Anno 1711
§ 114

[273] Es gieng alles schnelle zu. Die Ordination folgete gleich darauf am letzten Tage des Jahres. Die Gratulationes die ich empfieng, taten mir zwar sanfte; allein die Freude wurde mir gar[273] bald wiederum versalzen. Denn nachdem ich den Religions-Eid im Consistorio abgeleget hatte, so wurde ich mit schrecklicher Gewissens-Angst überfallen, als ob ich einen falschen Eid getan, und wider besser Wissen, und Gewissen geschworen hätte. Ich glaubte damals nicht, daß ein fundamentaler und wesentlicher Unterscheid zwischen uns und den Papisten sei. Der Umgang und die oftmaligen Disputationes mit den Papisten in meinem Vaterlande, und die vielen Collegia disputatoria, die ich active und passive viel Jahre in Leipzig gehalten, hatten mich schon eine geraume Zeit her auf den Wahn gebracht, daß der Streit de Justificatione [über die Rechtfertigung] eine pure Logomachie [Streit um Worte], und daß die Papisten das Wort Justificatio bloß in einem weitläuftigern Verstande nähmen, und nicht nur die Vergebung der Sünden um Christi willen, sondern auch die Erneuerung, und Frommachung darunter verstünden, welche Renovation wir Lutheraner nicht leugneten, sondern sie eben so nötig, als die Rechtfertigung hielten: daß wir in unserer Kirche zur Ordnung der Gerechtfertigung und was vor derselben vorhergehen müßte, unter den Worten Reu und Glauben schier eben so viel, als die Papisten erforderten, nämlich Glaube überhaupt, Furcht, Reue, einen guten Vorsatz, Bekenntnis der Sünden, Contrition oder Zerknirschung durch Vertrauen auf Christi Verdienst gemäßiget, die Liebe zu Gott allein ausgenommen: daß, wenn unsere Liebe zu Gott nicht eine interessirte, sondern eine reine Liebe sein solle, man Gott auch müsse lieben, und lieben können ohne Vertrauen, daß uns die Sünden vergeben, und er uns in Himmel nehmen werde: daß man also Gott nicht erst nach der Rechtfertigung und nach erlangter Vergebung der Sünden zu lieben müsse anfangen: daß wir nicht umb der Werke willen, so vor der Rechtfertigung vorhergehen, und nicht umb der Reue und des Glaubens willen, sondern durch dieselbe, als durch die von Gott gemachte Ordnung, um Christi willen gerechtfertiget würden, und Vergebung der Sünden erlangten: daß Reue und Glauben, so vor der Rechtfertigung vorhergehen, schon das Principium, und das erste innerliche große Haupt-Stücke aller Heiligkeit, und Gottseligkeit wären, weil solche Stücke ohne darauf folgenden geänderten und gebesserten Verstand und Willen nicht können concipiret und verstanden werden, und daß also in Wahrheit das größte und erste Stücke der Gottseligkeit und Heiligkeit vor der Rechtfertigung vorher gienge, und der constans voluntas [beständige Wille] pie vivendi, oder gottselig zu leben so gut schon als eine Gottseligkeit zu achten,[274] als etwan constans voluntas suum cuique tribuendi, und der beständige Wille einem jeden das seinige zu geben, eine Gerechtigkeit gegen den Nächsten zu nennen, wenn gleich die Ausübung und Werke der Gerechtigkeit erst hernach folgten: daß Gott gerecht sei, nach Johannis Zeugnis [1. Joh. 1,10], wenn er Sünde vergiebt, weil er solche der Buße und dem Glauben verheißen, und daß folgentlich die Stücke, die der Heilige Geist vor der Rechtfertigung würket, ein meritum de congruo, und ein Verdienst in gelindem Verstande könne genennet werden, wenn ein Verdienst mehr nicht ist, als eine freie Tat, welcher man einen Lohn zu geben verheißen, und wenn die Worte: Vermöge der Gerechtigkeit, seu ex justitia nur so viel heißen sollen, als ex promissione, oder weil es Gott zugesaget. Das waren NB. damals meine Gedanken, wie ich solche auch nach der Zeit in einem bekannten Tractat an den Tag geleget.

