Anno 1715
§ 132

[324] Die Frau D. Sinnerin hatte mich bei dem letzten Besuche gebeten, daß ich gewisser Ursachen wegen bei Gelegenheit doch bei ihr wieder einsprechen möchte. So schwach ich war, so erachtete ich es doch meiner Schuldigkeit zu sein, ihr Begehren zu erfüllen. Ich kam zu derselben, versahe mich nichts Böses. Wie wir eine kleine Weile discouriret, so fänget sie an, und spricht: Ihr Herr wäre zum Schlag, und anderen Zufällen geneigt, die sie nicht gerne vor der Welt bekannt machen wollte: und gleichwohl steige er immer auf der Leiter nach Büchern, und andern Dingen, und sie müßte fürchten, daß er nicht einmal ein Unglück nehme: ich möchte ihm doch bei Gelegenheit[324] ein wenig zureden. Diesesmal ließe es zwar ein gewisser Umstand nicht zu; ich möchte aber so gut sein, und zu einer andern Zeit mich wieder melden. Wer war darüber im Gemüte verwirrter, als ich, als der gar leicht merken kunte, was dies zu sagen? Ich machte meinen Abschied, so bald ich kunte: so geschwinde, als oben [S. 314] Herr D. Stahl; wußte aber kaum, wie ich vor Furcht, und Bangigkeit nach Hause kommen sollte. So einen kurzen Weg ich nach Hause hatte, so hätte ich mich doch lieber auf der Gasse an einem jeden Eckstein niedergesetzet, um Kräfte zum Gehen zu schöpfen. Vor Angst ließ ich den Hut aus Versehen in Kot auf der Gasse fallen; und, wie Melancholici voller Superstition sind, so machte ich daraus ein Omen, daß dieses meinen Tod bedeutete. Es vergiengen etliche Wochen, und ich mußte an mein Versprechen gedenken; aber das bloße Andenken machte schon, daß ich mit dem Tode rang, und sich alles im Leibe regete und bewegete. Gleichwohl plagte mich mein Gewissen, und trieb mich an meine Zusage zu halten, weil ich Prediger, und der Herr D. mein Zuhörer, und sie meine große Wohltäterin war. Ich beschloß es endlich zu wagen, es mochte gehen, wie Gott wolle. Die Nacht zuvor träumete mir, ich sollte in einen großen vornehmen schönen Garten gehen, und gleichwohl lagen vor der Türe zwei abscheuliche Hunde. Da mir nun sehr angst war, wie ich durch die Hunde sollte durchkommen, so stund ein ansehnlicher Mann von mittelmäßigem Alter, der die redlichste, und holdseligste Mine hatte, als ich dergleichen mein Lebtage nicht gesehen, und machte mir eine sehr gütige Mine, und befahl seinem dabei stehenden Sohne, daß er mir die Hunde halten mußte, so daß ich glücklich durchkam. Dieser Traum stärkte mich, und ich redete hernach ohne Furcht mit dem Herrn Doctor, was ich mit ihm zu reden auf mich genommen hatte. Die Frau Doctorin, so noch am Leben, wird sich diese Erzählung nicht entgegen sein lassen. Denn hat sie bei Lebzeiten ihres seligen Herrn Ursache gehabt, ihr heimliches Haus-Kreuz bei der Welt zu verbergen, so hat sie solche jetzt nicht mehr, und kann ihr eher zum Ruhme gereichen, daß sie geduldig, und in der Stille ihr Kreuze getragen, und ihren heimlichen Kummer und Sorge auf Gott allein geworfen, der sie aus aller Not erlöset, und sie auch noch ferner erlösen wird.

Fast ein gleicher Casus begegnete mir noch eben denselben Sommer. Denn ich wurde von Herr Güntzeln, einem Rats-Bedienten, ersuchet, daß ich sein er Frauen auf dem Todes-Bette einen Trost zusprechen sollte. Und wie ich hinkam, vernahm ich[325] haußen vor der Tür von ihm, daß sie bisher den Actum [akute Stadium] der Krankheit gehabt, zu welcher ich bisher die Disposition, und die ersten Anfälle gehabt hatte. Doch weil mir Gott bei dem vorigen Casu geholfen, so war ich schon beherzter, und die Krankheit hatte auch schon damals so sehr überhand genommen, daß sie dem Tode nahe, und der Paroxismus nicht mehr zu spüren war.

Ich erkannte nun wohl, daß ein kranker Leib an diesen Zufällen Ursache wäre, und unterredete mich deswegen mit Herr D. Nabothen, der aber die große Unvorsichtigkeit begieng, und mir mit vielen Worten noch sagte, was ich schon selbst wußte, und vermutete, und noch dazu Exempel erzählete von solchen, so an dieser Maladie gestorben. Diesen Sommer geschahe es auch, daß der Prediger zu Wahren, mit Namen Cotta, der sonst ein gut Gerüchte wegen seiner Frömmigkeit gehabt, seinen Verstand verloren hatte, so daß man ihm einen Substitutum setzen müssen. Es kamen wider meinen Willen mir von dieses Mannes Krankheit so viel Historien in meine Ohren, so daß ich nicht anders schließen kunte, als daß er eben ein solches Temperament, als ich, haben müßte, und daß es mir leicht eben noch so gehen könnte. Da einmal der Kummer deshalben am größten, kommt der Prediger von Klein-Zschocher, M. Schultze, nach Leipzig, und besucht mich. Es war ein munterer und aufgeweckter Mann, wie er es noch ist: alles lebete an ihm vor Lust und Freude. Er redete und schrie mir die Ohren voll, welches Melancholicis eine unerträgliche Sache ist, und mir ward dabei so angst, daß es nicht viel fehlte, ich hätte selbst laut zu schreien angefangen; wie ich denn jetzt gar wohl begreife, warum Melancholici, die gerne in der Stille, ihrem heimlichen Anliegen, und Sorgen nachdenken wollen, keinen Tumult noch Lärmen, gleich den Sterbenden, vertragen können, sondern darüber vor Angst des Geistes zu schreien anfangen.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 324-326.
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