Anno 1715
§ 131

[323] Ich war zu solcher Zeit so wunderlich, daß ich nicht vertragen kunte, wenn mein Famulus mir zuhörte, da ich solches ihm zu verbieten keine sonderliche Ursache bei mir fand. Freitags vor dem III. post Trinitatis war er aber wider meinen Willen in seiner Stube geblieben, aus welcher man alles vernehmen kunte. Nach geendigtem Collegio fieng mich an der Unwille zu quälen, welcher, so mäßig er auch war, mich doch alle Augenblicke drohete zu Boden zu werfen. Es entstund ein unsäglicher Kampf im Gemüte zwischen Passion und Vernunft. Ich redete mir zu mit Argumentis Theologicis und Philosophicis, und wollte die aufsteigenden Bewegungen dämpfen, und gleichwohl stritt Fleisch und Blut darwider; so daß im Kopfe gleichsam eine rechte Bataille zwischen zweierlei Gedanken vorgieng, und Erbarmen[323] und Unwillen, als zwei Kinder im Gemüte, wie Jacob und Esau in Mutter-Leibe [1. Mos. 25,22], sich stießen. Und endlich wäre der Unwille, oder die Kränkung doch bald zuerst heraus gekommen. Denn kurz vor dem Essen, ehe wir beteten, grieff mich das Übel härter an, und wenn nicht zu allem Glück ein Stuhl da gestanden, worauf ich mich setzen können; so wüßte ich nicht, was mir begegnet wäre. Ich fieng an im Niedersetzen zu schreien: Herr Jesu erbarme dich mein! und erzählte dem Famulo, und denen, die mit mir aßen, meine Not, in welcher ich steckte, doch nur in generalen Terminis [allgemeinen Worten]. Was ich Sonnabends mit Concipiren und Memoriren, item beim Schlafengehen, und ehe ich eingeschlafen, wiewohl ich nicht schlafen können, bis auf den Sonntag vor Not gehabt, weiß ich am besten. Die Predigt am dritten Sonntag nach Trinitatis währte nicht vor voll 3/4 Stunden, und nur etwas länger, als die vorm Jahre am neunten Sonntage nach Trinitatis, wovon ich oben geredet [S. 316], als welche ich mit lauter Zittern, und Zagen verrichtete, und wußten die Leute nicht, was die Ursache solcher Kürze wäre. Freitags drauf war ein Buß-Tag, und da plagte mich die Furcht erschrecklich, daß es mir eben so gehen möchte. Der Text war die Predigt, so Gott auf dem Berge Sinai von sich selbst gehalten, welche nun ehestens unter die Presse samt andern Buß-Predigten soll gegeben werden; doch fiel ich auf das Remedium, und fieng an, wo mir recht ist, mich das erstemal auf der Kanzel zu setzen, wobei ich das Übel gar nicht verpürte, gab bei den Leuten vor, daß solches Niedersetzen von Schwachheit des Leibes, und Mangel der Kräfte hergekommen wäre.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 323-324.
Lizenz: