Anno 1712
§ 121 [d.i. 115]

[276] In der Zahl-Woche im Neuen-Jahre 1712 machte ich den Anfang mit Catechisiren in der Peters-Kirche, und mit der Rede, welche unter den 70 Predigten von mancherley Arten gedruckt[276] zu finden. Denn, weil die Capellen noch nicht alle fertig, so kunte der völlige Gottesdienst noch nicht angefangen werden. Ich wohnte noch auf dem roten Collegio. Weil nun die Kirche zu weit entfernet war, so mußte ich mich nach einer andern Wohnung umtun. Zehen Jahr hatte ich auf dem Collegio gewohnet; je näher ich also dieser Veränderung kam, je ängstlicher wurde mir; wie ich oben [S. 90] bereits erzählet, daß mir alles Ausziehen in der Welt allemal ungemeine Pein verursachet. Ich mietete bei Draten, dem Knopfmacher auf dem Alten Neumarkte ein, und gleich darauf erfuhr ich, daß verdächtige Weibes-Personen im Hause sich aufhielten, und daß einst eine gewisse Huren-Wirtin bis 30 Huren verborgen und verstecket hätte, da, wo meine Schlaf-Kammer sein sollte. Ich fürchtete also nicht wenig, daß mir dieses eine große Blame [Blamage] machen würde, wenn ich in einem solchen Hause wohnte. Ich geriet also in Streit mit mir selber, ob ich daselbst einziehen, oder die Miete wieder aufsagen, und wo anders einmieten sollte. Gegen Ostern im Kar-Feiertage hörte ich, daß der noch lebende Herr M. Grübner, als damaliger Sonnabends-Prediger, in ein Delirium verfallen, und seines Verstandes beraubet worden. Ich kann, wie oben schon gemeldet [S. 126 f.], in meinem Leben keinen Menschen von verrücktem Verstande ohne Gefahr sehen; und jetzt war mein Gemüte durch die bevorstehende große Veränderung so zermalmet, daß ich von bloßem Hören dieses betrübten Zufalls in ungemeine Bangigkeit gesetzt wurde, welche Donnerstags nach Ostern des Abends die höchste Staffel erreichte. Das Herze wollte mir in Stücken springen, und habe mein Lebtage solch Herzdrücken nicht gehabt, welches ohne Zweifel auch von übeler Beschaffenheit meines Leibes seinen Grund haben mußte. Freitags drauf war der Tag, da ich ausziehen sollte; ich war aber so schwer dazu zu bringen, daß ich mich frühe schon entschlossen hatte, dem Knopfmacher die Miete wieder aufzusagen, und im roten Collegio eine andere Wohnung zu beziehen. Doch einer von meinen Auditoribus, der zugleich im roten Collegio wohnte, und mein guter Freund, und täglich um mich war, mit Namen Stadtmüller aus Kemten [Kempten] gebürtig, ein Schwabe von Geburt, redete mir ernstlich zu, richtete [schalt] mich aus, daß ich so kleinmütig und verzagt wäre, ergrieff auch im Zorn die Axt, und machte den Anfang die Repositoria [Bücherregale] umzureißen.

Ich zog also ein, wohin ich sollte. Die erste Nacht kunte ich in meinem neuen Logis nicht ein Auge zutun; denn eine Con-Rectorin,[277] eine Witwe, so über mir wohnte, und welche sich auch, da ich einzog, bei mir entschuldigte, wegen des Verdachts, als ob sie allerhand Leute bei sich ein- und ausgehen ließe, brachte die Nacht mit Scheuren ihrer Stube und Kammer zu, so daß das Wasser durch die Decke in meine Kammer, und auf mein Bette lief. In der andern Nacht entdeckte ich Wanzen, die alleine fähig waren, mich, wer weiß, wohin zu jagen. Weil ich nun schon drei Nächte nicht geschlafen hatte, so kriegte ich die gewöhnlichen Zufälle [Anfälle] von schwachem Haupte, und fiel in große Versuchung. Ich vermutete stark, daß mein ungesunder Leib an solchem zaghaftem Wesen, da ich bei jedem geringen Dinge unter die Erde sinken wollte, zugleich Ursache sein müßte; ließ deshalben in der Messe zur Ader, da denn mein Blut wie die schwärzte Dinte aussahe, so daß der Baibier, der mir die Ader ließ, selbst darüber erschrecken mußte; worauf ich auch zugleich eine große Veränderung und Linderung im Leibe, und auch im Gemüte verspürte. Nun rückte die Zeit heran, da der völlige Gottesdienst, und das Predigen in der Peters-Kirche angehen sollte. Es hieß, in Pfingsten sollte ich den Anfang dazu machen; es wurde aber aufgeschoben. Darnach mußte ich mich auf das Trinitatis-Fest præpariren, und bereit halten, und das war auch vergebens, bis endlich der erste Sonntag nach Trinitatis derjenige Tag war, da ich die erste Predigt halten kunte. Zwei Predigten habe ich, ehe ich Prediger wurde, umsonst gemacht, und die zwei letzten habe ich auch Anno 1728 vergebens concipiret, da ich wegen meines geschriebenen Buches in die bekannten Verdrüßlichkeiten verfiel, welche mich zuletzt zur Resignation meines Amtes bewegten, nachdem ich in 16 Jahren, wie ich es rechne, 1000 Predigten gehalten hatte.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 276-278.
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