitige Vorstellung zu erfolgen hat. Wirt oder Wirtin geben[83] darauf das Zeichen zum Niederlassen, indem sie etwa sagen: »Aber wollen die Herrschaften nicht Platz nehmen?« Denn es ist als selbstverständlich angenommen, daß die früher gekommenen Personen sich beim Eintritt des neuen Besuches erhoben haben.

Ist der neu Eintretende nur ein einzelner oder sind es mehrere Herren, so erheben sich nur die bereits anwesenden Besucher männlichen Geschlechts; die Damen verbeugen sich leicht im Sitzen.

Der neu Ankommende, er sei Herr oder Dame, hat zunächst der Frau des Hauses seinen Respekt zu bezeigen, dann dem etwa anwesenden Hausherren und den Töchtern des Hauses und schließlich kommen die übrigen Besucher an die Reihe, die Damen natürlich immer vor den Herrn. Sind diese Förmlichkeiten erfüllt, dann nimmt die allgeme, ne Unterhaltung wieder ihren ungestörten Fortgang.

Als selbstverständlich setzen wir voraus, daß die neu angekommenen Gäste den Auwesenden bereits bekannt sind; anderenfalls muß der Hausherr oder die Hausfrau die Vorstellung übernehmen.

Höchst unpassend wäre es, wollten Wirt oder Wirtin einen ihrer Gäste vor den anderen auszeichnen – von Fürstlichkeiten, denen eine Bevorzugung immer zuteil wird, ist hier ganz abgesehen; wir haben nur den gut bürgerlichen Verkehr im Auge.

Abgesehen davon, daß ein so mit Unrecht Ausgezeichneter sich bald darauf selbst sehr unbehaglich fühlen müßte, würden die übrigen die Zurücksetzung doch sehr empfinden und sie würden beim Scheiden wohl nicht die freudigsten Gefühle mit sich nehmen.[84]

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 81-85.
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