Der Leser fange also hier nicht mit mir an zu disputiren; denn ich erzähle, was ich damals nur gedacht habe. Bei solchen Gedanken kunte mir nun freilich nicht wohl zu mute sein, indem mir vor Angst Stube, und Stadt beinahe zu enge werden wollte. Ich hatte schon An. 1695 und 1704 aus der Erfahrung gelernet, was Gewissens-Angst sei, und also fürchtete ich, daß sie jetzt nicht, wie damals, gleiche betrübte Folgen hätte. Doch durch Gebet habe ich diese Angst in kurzem überwunden. Ich will dir auch sagen, womit ich mich damals getröstet habe: ohne mich jetzt darbei aufzuhalten, ob derselbe Trost wahr, oder falsch gewesen sei. Nämlich, ich tröstete mich, daß das Juramentum Religionis [Religionseid] kein Assertorium, sondern mere promissorium sei; und daß man nicht schwöre, daß man die Dinge und Sätze in unsern symbolischen [Bekenntnis-] Büchern alle glaube, sonden nur, daß man schwöre, und verspreche, daß man publice nicht darwider lehren, sondern den Vortrag nach diesen Büchern einrichten wolle, weil man solche der heiligen Schrift gemäß halte, und weil das Quia [›Weil‹] doch, wenn man es um, und an betrachte, virtualiter und heimlich, nichts anders als Quatenus, und in so ferne bedeuten könne. In so weit, dachte ich, hast du den Eid mit gutem Gewissen schwören können, und willst, so lange du im Amte stehest, auch nicht das geringste predigen, was mit den Libris Symbolicis streiten sollte; welches ich auch redlich getan, und welches auch so gar aus der letzten Predigt zu ersehen war, die ich in meinem Amte gehalten. Denn obschon unser Systema, dachte ich ferner, was das Wesen der Religion anbetrifft, dem Systemati der römischen Kirche nicht vorzuziehen, so tut es[275] doch keinem Menschen Schaden, sondern wenn es behutsam vorgetragen, und recht verstanden und eingesehen wird, so kann es den Sünder bekehren und selig machen, auch vielleicht eher, als im Pabsttum, da dessen Anhänger ein ander Systema in Büchern, und ein anders in der Praxi, und in den Predigten haben, und auf lauter Werke und Verdienst der Werke treiben, ohne der Gnade Christi, und des Geistes Gottes zu gedenken, der solche würken muß, und ohne der Buße und des Glaubens viel Meldung zu tun, durch welche ich des Heiligen Geistes, und seiner Gnade kann teilhaftig werden. Und was tät es denn, fuhr ich in Gedanken fort, wenn einer gar ein Atheiste wäre, und die Grund-Punkte der Religion überhaupt nicht einmal glaubte; wie denn viel gottlose Prediger solche Atheisten sein mögen, ob sie es gleich nicht denken? Sollt er denn deshalben nicht Leute bekehren, und sein Amt nicht mit Nutzen führen können, so lange er prediget und vorträget, wozu er sich anheischig gemacht, und seinem Versprechen nachkommt? Kann ein gottloser Prediger nach unserer Theologorum Meinung ein rechter Diener Gottes sein, und mit Nutzen predigen, wenn sein böses Leben der Gemeinde nicht bekannt ist, welches bei ihm ohne irrige Meinungen und Vorurteile, die er gemeiniglich vor sich hegt, nicht sein kann: Ja kann ein Prediger in Engeland, so ein Hurer, seine eigene Hure bekehren, ob er gleich selbst aus Irrtum solches vor keine Sünde hält; Warum sollte nicht ein Atheist durch die Gründe, welche er vorzutragen sich verbindlich gemacht, die Zuhörer zum Glauben bringen und bewegen können, ob er gleich selbst seine eigene Gründe, die er vorträgt, vor nichtig und unkräftig hält? So werde ja auch ich, sprach ich bei mir selbst, ein Diener der lutherischen Kirchen nicht ohne Nutzen und Frucht sein können, da ich alle Lehr-Punkte unserer Kirche, wenn sie einzeln, und von einander gerissen betrachtet werden, glaube, und nur das Systema, das Gebäude, die Zusammensetzung, und die Rangirung der Glaubens-Articul vor nicht so gut, als das Systema und Glaubens-Gebäude der römischen Kirche ansehe.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 273-276.
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